9punkt - Die Debattenrundschau

Werden wir Chinesen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.03.2024. Putin wird den Terroranschlag in Moskau zweifellos für seine Zwecke nutzen, prophezeit Viktor Jerofejew in der FAZ. Schon weil er das Versagen seiner Sicherheitsapparate verschleiern muss, sekundiert die taz. Für viele muslimische Kaukasier ist es besser, "unter der Flagge des Propheten zu sterben als unter der von Putin", erklärt der Politikwissenschaftler Olivier Roy im Interview mit der FR. Die taz sieht den Konflikt zwischen Hutu und Tutsi auf den Kongo und Burundi übergreifen. Populismus schadet der Wirtschaft, verkündet die FAZ. In der NZZ erwartet der Militärhistoriker Edward Luttwak einen baldigen Rückzug Netanjahus aus der Politik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.03.2024 finden Sie hier

Europa

Putin wird den Terroranschlag in Moskau mit 137 Toten, zu dem sich der IS bekannt hat, "zweifellos für seine Zwecke nutzen", ist sich Viktor Jerofejew in der FAZ sicher. Und er hat ja auch bereits angedeutet, dass er die Ukraine verantwortlich machen will. "Vor den Wahlen verkündete er erstaunlich unverhohlen seinen Wunsch, die Ukraine mit Russland zu vereinen, also zum Ursprung der Entstehung Russlands zurückzukehren. Russland bekam seinen Namen ja im 17. Jahrhundert (bis dahin die 'Rus'), nachdem sich die Ukraine von Polen losgelöst und unter seinen Schutz begeben hatte - was es rasch bereute, doch da war es schon zu spät. Ob also Deutschland den Taurus liefert oder nicht, ob Europa neue Sanktionen erlässt oder nicht, an Putins Kriegszielen wird dies nichts ändern, er wird stur seinen Kurs weiterverfolgen. Ein anderes, abstruses Kriegsende verheißt der Vorschlag von Dmitri Medwedew beim neulich abgehaltenen kremlfreundlichen Internationalen Jugendfestival in Sotschi, ein Vorschlag, den er mit einer Karte der Ukraine nach dem Krieg illustrierte: Sie zeigte ein kleines Stück Land um Kiew herum, alles Übrige nimmt sich Russland, die westlichen Gebiete gehen zurück an Polen und Rumänien."

Aufklärung über den Terroranschlag in Moskau kann man von Putin nicht erwarten, ist auch Inna Hartwich in der taz überzeugt. Dass es Warnungen aus den USA gab, wird er ebenso verschleiern wollen wie das Versagen seiner Sicherheitsapparate: "Die Amerikaner wollten lediglich für Unsicherheit und Verwirrung sorgen, behauptete er. Nun ist die Unsicherheit wieder verstärkt da in Moskau. Doch das, was Putin schließlich von sich gab, wirkt so entrückt von der 'Einheit Volk', dass sein Auftritt nur noch mehr verunsichert, als dass er den Menschen die Antworten gibt, nach denen sie verlangen: Wie konnten die Attentäter in die Halle kommen? Warum ist der so aufgeblähte Sicherheitsapparat sofort zur Stelle, wenn ein paar Bürger Blumen für einen toten Oppositionspolitiker ablegen wollen, aber offenbar abwesend, wenn bewaffnete Terroristen um sich schießen?"

Die bisher festgenommenen mutmaßlichen Attentäter kamen offenbar aus Tadschikistan. Für viele muslimische Kaukasier sei es besser, "unter der Flagge des Propheten zu sterben als unter der von Putin", weshalb der IS aus dieser Region einen großen Zustrom erhält, erklärt der Politikwissenschaftler Olivier Roy im FR-Interview mit Michael Hesse. Die Reaktion Russlands wird allerdings wohl in bekannten Mustern verlaufen: "Zuerst werden sie mit Hilfe der 'weißen' russischen Bevölkerung Druck auf die Muslime aus dem Kaukasus und Zentralasien in Moskau ausüben. Eine Razzia im Kaukasus wird die Spannungen in der Region erhöhen. Und ein Angriff in Afghanistan würde zu neuen regionalen Spannungen führen. Diese beiden letzten Optionen sind also problematisch. Wahrscheinlich werden sie daher weiterhin der Ukraine und den USA die Schuld geben."

Dass russische Onlinemagazin Meduza zeigt die ersten Bilder aus der Konzerthalle "Crocus City Hall" nach dem Anschlag. 

Seit dem Gazakrieg ist die Stimmung auch in London aggressiver geworden. Im vorwiegend muslimisch geprägten Bezirk Tower Hamlets sind Christen immer weniger willkommen, lernt Johannes Leithäuser (FAZ) von Andreas Blum, dem Pfarrer der deutsch-katholische Kirche St. Bonifatius, die nur einen Straßenzug weit weg liegt von der East London Mosque, "einer der größten Moscheen Europas": "Alle christlichen Gemeinden im Bezirk könnten über Belästigungen berichten, sagt Blum. Die Gemeindeschwestern, die in einer brasilianischen Kirchgemeinde in der Nähe beheimatet sind, seien in ihrem Ornat bespuckt worden. Im Royal London Hospital, dem größten Krankenhaus der Gegend, gebe es einen interreligiösen Gebetsraum, in dem Unbekannte neulich Altar und Tabernakel geschändet und Gebetsbücher zerrissen hätten. Ihn ärgert die Diskrepanz zwischen diesen Wirklichkeiten und den kulturtoleranten Sonntagsreden, die von offiziellen Stellen des Bezirks gepredigt werden. Es gebe ein 'interreligiöses Forum', das aber keine Wirkung entfalte, und allerlei Schaufenster-Veranstaltungen."

Die französische Regierung plant den französischen Bürgern von Neukaledonien im Pazifik das uneingeschränkte Wahlrecht zu gewähren, um sie enger an Frankreich zu binden, schreibt Barbara Barkhausen in der FR. Frankreich befürchtet nämlich, dass sich China in dieser Region breitmachen könnte. "Auch Neukaledonien unterhält eine starke Beziehung zum Reich der Mitte. China ist wichtiger Handelspartner und Hauptabnehmer der Nickelproduktion im Land. Vor dem zweiten Referendum wurde in Neukaledonien deswegen bereits heftig darüber diskutiert, ob die Inselgruppe zur 'chinesischen Kolonie' verkommen könnte, sollte sie die Unabhängigkeit von Frankreich erlangen. 'Die Leute sagen: 'Wenn wir nicht mehr Franzosen sind, werden wir Chinesen sein', sagte Catherine Ris, eine Wirtschaftsprofessorin an der Universität von Neukaledonien (...). Es gehe die Angst um, dass China sich überall auf der Welt ausbreite."
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Politik

Am 7. April ist es 30 Jahre her, dass in Ruanda das große Morden der Hutu an den Tutsi begann. Seither ist der Konflikt zwischen den beiden Volksgruppen nicht kleiner geworden, sondern weitet sich vielmehr auf die Nachbarländer aus, warnt Dominic Johnson in der taz. Die Hutumilizen zogen sich dreißig Jahren vor allem in den benachbarten Kongo zurück: "Mehrfach hat Ruanda dort gegen sie eingegriffen, aber bis heute sind Reste der einstigen Völkermordarmee unter dem Namen FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas) im Ostkongo präsent, geduldet von Kongos Staat, und träumen von der Rückeroberung Ruandas. Das ist längst auch ein kongolesischer Konflikt, denn auch in Kongo gibt es ruandischsprachige Bevölkerungen, geteilt in Hutu und Tutsi. Kongos Tutsi trauen Kongos Staat nicht, da dieser sich mit Ruandas Völkermordtätern verbündet hat, und unterhalten eigene bewaffnete Gruppen. Kongos Staat traut Ruandas Staat nicht, da dieser kongolesische Tutsi-Rebellen unterstützt, und rüstet gegen Ruanda auf. Ruandas Staat traut Kongos Staat nicht, da dieser die flüchtigen ruandischen Völkermordtäter unterstützt, und unterstützt die kongolesischen Tutsi-Kämpfer. Aktuell verlieren alle Akteure in diesem ewigen Teufelskreis die Geduld." Dazu gehört auch das Nachbarland Burundi, in dem ehemalige Hutu-Rebellen regieren. "Burundis Präsident Évariste Ndayishimiye traf im Januar in Kinshasa Wazalendo-Führer und rief zum Regimewechsel in Ruanda auf; Burundi könnte zum Sprungbrett für Kongos Krieg gegen Ruanda werden."

Achtung, Populismus schadet der Wirtschaft. Eine Forschergruppe des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW) stellt auf den Wirtschaftsseite der FAZ die Ergebnisse einer Studie zu Populismus und Wirtschaft vor und findet heraus: Es hat noch nie einen Populisten gegeben, der sein Land nicht heruntergewirtschaftet hat. Eines der Beispiele der Forscher ist der Brexit. Und von Venezuela (ja, es gibt auch Linkspopulismus!) gar nicht zu reden. Mit das interessanteste Ergebnis der Forscher klingt aber noch deprimierender: "Populisten sind politische Überlebenskünstler. Anders als oft angenommen wird, verschwinden sie selten schnell wieder von allein. Stattdessen tun sie oft alles, um die Chancen auf Machterhalt und Wiederwahl zu erhöhen, sei es durch ihre Kernstrategie von Polarisierung und Hetze oder durch neue Wahlgesetze, eine Übernahme der Medien und die Einschüchterung von Justiz und Opposition. ... Populisten sind im Schnitt sechs Jahre an der Macht, gegenüber nur drei Jahren bei nichtpopulistischen Regierungschefs. Sie werden auch viel häufiger wiedergewählt, mit einer Wahrscheinlichkeit von 36 Prozent gegenüber nur 16 Prozent bei nichtpopulistischen. Die Idee einer Entzauberung an der Macht lässt sich in den Daten klar widerlegen. Berlusconi zum Beispiel ist oft als 'Clown' bezeichnet worden, aber er ist in Sachen Machterhalt der mit Abstand erfolgreichste italienische Regierungschef der Nachkriegszeit."

Die israelische Regierung ließ eine Chance auf eine Offensive auf Rafah verstreichen, die von den USA gebilligt worden wäre, jetzt ist die Offensive praktisch zum Erliegen gekommen, konstatiert der Militärexperte Edward Luttwak in der NZZ. Das sei vor allem auf Benjamin Netanjahus fehlende Entschlossenheit zurückzuführen, die auch sein Verteidigungsminister Yoav Gallant monierte. "Der ehemalige Generalmajor sagte, die Fähigkeit zu führen erfordere drei Dinge: Verpflichtung der Sache gegenüber, persönliche Vorbildfunktion und die Einsicht, dass Verantwortlichkeit Quelle von Autorität sei. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wen er damit gemeint hat. (...) Obwohl Netanjahu darauf beharrt, dass es 'passieren wird'", der Sieg über die Hamas, "ist das noch 'mehrere Wochen' entfernt. Bis dann kann sich die Lage allerdings verändern. So oder so ist wahrscheinlich, dass Joe Biden bald bekommen wird, was ihm politisch entgegenkommen würde und wonach sich viele Israeli sehnen: Netanjahus Rückzug aus der Regierung und der Politik."

In der Welt empört sich der Philosoph Jörg Phil Friederich über den Soziologen Heinz Bude, der kürzlich erzählte, wie er während der Corona-Zeit der Bundesregierung erklärte, wie man der Bevölkerung die Corona-Maßnahmen am besten erklären könne (das nennt Friedrich Herstellung von "Folgebereitschaft"). Dies soll sich, so Friedrich, nicht mehr wiederholen: "An den informellen Rändern des politischen Systems, auf den Straßen, in den sozialen Medien, werden in einer Demokratie die Leute mit bürgerlicher Kreativität aktiv, um denen, die meinen, Folgebereitschaft verlangen zu können, zu zeigen, wer in einer Demokratie schlussendlich der Souverän ist." Die bürgerliche Kreativität klingt ja richtig friedlich.
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