9punkt - Die Debattenrundschau

Bandbreite für das Extreme

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.07.2019. Für die Zeit hat die Ostberliner Psychoanalytikerin Annette Simon den ganzen Osten auf die Couch gelegt und herausgefunden, dass der verordnete Antifaschismus der DDR die Bürger bis heute prägt. Die SZ fürchtet eine Balkanisierung des Internets. In der FR bekennt Ken Follett seine Zerknirschung über den Brexit. Libération macht sich Gedanken über Notre Dame und  das 19. Jahrhundert, das die Kirche zugleich rettete und romantisierte. Und Horizont fragt: Sind die Zeitungen der Dumont-Gruppe noch zu verkaufen?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.07.2019 finden Sie hier

Europa

Bestsellerautor Ken Follett geht mit einigen Kollegen auf Freundschaftstour durch Europa, auch um seine Gegnerschaft zum Brexit zu bekennen. Im Interview mit Katrin Pribyl von der FR kritisiert er die Mentalität der Brexiteers: "Wenn Menschen behaupten, dass wir Europa nicht brauchen und damals gut alleine zurechtkamen, kann ich nur sagen: Nun, vor 150 Jahren mögen wir Erfolg gehabt haben, aber die Zeiten ändern sich. Die Welt ändert sich. Und niemand ist besser dran ganz auf sich gestellt. Unser Wohlstand basiert auf internationalen Geschäftsbeziehungen, unsere Kultur ist international. Es fällt Briten schwer, das anzuerkennen. Man hört ständig in Auseinandersetzungen: Wir haben den Krieg gewonnen. Dabei wissen wir, dass die Wehrmacht von der Roten Armee besiegt wurde, den Russen. Viele Briten denken, es war die Royal Air Force, die Luftstreitkräfte des Königreichs."

Ein paar Wochen nach dem Brand stecken die Arbeiten für Notre Dame fest. Es herrscht Unsicherheit,die Spenden tröpfeln nur mehr  - und auch die Substanz könnte stärker beschädigt sein als angenommen, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Laure Murat in einem Essay für Libération - und erinnert gleichzeitig an Victor Hugo, der Notre Dame überhaupt erst wieder ins Gedächtnis der Nation gerufen hatte und mit dem "Glöckner von Notre Dame" geradezu bewirkt hat, dass die Kirche gerettet wurde. Und dabei war das "19. Jahrhundert, das 'mehr als alle anderen zurückblickte', wie Sainte-Beuve sagte, wohl das Jahrhundert, das mehr Bauerbe zerstörte als je zuvor. Es war allerdings auch das Jahrhundert, das am kühnsten war in der unermüdlichen Neuinterpretation der Architektur und der Sprache des Ornaments. Käme heute ein Präsident auf die Idee, die Tour Saint-Jacques oder einen Flügel des Louvre abzureißen? Würde man es zulassen, dass ein neuer Haussmann Paris durchlöchert oder den Boulevard périphérique zerstört, um ein Grand Paris zu gestalten? Natürlich nicht. Und doch ist das von der ganzen Welt gepriesene Paris das Werk des brutalen 19. Jahrhunderts, so wie Notre Dame mit ihrem Vierungsturm und ihren Sphinxen aus der Romantik."
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Politik

Schriftstellerin Nora Bossong war zum Gedenken an den Völkermord an den Tutsi in Ruanda. Für die Zeit schreibt sie ihre Impressionen auf: "In einem Land, das zu klein ist, als dass seine Bewohner einander aus dem Weg gehen könnten, das vor allem aus Dörfern besteht, in denen jeder über jeden Bescheid weiß, mag gemeinsame Erinnerung überlebensnotwendig scheinen, in einem Staat, hinter dessen Landesgrenzen die Flüchtlingslager liegen, in denen man sich nicht dafür interessiert, dass die Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi von der ruandischen Regierung offiziell nicht mehr erwünscht ist und in denen noch immer viele darauf warten, endlich nach Hause zurückkehren zu können. Einige in den Lagern sind untergetauchte génocidaires, Verbrecher von 1994, einige würden den Heimweg auch mit Waffengewalt erzwingen. Wie sollten diese Menschen sich an dasselbe erinnern?"
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Internet

Es findet eine zunehmende "Balkanisierung des Internet" statt, konstatiert Johannes Kuhn in der SZ mit Blick auf die Tendenz zahlreicher User, sich aus der Netzöffentlichkeit ins Dark Social zurückzuziehen. Extreme Stimmen werden dadurch stärker wahrgenommen, erläutert ihm Andre van Loon von der Digital-Marktforschungsagentur "We Are Social" am Beispiel einer Fokusgruppe von Muslimen: "Die Teilnehmenden dort hätten ihm erklärt, sie meldeten sich nach islamistischen Terroranschlägen nicht mehr über Twitter oder Facebook zu Wort. Denn obwohl sie Empathie mit den Opfern zeigten, seien sie zu oft wegen ihrer Herkunft angegriffen worden. Ähnliches berichten Angehörige anderer Minderheiten, die für explizite politische Äußerungen mit Drohungen rechnen müssen. Den frei gewordenen Raum besetzen oft genau diejenigen, die andere zum Schweigen gebracht haben. Der Diskurs verschärft sich, weitere Teilnehmer wenden sich ab und geben zusätzliche Bandbreite für das Extreme frei."
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Stichwörter: Dark Social

Gesellschaft

Für die Zeit hat die Ostberliner Psychoanalytikerin Annette Simon den ganzen Osten auf die Couch gelegt und macht neben verdrängten Ängsten und dem Kulturschock nach der Wende vor allem den staatlich verordneten Antifaschismus als Krankheitsherd für den Rechtsruck aus:  "Die in der DDR nach 1945 in die Macht eingesetzten Politiker (...) schufen den Mythos, dass die DDR aus dem Antifaschismus geboren worden sei. Diese Saga entfaltete eine ungeheuer starke Wirkung - bis in die einzelne Familie hinein -, weil sie umfassende Schuldentlastung von den deutschen Verbrechen bot. Diese Schuldentlastung wurde von den Deutschen Ost, die gar nicht unschuldiger waren als die Deutschen West, ergriffen und nach und nach sogar geglaubt. Die Identifikation mit den Antifaschisten und später auch mit der DDR bot den ungeheuren Vorteil, nun scheinbar auf der richtigen Seite zu stehen, auf der Seite des Widerstands und damit auch der Opfer. Alles, was aber nach 1945 an psychischen Dispositionen, an Anfälligkeit für Unterordnung, autoritäres Denken, Verachtung des Fremden und Schwachen weiterhin da war, wurde außer in der Kunst und Literatur nicht gesellschaftlich durchgearbeitet, öffentlich schon gar nicht."

Seit die demokratische Kongress-Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez die Flüchtlingslager an der mexikanisch-amerikanischen Grenze mit KZs verglich, tobt in den USA eine Debatte (unsere Resümees),  auch zwei Holocaust-Überlebende warfen Ocasio-Cortez bei Fox News jüngst Relativierung vor, meldet Hannes Stein in der Welt. Zeitgleich findet in Manhattan im "Museum of Jewish Heritage" eine Ausstellung über Auschwitz statt, die, so Stein weiter, zwar geradezu vorbildlich auch bisher Unbekanntes zum Völkermord zusammentrage, dann aber - sehr amerikanisch - in einer Lektion in "allgemeiner Menschenliebe" ende und Auschwitz zur "Metapher für das Böse" schlechthin werden lasse. Und: "Auschwitz wird hier implizit zu einem Maßstab gemacht. Aber wenn Auschwitz die Messlatte ist, können eigentlich alle anderen - inklusive der antisemitischen Mullahs in Teheran - mit hoch erhobenem Haupte darunter durchmarschieren. Gemessen an Auschwitz ist alles nicht so schlimm. Auch nicht, wenn ein durchgeknallter Antisemit in einer Synagoge in Pittsburgh elf Juden erschießt; auch nicht, wenn die Hamas mit Raketen auf israelische Schulkinder zielt. Auschwitz wird so zu einem Vorwand, um jede Schweinerei schon im Vorhinein zu entschuldigen. Und damit kehren wir zu Alexandria Ocasio-Cortez zurück."

Weitere Artikel: Sehr leidenschaftlich verteidigt die italienische Philosophin Donatella di Cesare in der Zeit Carola Rackete: "Carola ist eine Antigone unserer Zeit, die dem Dekret von Kreon, dem erbärmlichen Erlass eines opportunistischen Politikers, zuwiderhandelt, der seinerseits gegen die übergeordneten, ungeschriebenen Gesetze verstößt, wie dasjenige, das die Bestattung der Toten vorsieht."
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Medien

In Deutschland kosten Epaper-Abos von Zeitungen 30 bis 45 Euros im Monat. Nun stellt die Landesanstalt für Medien NRW eine Studie vor, die ergibt, dass sich Leser etwas ganz anderes wünschen. Simone Jost-Westendorf, Mitverfasserin der Sduie, erläutert bei Meedia: "Nutzerinnen und Nutzer wünschen sich einen 'One-Stop-Shop', bei dem sie - ähnlich wie bei Netflix oder Spotify - auf sämtliche Inhalte zugreifen können, ohne zwischen Anbietern zu wechseln. Redaktionen können so Ressourcen und Kräfte bündeln und auch Nischenanbieter ihre Zielgruppe finden. Dabei sind die Vertrags- und Zahlungsmodalitäten gelernt: Die Zahlungsbereitschaft beläuft sich auf etwa zehn Euro pro Monat." (John Lanchester empfahl das übrigens schon 2010)

Felix Hooß wendet in der FAZ dagegen ein: Wie die Erlöse solcher Plattformen "verteilt würden, ob damit bestehende Redaktionen mit Korrespondentennetzwerken in der ganzen Welt finanziert werden könnten, diese Fragen sind völlig offen. Ambitioniert gestartete neue Anbieter wie Blendle konnten die Hoffnungen der Medienunternehmen nach neuen Erlösquellen bislang nicht erfüllen."

Dazu passt dann folgender Bericht von Ulrike Simon aus Horizont: "Der geplante Verkauf der DuMont-Zeitungen verläuft holprig." Ein "fatales Signal" sei das für die ganze Branche. "Früher hätten Interessenten den Kölnern die Bude eingerannt. Man muss sich das in Erinnerung rufen: Noch vor zwölf Jahren ließ sich die damalige WAZ-Gruppe den Kauf der Braunschweiger Zeitung geschätzte 210 Millionen Euro kosten. Diese Zeiten sind vorbei. Solche Summen sind heute nicht mehr vorstellbar. Im Fall von DuMont aber geht es nicht nur um einen einzelnen Titel, sondern um das gesamte regionale Zeitungsgeschäft. Die Resonanz ist trotzdem dürftig." (Simons Artikel ist nach Registrierung bei Horizont kostenlos zu lesen.)
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