9punkt - Die Debattenrundschau

Pfeiftöne über Dialogen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.08.2019. Im Tagesspiegel erklärt der Historiker Jens Späth, warum Demokraten immer Antifaschisten sind, Antifaschisten aber nicht immer Demokraten. Ausgerechnet die SZ fürchtet ausgerechnet bei Springer nach dem KKR-Deal um die Pressefreiheit. Politico.eu porträtiert Boris Johnsons gefürchteten Berater Dominic Cummings. In der FAZ schildert Viktor Jerofejew den Moskauer Bürgerkrieg. Die taz erzählt mit Georges Bensoussan die Geschichte der arabischen Juden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.08.2019 finden Sie hier

Europa

Angela Merkel ist geschwächt, Emmanuel Macron hat seinen Einfluss in der EU ausgeweitet, tief enttäuscht über die Absenz strategischer Überlegungen in Deutschland, schreibt Paul Taylor bei politico.eu: "Doch trotz seiner militärischen Reichweite, seines nuklearen Arsenals und seines ständigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat hat Paris nicht das gleiche Gewicht in der EU wie Berlin auf dem Höhepunkt der Eurokrise, als Merkel als jenige wahrgenommen wurde, die das Schicksal der südeuropäischen Länder in ihren Händen hielt. Frankreichs anämische Wirtschaft, chronische Haushaltsdefizite, die Vorliebe für Handelsprotektionismus und das Streben nach strategischer Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten machen es für viele zu einem unattraktiven Führer."

Charlie Cooper und Emilio Casalicchio porträtieren für politco.eu Dominic Cummings, den mächtigsten Mitarbeiter von Boris Johnson in Downing Street, der über Jahre ein Blog geführt hat. Immer wieder hätte er dort über die britische Regierungsbürokratie geklagt: "Abertausende Wörter widmet er den Mängeln der Whitehall-Maschinerie und klagte besonders über die Unfähigkeit, schnell auf Fehler zu reagieren. Und über das 'langsame und verwirrte' Feedback, über das System der Vorrechte der Älteren, das dazu führt, dass inkompetente Mitarbeiter ('tote Seelen') auf andere Posten in der Verwaltung geschoben werden, statt dass man sie feuert, und über das 'Teilzeit'-Arbeitsregime, durch das Schlüsselbeamte immer dann fehlen, wenn große Dinge anstehen. Alles in allem, so Cummings' Anklage, sieht Whitehall 'Scheitern als Normalfall, nicht als etwas, das man vermeiden sollte'." Auch der Guardian berichtet heute über den offenbar sehr gefürchteten Cummings und über Bestrebungen von Parlamentariern, seinen Brexit-um-jeden-Preis-Kurs zu stoppen.

Sehr eindringlich schildert der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew in der FAZ die "bürgerkriegsähnlichen" Zustände in Moskau vor den Wahlen zum Stadtparlament. Aus Angst sein Machtmonopol zu verlieren, lasse der Kreml die Oppositionellen von Spezialeinheiten der Polizei und der Nationalgarde zusammenschlagen: "Die 'Söhne' stehen auf den Moskauer Straßen im Astronautenoutfit aus dem Krieg der Sterne, Knüppel in der Hand, die Gesichter hinter dem Helmvisier kaum zu erkennen. Sie treiben friedliche Kundgebungen auseinander, deren Teilnehmer natürlich kein Recht haben, ihnen Widerstand zu leisten. Sie prügeln auf Wehrlose ein, damit sie aus Angst nicht zur nächsten Protestaktion auf die Straße gehen. Es ist keine zufällige Prügelattacke, es ist der Krieg des Staates gegen den menschlichen Körper, über den Michel Foucault schrieb und dabei eher frühere Jahrhunderte im Sinn hatte. Bei uns herrscht offenbar weiterhin Mittelalter."
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Medien

Das eher linke, regierungskritische türkische Webportal Bianet soll auf richterliche Anordnung geschlossen werden, meldet Christiane Schlötzer in der SZ: "Erst vor wenigen Tagen hatte die staatliche Rundfunkaufsicht in Ankara auf ihrer Webseite bekannt gemacht, dass künftig sowohl nationale als auch internationale digitale Medien in der Türkei einer besonderen Kontrolle unterstellt würden. Nach dem teilweise noch unklaren Regelwerk sollen an die Provider 'Lizenzen' vergeben werden. Sendungen könnten zudem überwacht werden, wie dies bereits bei den TV-Kanälen geschieht. Dort sieht man immer wieder gepixelte Bilder, zum Beispiel, wenn Leute Alkohol trinken, oder hört bisweilen Pfeiftöne über Dialogen."

Ebenfalls in der SZ fürchtet Laura Hertreiter mit Blick auf den KKR-Deal des Springer Verlags (unsere Resümees) um die Pressefreiheit: Medienfirmen gelten als Unternehmen, "bei denen nicht Gewinne im Vordergrund stehen, sondern etwa politische, wissenschaftliche oder künstlerische Ziele. Dass der Kurs des Springer-Verlages mit KKR in eine andere Richtung gehen dürfte, ließ sich bereits aus dem Angebotspapier herauslesen: Man wolle die Welt-Gruppe 'unter der Voraussetzung einer angemessenen Steuerung der jährlichen Ergebnissituation' fortführen. Der Verlag hatte eilig eine Bestandsgarantie nachgeschoben, die womöglich noch ein paar Jahre gilt. Aber schon in der Vergangenheit war man bei Springer nicht zimperlich mit der eigenen Tradition und hat sich einiger Presseerzeugnisse entledigt.'" Auf den Medienseiten der SZ erklärt Caspar Busse das Prinzip von KKR.
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Kulturpolitik

Vergangene Woche erst bat die NZZ Hermann Parzinger zum Restitutions-Gespräch (unser Resümee), jetzt wiederholt Parzinger im Zeit-Interview mit Werner Bloch nochmal seinen Standpunkt - Zusammenarbeit, ja, aber "man kann nicht einfach Dinge einpacken und zur Post bringen" und verteidigt die "Sammelwut der Europäer": "Ich habe einmal die Südseeinsel Vanuatu besucht und wurde von dem dortigen Museumsdirektor ins Depot geführt. Er sagte: 'Keines dieser Objekte ist älter als 30 oder 40 Jahre. Wie gut, dass ihr in Europa das gesammelt habt und die Dinge viel weiter zurückverfolgen könnt. Wir haben das alles nicht gesammelt.' Das waren Ritualobjekte, Gebrauchsgegenstände, wenn die schadhaft waren, hat man sie durch ein Ritual entweiht und neue produziert. Dank der Sammelwut der Europäer können wir in Europa die Entwicklung bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Was die Kollegen in der Südseeregion fordern, ist freier Zugang, auch digitaler Zugang, zu den Objekten. Dass sie nach Deutschland kommen können, um mit diesen Dingen zu arbeiten."
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Überwachung

Im 5G-Netz wird Telefonieren deutlich sicherer, schreibt Matthias Monroy bei Netzpolitik, denn die Gespräche sind viel besser verschlüsselt als im jetzigen Handynetz: "Damit haben Polizeien und Geheimdienste ein Problem. Das Bundesinnenministerium kündigt deshalb mögliche Änderungen des Telekommunikationsgesetzes und der Telekommunikations-Überwachungsverordnung an. Mobilfunkanbieter in Deutschland wie O2, Vodafone und Telekom sollen dafür sorgen, dass die Metadaten entschlüsselter 5G-Verbindungen an den Netzknoten gespeichert werden."

Der Tagesspiegel bringt einen Essay, den der Web-Entwickler Maciej Ceglowski zunächst auf seinem Blog idlewords.com veröffentlichte. Wir leben längst in einer Überwachungsgesellschaft, schreibt er und fordert, dass Datenschutz nicht nur bestimmte Kategorien von personenbezogenen Daten, sondern auch die "Umgebungsprivatsphäre" schützt, also dafür sorgt, dass "unsere täglichen zwischenmenschlichen Interaktionen außerhalb von Überwachungsreichweiten stattfinden." "Ich bin überzeugt davon, dass die Umgebungsprivatsphäre eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen Leben spielt. Wenn alle Debatten unter dem Radar einer Software stattfinden, also unter Beobachtung durch ein gewinnorientiertes Medium, dessen Ziel ist, Nutzerverhalten zu beeinflussen, kann das dazu führen, dass das Entstehen eines gemeinsamen Realitätsbewusstseins verhindert wird. Das ist aber Voraussetzung für eine gesellschaftliche Selbstverwaltung. So gesehen wäre das Ende der Privatsphäre eine unumkehrbare Veränderung, denn wir wären nicht länger imstande, als Demokratie zu funktionieren." "Wir sind definitiv auf dem direkten Weg in eine Ära des digitalen Polizeistaates", schreibt auch Slavoj Zizek in der Welt.
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Wissenschaft

Jörg Baberowski, ein bei einigen linken Studenten an der Humboldt-Uni nicht so beliebter Historiker, wollte an der Uni ein Interdisziplinäres Zentrum für Diktaturforschung schaffen. Hannah Bethke schildert in der FAZ die komplizierten Intrigen, die bisher zur Verhinderung führten. Und die maue Reaktion der Universitätsleitung unter Sabine Kunst auf Anfragen der FAZ: "An keiner Stelle erwähnt die Universitätsleitung, welche inhaltlichen Erwägungen aus ihrer Sicht für oder gegen die Etablierung eines solchen Forschungszentrums sprechen - und nur darum sollte es eigentlich gehen. Von wissenschaftlichen Kriterien wie Erkenntnisinteresse, Forschungsstand, Thesen, Machbarkeit ist in den Verlautbarungen der Universität sehr wenig zu hören."

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Stichwörter: Baberowski, Jörg

Gesellschaft

Sascha Lobo geht für seine Spiegel-online-Kolumne mit Blick auf die Sommerlochdebatte um den CDU-Politiker Carsten Linnemann (unser Resümee) nochmal alle Phasen eines typischen Shitstorms durch. Phase 8: "Die ersten Kritiker lesen das Interview, erkennen ihre Fehlzuschreibung und korrigieren redlich ihre - haha, nein. Stattdessen graben sie in älteren Interviews des besagten Politikers, finden andere, zweifellos problematische Aussagen und rechtfertigen damit ihre fortdauernde Empörung. Was sie nicht davon abhält, nun zusätzlich die eigentlichen Urheber der rassistischen Verkürzung zu attackieren. Jemand wirft sich selbst vor, im Elfenbeinturm zu sitzen."

Im Zeit-Gespräch ärgert sich der evangelische Theologe, Philosoph und DDR-Bürgerrechtler Richard Schröder über die Aussagen von Detlef Pollack, der in der FAZ den Bürgerrechtlern ihre Verdienste absprach (Unser Resümee), den Wahlkampf der AfD und erläutert, weshalb sich viele Ostdeutsche heute eher mit ihrem früheren Staatsgebiet als mit der Bundesrepublik identifizieren: "'Der Ostdeutsche' ist erst nach 1989 entstanden. Denn vorher war es ja lange umgekehrt. Es waren die Westdeutschen, die sich als 'westdeutsch' (aber die Ostdeutschen übersehend die Bundesrepublik Deutschland) nannten, während sich die Ostdeutschen als Deutsche im geteilten Deutschland sahen, wenn sie sich nicht als 'sozialistische Internationalisten' verstanden. Das war auch ganz verschieden konnotiert: Wer sich in Ostdeutschland zu DDR-Zeiten als 'Deutscher' bezeichnete, der galt als Staatsfeind. Wer sich in Westdeutschland als 'Deutscher' bezeichnet hat, wurde gefragt: Bist du etwa Revanchist? Im Mai 1990 gab es in Frankfurt am Main eine Demonstration mit der Spitze der Grünen, deren Losung lautete: 'Nie wieder Deutschland!' Das Problem besteht jetzt darin, dass das ostdeutsche Bekenntnis zum Deutschsein schwach in der Abgrenzung zum Nationalismus und Extremismus ist."
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Geschichte

Seit dem Zweiten Weltkrieg wurden fast alle Juden arabischer Länder systematisch vertrieben. Die Stadt Bagdad etwa war vor den Vertreibungen zu einem Drittel jüdisch - 900.000 arabische Juden siedelten sich in Israel an. Diese Geschichte sei "bislang Gegenstand einer massiven Verleugnung", zitiert Ulrich Gutmair in der taz den Historiker Georges Bensoussan, dessen Studie "Die Juden der arabischen Welt - Die verbotene Frage" jetzt auf Deutsch vorliegt: "Dabei formuliert der Historiker, der 1952 in Marokko geboren wurde, zurückhaltend. Nur in Bezug auf Ägypten spricht er ausdrücklich von Vertreibung. Meist habe es sich um 'einen schleichenden Ausschluss' der Juden gehandelt, eine Atmosphäre 'heimtückischer Trennung', wie Bensoussan den Tunesier Albert Memmi zitiert, der diese Einschätzung bereits in den 1950ern formuliert hatte. Das Ergebnis dieses Ausschlusses: Die Juden, die seit 2.000 Jahren an diesen Orten gelebt hatten, verließen sie. Bensoussan nutzt ein biblisches Wort, um den Vorgang zu beschreiben: Exodus."

"Überzeugte Demokraten stehen immer in Opposition zu faschistischen Bewegungen, während Antifaschisten nicht zwangsläufig überzeugte Demokraten sein müssen", schreibt der Historiker Jens Späth im Tagesspiegel und spürt der Ambivalenz des Begriffs historisch nach. Während der Antifaschismus zum Gründungsmythos der DDR gehörte, verdrängten in der Bundesrepublik "selbst aktive Widerstandskämpfer ihre antifaschistischen Erfahrungen und Traditionen und ordneten sich meist der Staatsdoktrin des Antikommunismus unter. In den Jahren der Adenauer-Regierung war es wichtiger, gegen den Bolschewismus Stellung zu beziehen, als an den nur oberflächlich verheilten Wunden der jüngsten Vergangenheit zu rühren. In bürgerlichen Kreisen existierte maximal ein 'Antifaschismus der Phrase', der sich nicht wissenschaftlich mit den sozioökonomischen Ursachen von Faschismus und Nationalsozialismus auseinandersetzen wollte. Der marxistische Philosoph und Publizist Wolfgang F. Haug prägte dafür den Begriff des 'hilflosen Antifaschismus'."

In der NZZ kann der Historiker Volker Reinhardt mit dem Hang seiner Zunft zur Analogiebildung zwecks Zukunftsprognose nichts anfangen: "Wir bewahren euch vor Rückfällen in die Katastrophen der Vergangenheit und zeigen euch den Weg in eine bessere Zukunft! Diese Lebenslüge des historischen Metiers findet ihre regelmäßige Spiegelung in Politiker-Statements, die immer dasselbe Mantra gebetsmühlenartig wiederholen: Nur wer die Geschichte kennt, ist davor bewahrt, ihre Schrecken zu wiederholen. Zumindest in diesem Punkte darf getrost Entwarnung gegeben werden: Sie wiederholt sich nicht. Anders ausgedrückt: 2019 ist nicht 1933, und auch der 'Westen' ist nicht im Namen der Geschichte von akutem Zerfall bedroht. So ehrenhaft und moralisch vorbildlich solche Sonntagsreden sind, die vor der Wiederholung des geschichtlich Bösen warnen: Sie fokussieren nicht nur die Hoffnungen, sondern auch die Gefahren falsch."
Archiv: Geschichte