9punkt - Die Debattenrundschau

Klar, durchlichtet, völlig monochrom

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.08.2019. "Dass eine Regierung in diesem Zeitalter der Information eine ganze Population für Tage vom Rest der Welt abschneiden kann, sagt eine Menge über die Zeiten, auf die wir zugehen", schreibt Arundhati Roy in der New York Times über die brutale Kaschmir-Politik Indiens. Tabletmag ist entsetzt, dass die israelische Regierug auf Druck Trumps eine Einreisegenehmigung für die Israel-Gegnerinnen Ilhan Omar und Rachida Tlaib zurückzog. Hubertus Knabe sieht in der NZZ die AfD als die Bürgerrechtspartei in einem Unterdrückungsstaat. In der SZ stellt Norbert Frei nochmal klar: Die Hohenzollern liebten die Nazis.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.08.2019 finden Sie hier

Politik

Indiens hindunationalistische Regierung hat der Krisenregion Kaschmir den Sonderstatus aberkannt. Das heißt unter anderem dass indische Unternehmer dort viel freier operieren und dass Inder Land kaufen können. In der Region sind alle Kommunikationsmittel, vor allem das Internet, abgeschaltet. Die Nationalisten feiern, schreibt Arundhati Roy in der New York Times. Aber "das lauteste Geräusch inmitten dieser vulgären Feiern ist die tödliche Stille in den Straßen Kaschmirs mit ihren Patrouillen und Absperrungen und seinen etwa sieben Millionen gefangenen, gedemütigten Menschen, die von Stacheldraht niedergehalten, von Drohnen ausspioniert werden und in einem kompletten Kommunikationsblackout leben müssen. Dass eine Regierung in diesem Zeitalter der Information eine ganze Population für Tage vom Rest der Welt abschneiden kann, sagt eine Menge erste Dinge über die Zeiten, auf die wir zugehen."

Dringend ruft Milosz Matuschek bei Dlf Kultur die Öffentlichkeit auf, sich für Julian Assange einzusetzen, der seit Wochen im britischen Gefängnis sitzt und dem Auslieferung in die USA droht: "Assange ist ein Dissident, der die Wahrheit ans Licht bringt, ohne die es keine Demokratie geben kann. Seine Veröffentlichungen auf Wikileaks stehen unter dem Schutz der Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit. Selbst die Veröffentlichung der Clinton-Emails war von der Meinungsfreiheit gedeckt, wie kürzlich ein US-Bundesgericht bestätigte. Assange ist kein Amerikaner. Er ist nicht an US-Sicherheitsgesetze gebunden. Wird er an die USA ausgeliefert und dort verurteilt, kann morgen jeder Publizist, Journalist oder Intellektuelle der Welt wegen Spionage in den USA verurteilt werden."

Im Tagesspiegel fasst Gereon Sievernich noch einmal die Forderungen der Demonstranten in Hongkong zusammen, vor allem der Wunsch nach einem gleichen Wahlrecht der Hongkonger stehe im Vordergrund: "Doch Peking zögert trotz Zusage dessen Einführung hinaus, wohl wissend, dass keine Mehrheit pro Peking zustande käme. Bei allen vergangenen Wahlen, bei denen nur die Hälfte der Sitze im Parlament direkt gewählt werden konnte, hatten demokratische Parteien die Mehrheit. Dennoch ist immer eine Mehrheit pro Peking gesichert. Alle Hongkonger wissen, wie wenig gerecht das chinesische Justizsystem ist. Schwarze Gefängnisse, durch Folter erpresste Geständnisse, Richter, die keine Richter sind, sondern den Anordnungen von Parteisekretären unterstehen. Niemand will sich dem ausliefern."

Die israelische Regierung hatte ursprünglich zugesagt, dass die Israelboykott-Anhängerinnen und demokratischen Abgeodneten Ilhan Omar und Rachida Tlaib nach Israel einreisen dürfen. Dann hat Trump per Twitter Druck auf Netanjahu gemacht und Netanjahu  ist tatsächlich zurückgewichen, eine Katastrophe für Israel, schreibt Yair Rosenberg im Tabletmag: "Während Trump sich seit langem als starker Unterstützer Israels ausgibt, offenbart sein Verhalten gegenüber dem Land viel niedrigere Motive. In diesem Fall verwandelte er das Land in ein bloßes Instrument, um seine heimischen Gegner zu bestrafen und seine politischen Perspektiven zu fördern, trotz des Schadens, den es dem jüdischen Staat zufügen würde, und trotz der Haltung seiner eigenen gewählten Vertreter."
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Geschichte

Die Rolle der Hohenzollern im Übergang zum Nationalsozialismus war keineswegs "umstritten", wie es bisweilen heißt, stellt der Historiker Norbert Frei in der SZ klar und verweist noch einmal auf seinen Historikerkollegen Stephan Malinowski (Unser Resümee): "Wiederholt, unlängst auch in der SZ (Ausgabe vom 6. August), hat Malinowski daran erinnert, was diesbezüglich konkret zu den Hohenzollern zu sagen ist - von des 'Kronprinzen' Wilhelm von Preußens früher Bewunderung für den italienischen Faschismus über sein Planspiel mit Hitler vor der Reichspräsidentenwahl 1932 bis hin zur stilisierten Legitimation des 'jungen Deutschland' durch die alten Mächte beim 'Tag von Potsdam' am 21. März 1933, bei dem natürlich auch Wilhelm nicht fehlte. Der Kronprinz a.D. schmückte die Inszenierung nicht nur; seine Präsenz verhalf dem neuen Regime zu wachsendem Ansehen auch bei noch immer monarchisch denkenden Bürgern."
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Gesellschaft

Ausgehend von dem Fall eines neunjährigen Mädchens, dessen Mutter gegen den Berliner Staats- und Domchor klagt, weil ihre Tochter in den reinen Knabenchor nicht aufgenommen wurde (Unser Resümee), erzählt Manuel Brug in der Welt die Geschichte der Knabenchöre, um schließlich zu fragen: "Sind Knabenchöre ein schützenswertes Kulturerbe? Ja, und gerade in ihrem trotzig behaupteten Anachronismus. Sie klingen zudem einfach anders. Klar, durchlichtet, völlig monochrom in der Grundfarbe, bisweilen schneidend kräftig. Manches davon mag Glauben sein, so wie bei der Konzertsaalakustik. Aber auch wenn die Mädchen sogar körperlich zulegen, anatomische Tatsache ist, dass Jungen einen etwas größeren Kehlkopf haben, einen höheren Muskeltonus und damit eine kräftigere und obertonreichere Stimme. Dafür komponierten insbesondere die Meister der Renaissance. Mäandernde Stimmen treffen sich intonationsgenau an einem harmonischen Scheitelpunkt. Das ist Abendland pur."

In der SZ meint auch Helmut Mauró: "Was im Leistungssport sonnenklar ist: dass es nicht nur genderspezifische, sondern genetische Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, das scheint im Kulturbereich, also im Falle der Knabenchöre, für viele nicht nachvollziehbar."
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Ideen

Im Welt-Gespräch mit Martina Meister erneuert der französische Philosoph Michel Onfray noch einmal seine hässlichen, bereits in einem Essay erhobenen Vorwürfe gegen Greta Thunberg - sie sei ein von Erwachsenen instrumentalisierter, "geschlechts- und gefühlloser Cyborg" und eine "Silikonpuppe" - um dann eine unappetitliche Parallele zur 68er-Revolution zu ziehen: "Sie wurde von denen gemacht, die heute die Eltern dieser Königskinder sind, und die, nachdem sie Mao und Trotski gefeiert haben, heute das Credo von Jean Monnet und Emmanuel Macron nachbeten. Es sind diejenigen, die vor den Kindern auf die Knie gehen, weil sie selbst nie fähig waren, erwachsen zu werden. Bei dieser Gelegenheit kann man daran erinnern, dass sich die Altachtundsechziger in den 70er-Jahren massiv dafür eingesetzt haben, die Pädophilie zu entkriminalisieren. Das Wesen von Kindern ist es, über sich hinauszuwachsen, und nicht, als Fetisch oder Ikone gefeiert zu werden."
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Europa

Die AfD vergleicht ihre Konkurrenz mit den DDR-Blockparteien, die Bundesregierung mit dem SED-Politbüro und sich selbst mit dem Neuen Forum, schreibt der Historiker Hubertus Knabe in der NZZ - und findet das allen Ernstes gar nicht mal so abwegig: Angela Merkel sei fast so lange im Amt wie Erich Honecker, auch die "Abgehobenheit" der Politik und Medien erinnere viele Ostdeutsche an früher, schreibt er: "Politik und Medien tragen auch die Hauptverantwortung dafür, dass in Deutschland immer mehr Menschen Angst haben, offen ihre Meinung zu sagen. Laut einer Allensbach-Umfrage hatten 45 Prozent der Befragten im November 2015 den Eindruck, man müsse vorsichtig sein, wenn man sich zur Flüchtlingsfrage äußere. Im Mai 2019 hatten bereits zwei Drittel der Befragten das Gefühl, man müsse im öffentlichen Raum 'sehr aufpassen', was man sage. Neben der Flüchtlingsfrage wurden jetzt auch die Themen Nationalsozialismus, Juden, Rechtsextremismus, Patriotismus, Homosexualität und die AfD als angstbesetzt benannt. Die Aggressivität und Intoleranz im politischen Diskurs erinnert zuweilen fatal an DDR-Verhältnisse, nur dass der Druck jetzt nicht nur von oben kommt, sondern auch von der Seite durch manche Journalisten und von ihnen gehypte Minderheiten."

So schlecht, wie im Westen angenommen steht es um die Demokratien in Mittel- und Osteuropa nicht, schreibt Harald Schuhmann im Tagesspiegel mit Blick nach Tschechien, Rumänien und die Slowakei, wo die Menschen zunehmend auf die Straße gehen: "Nun passiert es sogar in Russland. Trotz Polizeigewalt und willkürlicher Verhaftungen marschierten am Wochenende erneut 50.000 Moskauer gegen ihren unfähigen Präsidenten und forderten faire und freie Wahlen. Erstmals stößt Putins Regime an die Grenzen der Repression und verliert auf breiter Front an Zustimmung. All das zeigt: Es gibt keine quasi naturgemäße Spaltung in Europa zwischen dem autoritären Osten und dem demokratisch gefestigten Westen. Letzteres steht mit dem Aufstieg des italienischen Krypto-Faschisten Matteo Salvini ohnehin in Frage."
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Kulturpolitik

Vergangene Woche erklärte Thomas Steinfeld in der SZ die große Kündigungswelle in italienischen Museen, die die erst seit 2015 erstmals tätigen zahlreichen internationalen MuseumsdirektorInnen ereilte, mit dem wachsenden Nationalismus der Italiener. (Unser Resümee) Im Gespräch sagt die deutsche Historikerin Cecilie Hollberg, die als Chefin der Galleria dell'Accademia ebenfalls überraschend abberufen wurde: "Man hat den Eindruck, dass der gesamte italienische Museumsbetrieb nun mit Gewalt zentralisiert und vielleicht auch politisiert werden soll. Museen aber brauchen Beständigkeit und Freiheit, auch im Denken und Forschen." Ob die Kündigungen tatsächlich mit dem Nationalismus zu tun haben, vermag sie nicht zu sagen, aber: "Es werden allerdings in aller Eile Maßnahmen durchgeführt, die vermutlich damit zusammenhängen, dass diese Regierung befürchten muss, nicht mehr lange im Amt zu sein. Da will man vielleicht noch einmal alle Errungenschaften der Vorgänger zunichtemachen."
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