Bücher der Saison

Romane

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
11.11.2023. Drago Jancar erzählt, wie Weltbilder zerbrechen. Georgi Demidow schildert aus erster Hand die Absurditäten stalinistischer Schauprozesse. Tonio Schachinger beobachtet einen Schüler sich durch die Krisen des 21. Jahrhundert spielen. Bora Chung folgt dem Fluch des Hasen. Und die Familienbande sind stark wie nie bei Maxim Biller, Sylvia Schenk, Deniz Utlus oder Wolfgang Haas.
Die 75. Frankfurter Buchmesse fand unter dem Eindruck des Hamas-Terrors in Israel statt - und man kann den Auftrag der Literatur gerade jetzt nicht besser zusammenfassen als Salman Rushdie, der in seiner furiosen Dankesrede die Meinungsfreiheit und die zivilisierende Kraft der Kultur pries: "Wir sollten weiterhin und mit frischem Elan machen, was wir schon immer tun mussten: schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann", sagte Rushdie. "Niemand wurde belehrt oder agitiert, vielmehr brachte dieser Preisträger sein Publikum zum Träumen, zum Lachen und zum Denken", fasste Nils Minkmar in der SZ entsprechend den allgemeinen Eindruck zusammen. Und genau das erhoffen auch wir uns: Sie zum Lachen, Träumen und Nachdenken zu bewegen mit den besten und wichtigsten Büchern der Saison, die wir für Sie zusammengestellt haben.

Vor den Anschlägen in Nahost waren es vor allem der Krieg Russlands in der Ukraine, aber auch die Debatten in und über Ostdeutschland, die die Feuilletons bewegten. Wir versuchen, darauf mit unserer Auswahl zu reagieren. Das Gastland Slowenien stand ein wenig im Schatten der aktuellen Ereignisse, ein paar literarische Perlen konnten wir aber entdecken. Wir laden Sie ein, zu einer literarischen Reise um den Globus und durch die Zeiten, mit Drago Jancar ins Maribor der Nachkriegszeit, mit Viktor Jerofejew zu Hinterhofschlägern im Kreml, mit Tonio Schachinger mitten in den Wahnsinn hinter den Fassaden des Wiener Bürgertums, mit Toni Morrison ins Ohio der Vierziger und mit Sheng Keyi durch ein Jahrhundert chinesischer Familienpolitik.

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Gastland Slowenien

Pünktlich zur Buchmesse liegt in hervorragender Übersetzung, so versichern uns die KritikerInnen, der neue Roman von Drago Jancar vor, der als bedeutendster Schriftsteller Sloweniens gilt. An der Seite des 13-jährigen Danijel führt uns Jancar mit "Als die Welt entstand" (bestellen) ins Maribor der Nachkriegszeit: Hier gerät Danijel, Sohn eines Partisanen, in eine Dreiecksgeschichte, in deren Zentrum Lena steht, eine junge Frau, die sich nicht für den herzensguten Pepi, sondern für den Hallodri Ljubo entscheidet. FAZ-Kritiker Luca Vazgec erkennt in den Figuren Archetypen, die von der Kirche ebenso enttäuscht sind wie vom Kommunismus. Weltbilder zerbrechen, am Ende bleibt laut Vazgec eine Gesellschaft, die den Terror des Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegszeit nie aufgearbeitet hat und daran weiterhin leidet. Wer die Welt der Kindheit, die Drago Jancars Buch entwirft, für ein Klischee hält, hat womöglich seine eigene Jugend vergessen, meint in der FR Norbert Mappes-Niediek. Und für den Dlf-Rezensenten Cornelius Wüllenkemper offenbart sich Jancar als "großer Humanist", der gleichwohl seinen Landsleuten ihre Widersprüche aufzeigt. Um slowenische Identität geht es auch in "Nachtfrauen" (bestellen), dem neuen Roman von Maja Haderlap, der von Mira erzählt, die von Wien aus in ihr Heimatdorf in Südkärnten zurückkehrt, um ihre Mutter Anni in ein Altersheim zu schicken. Auch Haderlaps Figuren sind durch die NS-Zeit geprägt, erfahren wir: Annis Eltern wurden von den Nazis ermordet, ihre Schwester blieb als Partisanin in Slowenien. Diese familiären Traumata kommen erst nach und nach bei Mira hoch, die sich weigert Slowenisch, die Sprache der ausgegrenzten Minderheit, zu sprechen. Dem SZ-Kritiker Christoph Schröder imponieren die "vielen Glutkerne" und die Vielschichtigkeit der Handlung.

Als wunderbaren Querschnitt durch das Werk der slowenischen Autorin Mojca Kumderdej würdigt FAZ-Kritiker Tilman Spreckelsen diesen unter dem Titel "Unter die Oberfläche" (bestellen) erschienenen Erzählband, der in dreizehn Geschichten von den Schwierigkeiten der Kommunikation erzählt. Für Cornelius Wüllenkemper (SZ) vorbildlich recherchierte und psychologisch ausgereifte Stories, in denen die Autorin um Figuren aus unterschiedlichen Milieus kreist und in die Abgründe von EU-Beamten, Universitätsdozentinnen oder Arbeitslosen abtaucht: Er begegnet einer Mutter, die ihre Tochter aus Eifersucht tötet, einem Kind, dass den Missbrauch des Vaters an der Schwester beobachtet oder einer Geschäftsfrau, die in die Fänge eines sadistischen Psychopathen gerät. Frei von Urteilen, dafür mit scharfem Blick lotet Kumderdej die Düsternis zwischenmenschlicher Beziehungen aus, versichert der Rezensent. Autor Goran Vojnovic wurde vor allem mit dem Roman "Tschefuren raus!" bekannt, nun liegt mit "18 Kilometer bis Ljubljana" (bestellen) eine Fortsetzung vor - und die Kritiker sind angetan: Gespannt folgt etwa Dlf-Rezensent Jörg Plath dem Helden Marko, der in den Plattenbau ins Tschefuren-Viertel Fužine in Ljubljana zurückkehrt und sich über Verspießerung bzw. den Drogenabstieg seiner alten Weggenossen wundert. Laut FR-Kritiker Norbert Mappes-Niediek entfaltet sich hier eine Milieustudie, die vom Nebeneinander unter anderem serbischer Nationalisten und konservativer Muslime, aber mehr noch von einem äußerst rauhen Tonfall geprägt ist. "Weltliteratur", jubelt Doris Akrap, die in der taz nicht zuletzt die Übersetzung von Klaus Detlef Olof würdigt.


Vom Gulag zum Gopnik

In unseren Bücherbriefen der letzten zwei Jahre haben wir immer wieder ukrainische und russische Titel hervorgehoben, auch in unseren Eichendorff21-Listen (hier und hier) finden Sie einen Überblick. Die Zahl der Neuerscheinungen ist zurückgegangen, aber auf zwei Titel wollen wir besonders aufmerksam machen: In ihrer hymnischen Besprechung legt uns FAS-Kritikerin Anna Prizkau Georgi Demidows erstmals auf Deutsch erschienenen Roman "Fone Kwas oder Der Idiot" (bestellen) ans Herz. Demidow, 1908 ins St. Petersburg geboren, wuchs im Gebiet der heutigen Ukraine auf und arbeitete bis zu seiner Verhaftung im Jahr 1938 in Charkiw als sowjetischer Elitephysiker. Er überlebte vierzehn Jahre den Gulag an der Kolyma und begann darüber zu schreiben. So liest sich sein Roman über die Schrecken und Absurditäten stalinistischer Schauprozesse auch autobiografisch: Die Hauptfigur Rafail hat eine gute Stellung im Sowjetstaat, deshalb glaubt er nach seiner Verhaftung im Jahr 1937 zunächst an einen Irrtum. Schnell muss er aber erkennen, resümiert Prizkau, dass es bei dem Verfahren keineswegs um Wahrheitsfindung geht, zudem erlebt er die brutale Gefängnishierarchie. Rafail entwickelt die Idee, vor den NKWD-Offizieren den "Fone Kwas" (ein jiddischer Ausdruck für einen Narren oder "Trottel") vorzutäuschen, wirre und unglaubliche "Geständnisse" zu machen - in der Hoffnung, schnell verurteilt zu werden, um dann Berufung einzulegen und zu zeigen, dass alles, was er gestanden hat, technisch und wissenschaftlich vollkommen unhaltbar ist, erläutert uns der Klappentext. Prizkau empfiehlt große, zeitlose Literatur und ein Buch, das man nicht nur schnell liest, sondern das einen für die kurze Zeit der Lektüre auch sehr glücklich macht. Demidow starb, wie Warlam Schalamow, mit dem er sich in Kolyma befreundete, in dem Glauben, sein Werk sei von den Sowjets vollständig zerstört worden. Zu Schalamow ist übrigens kürzlich auch eine Biografie von Franziska Thun-Hohenstein erschienen.

Gopnik - so werden im Russischen Hinterhof-Schläger bezeichnet, klärt uns Zeit-Kritiker Ijoma Mangold auf. Mit Viktor Jerofejews "Der große Gopnik" (bestellen) ist natürlich Putin gemeint, auch wenn er nie namentlich genannt wird. Mangold hat sich für die Zeit mit Jerofejew zum O-Saft im Prenzlauerberg getroffen, den Autor als mutigen Putin-Kritiker porträtiert und dem neusten Roman eine hymnische Besprechung gewidmet: Für ihn ist dieser kraftstrotzende Roman ein "Meilenstein der russischen Literatur". Jerofejew erzählt von einem geschichtslosen, fatalistischen Land, in dem sich Grauen und Tyrannei von Iwan dem Schrecklichen bis hin zu Putin zyklisch wiederholen. Den Roman liest Mangold nicht nur als meisterhafte Abrechnung mit Putin, mehr noch: Was hier mitunter wie literarische "Fieberträume" erscheint, ist doch pure Wirklichkeit, die in dieses Buch wie eine "gewaltige Ozeanwelle kracht", fährt der Kritiker fort, der noch einen besonderen Vorzug dieses Romans preist: Jerofejew schert sich nicht um politische Korrektheit - und so sei der Roman auch alles andere als ein Lobgesang auf den fortschrittlichen Liberalismus des Westens. Welt-Rezensenten Joseph Wälholz würdigt das Buch als großes bric-a-brac, Politik, literarische Phantastik, Autobiografisches schwirre durcheinander, und das oft durchaus brillant: Den Roman durchweht ein Nihilismus, der Wälholz an den russischen Satiriker Michail Saltykov-Shedrin erinnert. Für FAZ-Kritikerin Kerstin Holm ist dies "der Roman der schicksalhaften Stunde".


Im Hier und Jetzt

Tonios Schachingers Roman "Echtzeitalter" (bestellen) hatten lange weder die Zeitungen noch wir auf dem Schirm. Seit März gab es immer wieder vereinzelte, aber durchweg positive Kritiken. Und nun hat er den Buchpreis gewonnen! Warum sich die Jury in diesen Zeiten für einen eher unpolitischen Roman entschieden hat, konnten die Feuilletons zwar nicht ganz nachvollziehen, empfohlen haben sie ihn dennoch. Schachingers Internatsroman über einen Gamer, der sich besser im Spiel "Age of Empires" als in der Wirklichkeit zurechtfindet, überzeugt sie durch den besonderen österreichischen Witz - und dabei muss man sich nicht mal in der Gaming-Welt auskennen! FAZ-Kritiker Tobias Rüther bewunderte vor allem "klassische Elemente der Schulgeschichtenweltliteratur" mit gegenwärtigen Schülerkrisen von Corona, Digitalität und Autonomie im 21.Jahrhundert verbindet, in der Zeit hatte Adam Soboczynski seine helle Freude, wie ihm Schachinger den Wahnsinn hinter den Fassaden des gehobenen Wiener Bürgertums vor Augen führt, und in der FAZ empfahl Daniela Strigl den Roman als so "kluges wie herzerwärmendes" Buch.

Von der Macht der Maschinen und der Mathematik erzählt uns der chilenische Autor Benjamin Labatut in seinem Roman "Maniac" (bestellen), den uns Felix Stephan in der SZ unbedingt empfiehlt: Der erste Teil erzählt vom Mathematiker John von Neumann, der nicht nur den ersten speicherfähigen Computer entwickelt hat, sondern auch ein schwieriges Genie ist, mit durchaus fragwürdigen Vorstellungen von Ethik und Moral. Der zweite Teil spielt die Möglichkeiten lernender neuronaler Netzwerke anhand des Go-Spiels durch: Der weltbeste Spieler tritt hier gegen einen Computer an - letzterer gewinnt, resümiert Stephan, der diesen Roman über die Geschichte der Künstlichen Intelligenz "so archaisch und monumental" findet, dass er den Vergleich mit wie Cormac McCarthy nicht scheut.

Um Selbstfindung in der Natur und um Mysteriöses geht es in Thomas Hettches "Sinkende Sterne" (bestellen), der, wie die KritikerInnen schreiben, ein wenig Denkarbeit verlangt. Aber sie lohnt sich! An der Seite von Held Thomas, einem Uni-Dozenten, der seinen Job verloren hat, weil er sich identitätspolitischen Diskursen nicht beugen wollte, reisen wir ins Kanton Wallis, das nach einer Flut zum Katastrophengebiet wurde, in dem dämonische Kräfte hausen. Die Kritiker bewundern, wie Hettche nicht nur viel diskutierten Themen, etwa Klima, Gender und Sprechverbote verhandelt, vor allem erliegen sie der kunstfertigen Prosa des Autors. Dieser Roman ist ein "kluger Abgesang auf die Postmoderne", zugleich aber auch ein Loblied auf das Schöpfungspotenzial der Literatur, meint etwa Roman Bucheli in der NZZ. Auf drei Romane, die es dieses Jahr auf die Long- beziehungsweise Shortlist geschafft haben, wollen wir nochmal gesondert hinweisen: "Südstern" (bestellen), den Comeback-Roman von Tim Staffel etwa, der die Rezensenten vor allem mit seinem Drive überzeugt. Wie "Lindenstraßen auf ADHS" erscheint dem taz-Kritiker Dirk Knipphals der Roman, der von dem jungen Polizisten Deniz und der Drogendealerin Vanessa erzählt, die sich im Berlin der Gegenwart ineinander verlieben. Reichlich Lokalkolorit und ein Ohr für die Dissonanzen der Stadt attestiert Ken Yamamoto in der FR dem Roman. Auf Tess Guntys großartigen Roman "Der Kaninchenstall" (bestellen) aus dem amerikanischen rust belt haben wir schon in unserem Bücherbrief des Monats August und in Angela Schaders Vorwort hingewiesen: "Prosa mit ADHS" - und ziemlich nahe an Foster Wallace, meinte etwa Zeit-Kritiker David Hugendick.


Der Horror

Nicht gerade zimperlich geht es in den unter dem Titel "Der Fluch des Hasen" (bestellen) erschienenen Stories der südkoreanischen Autorin Bora Chung zu, warnt uns im Dlf Kultur Maha El Hissy vor: Die Geschichten beginnen mit alltäglichen Situationen, werden aber schnell zum Albtraum: Aus einer Kloschüssel wächst hier schon mal ein Kopf aus Exkrementen, in einer anderen Geschichte hört die Periode einer Frau nicht mehr auf, dennoch wird sie ungewollt schwanger, erfahren wir. El Hissy erkennt in den Geschichten den täglichen Horror, dem Frauen in einer "patriarchalen, heteronormen Gesellschaftsordnung" ausgesetzt sind. Die unverblümte Art, mit der Chung die Leser ins Geschehen wirft, gefällt ihr: So geht literarische Gesellschaftskritik. Noch ein wenig österreichischer scheint es in Barbi Markovics Erzählband "Minihorror" (bestellen) zuzugehen, den uns Clemens J. Setz in der Zeit ans Herz legt: Miki und Mini geraten immer wieder in abstruse Szenarien, die an Horrorfilme erinnern, oder auch an Bücher von Autorinnen wie Karen Russell. Hier kann jeder einzelne Satz die unglaublichsten Wendungen nehmen, versichert der angeregte Rezensent.


Familienbande

In China ist Sheng Keyi längst eine Literatur-Star, hierzulande gilt sie noch immer als Geheimtipp, weshalb wohl auch erst Hannah Lühmann in der Welt den Roman "Die Gebärmutter" (bestellen) besprochen hat. Die regimekritische Autorin erzählt uns anhand von acht Frauen aus vier Generationen einer Familie die Geschichte chinesischer Familienpolitik: Wenn hier allerdings Kriege, Kastrationen und Operationen, brutale Verhütungsmethoden und Abtreibungen geschildert werden, erkennt Lühmann: Die verschiedenen Formen der Zurichtung des menschlichen Körpers und insbesondere des weiblichen Körpers, die hier beschrieben werden, betreffen nicht nur China, sondern uns alle. Keyi erzählt von diesen Eingriffen in den menschlichen Körper wunderbar abwechslungsreich, so Lühmann: Drastisch und explizit, gelegentlich moralisierend, dann wieder liebevoll und mitfühlend, mitunter fast kitschig. Im Takt der unterschiedlichen Stilwechsel stellt sich aber doch eine allgemeine Tendenz heraus: Meist sind es die Männer, die das Mitgefühl bekommen, während Frauen Grausamkeiten über sich ergehen lassen müssen, bemerkt Lühmann, die diesen Roman über weibliche Selbstermächtigung unbedingt empfiehlt.

Nach Syrien führt uns der in Ost-Berlin geborene Autor Sherko Fatah in seinem neuen Roman "Der große Wunsch" (bestellen). Die meiste Zeit hält sich Held Murad zwar im Kurdengebiet an der türkisch-syrischen Grenze auf, dort wartet er auf Mittelsmänner, die ihm Informationen über seine Tochter Naima, die sich dem IS angeschlossen hat, geben sollen. Die Zeit vertreibt er sich mit Herumirren durch die fremde Gegend,  Zweifeln und Grübeleien über die Beweggründe der Tochter oder Erinnerungen an den kurdischen Vater. Ein Buch voller Spannung, trotz oder gerade wegen hinreißend plastischer Landschaftsbeschreibungen, empfiehlt Tobias Lehmkuhl im Dlf. Auch Sigrid Löffler staunt im Dlf Kultur, wie es Fatah gelingt, dem vermeintlichen "Stillstand der Handlung" eine derart eine "unheimliche Dynamik" zugrunde zu legen. Für sie eine der wichtigsten Neuerscheinungen des Herbstes.

Überwiegend hingerissen sind die meisten KritikerInnen von Marion Poschmanns Roman "Chor der Erinnyen" (bestellen), einem Nachfolger der "Kieferninseln" (bestellen), der aber auch ohne dessen Kenntnis gelesen werden kann, wie sie versichern. Nun folgen wir der Lehrerin Mathilda, die ihrer Ehe durch einen Ausflug mit Freundinnen in eine Waldhütte entflieht und dort zunehmend durchlässiger für die Natur wird. Ein bisschen Geistergeschichte, ein bisschen griechische Mythologie, ein bisschen feministischer Befreiungskampf sind dabei, alles in einem reduzierten und gleichzeitig hochpoetischen Tonfall erzählt, freut sich in der FR Judith von Sternburg, die sich wundert, weshalb es dieses "Zauberkunststück in Form und Inhalt" nicht auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat. Ein fesselnder Roman, in dem sich humorvolle, düstere aber auch naturromantische Töne die Waage halten, lobt Helmut Böttiger im Dlf Kultur, in der FAZ ist für Andreas Platthaus vor allem der hohe sprachliche Ton Balsam auf die von der ansonsten eher schnöden Gegenwartsliteratur gebeutelte Rezensentenseele. Nur in der SZ kann Marie Schmidt wenig mit Bourgeoisie in der Midlife-Crisis anfangen. In "Das Alphabet bis S" (bestellen) erzählt uns Navid Kermani von einer Schriftstellerin, die, gebeutelt von mehreren Lebenskrisen, etwa der Tod der Mutter oder die Krankheit des Sohnes, Bücher von A bis S in die Hand nimmt und in Lektüren vertieft. Manche Kritikerin hätte sich mehr Wumms, auch mehr weibliche Lektüren gewünscht. "Kraftstrotzend" findet indes Martin Oehlen in der FR den Roman.

Nur gute Kritiken bekam Sylvie Schenks Roman "Maman" (bestellen), der die Rezensenten an die Romane von Annie Ernaux erinnert. Und das keineswegs nur, weil Schenk ebenfalls Französin ist. Poetischer noch als Ernaux erscheint gar FR-Kritikerin Judith von Sternburg diese Geschichte in der sich Schenk vorsichtig und doch schonungslos ihrer Mutter nähert, die als Waise und Kind einer Prostituierten eine lieblose Ehe mit einem Zahnarzt eingeht. Um ein Mutter-Tochter-Verhältnis geht es auch in Elena Fischers Debütroman "Paradise Garden" (bestellen), der von Billie erzählt, die mit ihrer Mutter zunächst in prekären Verhältnissen, aber durchaus glücklich in einer Hochhaussiedlung aufwächst. Dann aber stirbt die Mutter, die ungarische Großmutter taucht auf und Billie macht sich auf die Suche nach dem unbekannten Vater. Als ganz außergewöhnlichen Coming-of-Age-Roman mit einer wunderbaren Heldin liest das Katharina Teutsch (FAZ).

Deniz Utlus erählt in "Vaters Meer" (bestellen) vom dreizehnjährigen Yunus, dessen Vater nach zwei Schlaganfällen bis zu seinem Tod gelähmt ist und sich nur noch mit seinen Augen verständigen kann. taz-Kritiker Andreas Fanizadeh hat er vor allem durch die sprachliche Wucht der Erinnerungsbilder überzeugt. Und für FAZ-Rezensent Andreas Platthaus gehört diese diese (Selbst-)Erforschung zum Intimsten, was er je gelesen hat. Auf Maxim Billers "Mama Odessa" (bestellen), eins der meist- und bestbesprochenen Bücher der Saison, haben wir schon im Bücherbrief vom September hingewiesen: eine romanhafte Biografie seiner Mutter Rada, aus der sich eine die politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts und insbesondere das Schicksal der europäischen Juden reflektierende Familiensaga zwischen Hamburg, Odessa und Tel Aviv entfaltet, die stets wieder zur zentralen Mutter-Sohn-Konstellation zurückführt. Eine vergleichbar zärtliche Mutter-Sohn-Story hat Rezensent Carsten Hueck (dlf Kultur) noch nicht gelesen. Sehr gut besprochen ist auch  "Eigentum" (bestellen), in dem Kult-Krimi-Autor Wolfgang Haas voller Zuneigung, aber auch mit Witz vom Leben und Sterben seiner an Demenz erkrankten Mutter erzählt.


Kurz vor jetzt

Über zwei Romane wurde diese Saison in den Feuilletons erhitzt diskutiert: Anne Rabes "Die Möglichkeit von Glück" (bestellen), der es auf die Shortlist schaffte und den wir bereits in unserem Bücherbrief des Monats Juni empfohlen haben. Und Charlotte Gneuß' "Gittersee" (bestellen), den nicht die Nominierung für die Longlist, sondern Ingo Schulzes Fehlerliste ins Gespräch brachte (unsere Resümees). Um es kurz mit taz-Kritiker Dirk Knipphals zu sagen: Gneuß schreibt Literatur. Sowohl Rabe als auch Gneuß arbeiten an dem, was Gneuß in einem FAZ-Gespräch als "ein 1968 für unsere Ostgeschichte" bezeichnet hat, hält er fest. Und beide Romane leisten Wichtiges, meint Knipphals: Sie konzentrieren sich auf das Private, das, was in den Familien vor und kurz nach der Wende los war. In "Gittersee" folgen wir der sechzehnjährigen Karin, die im Sommer 1976 gern mit ihren Freunden Paul und Rühle einen Ausflug zu "den Tschechen" machen würde, sich aber um ihre kleine Schwester kümmern muss. Die Eltern arbeiten in staatseigenen Betrieben, die Oma herrscht streng über die Familie und Karin gerät bald in die Fänge der Stasi: Ein attraktiver Mann namens Wickwalz schleicht sich in Karins Vertrauen und horcht sie über ihre Freunde aus. Allein wie Gneuß diese Unterredungen gestaltet, im Schwebezustand und stets offenlassend, ob und an wem Karin Verrat begeht, beeindruckt FAZ-Rezensentin Katharina Teutsch. SZ-Kritiker liest einen Roman über den "systemimmanenten Verlust der Unschuld",  und in der FR lobt Judith Sternburg den Detailreichtum, mit dem Gneuß vom Alltag in einem Dresdner Arbeiterviertel erzählt.

Zwei politische Künstlerromane können wir anzeigen: "Zeitgenössische Weltliteratur" ruft Dlf-Kultur-Rezensent Dirk Fuhrig nach der Lektüre von Juan Gabriel Vásquez' Roman "Wenn es an Licht fehlt" (bestellen) über Fausto Cabrera, der, in Spanien geboren und nach Francos Machtübernahme nach Kolumbien emigriert, dort zu einem bekannten Schauspieler und Intellektuellen wird. Dessen Lebenslauf hat Vásquez in das literarische Porträt eines Mannes verwandelt, der alles seinen politischen Idealen unterordnet und auch seine Kinder im maoistischen China in echte Kommunisten verwandeln möchte. Faustos Sohn Sergio, selbst Filmregisseur, braucht lange, um sich von der Gehirnwäsche zu lösen und die verheerende Rolle linker Guerillagruppen in der kolumbianischen Geschichte zu durchschauen. Eine komplexe Geschichte mit vielen Zeitsprüngen, und doch flüssig und geschmeidig erzählt, staunt Fuhrig. Der neue Kehlmann "Lichtspiel" (bestellen), hat die KritikerInnen in zwei Lager gespalten hat. Schlicht "meisterhaft" nennt Welt-Rezensent Richard Kämmerlings die Geschichte um den heute weitgehend vergessenen Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst, der Louise Brooks unvergesslich in Szene setzte und in der Stummfilmzeit als linker Avantgardist gefeiert wurde. Für FAS-Kritiker Peter Körte ein wichtiges Buch über Kunst und Korruption. SZ-Kritiker Cornelius Pollmer fehlt allerdings die "Kehlmann'sche Magie".

Fast übersehen hatten die KritkerInnen Tomer Dotan-Dreyfus' Roman "Birobidschan" (bestellen) - bis er es auf die Longlist schaffte. Der in Haifa geborene, seit zehn Jahren in Berlin lebende Schriftsteller führt uns ins Oblast Birobidschan, jene autonome jüdische Region, die Stalin kurz vor der chinesischen Grenze errichten ließ. Aber der Autor hat nicht das historische Schicksal der Region, die von den meisten Juden bereits im Laufe der Vierziger wieder verlassen wurde, im Blick. Vielmehr entwirft er die Utopie einer "jüdisch-bundistischen Republik" in der ein "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" herrscht, erklärt im Dlf Kultur Katharina Teutsch, die den "jüdischem Witz" und magischen Realismus der Geschichte lobt. Zu den großen US-amerikanischen Romanen der Saison zählt selbstverständlich auch Colson Whiteheads "Die Regeln des Spiels" (bestellen), der zweite Teil seiner Harlem-Trilogie, der vom schwarzen Möbelhändler und Ganoven Ray Carney erzählt, der im Harlem der Siebziger einigermaßen ehrlich zu überleben versucht. Eine "schwindelerregende" Gangsterkomödie, die Quentin Tarantino in nichts nachsteht, meint Stefan Michalzik in der FR. Hingewiesen sei unbedingt auch auf den Debütroman von Toni Morrison "Sehr blaue Augen" (bestellen), der erstmals 1970 erschien. Erzählt wird die Geschichte des Mädchens Pecola, das in den 1940ern in einem Nest in Ohio aufwächst. Der Roman ist damals wie heute verstörend, meint Sigrid Löffler in der Welt, und so radikal ist in seiner Wahrnehmung schwarzer Selbstverachtung wie in seiner neuartigen komplexen Erzählweise.


Die Geister der Erschlagenen

Amir Gudarzi floh im Jahr 2009 vor Gewalt und Unterdrückung aus dem Iran, seitdem lebt er in Österreich. Seinen Debütroman "Das Ende ist nah" (bestellen), der auch von den Protesten im Iran 2009 erzählt, nicht auch autobiografisch zu lesen, ist daher gar nicht einfach. So beeindruckt wie bedrückt lesen die KritikerInnen die Geschichte um den Studenten A., der im Wiener Exil auf eine von Armut und Gewalt geprägte Jugend im Iran, Demütigungen in österreichischen Sammelunterkünften, Schwarzarbeit und den alltäglichen Rassismus der Aufnahmegesellschaft blickt. Vor allem staunen sie, wie Gudarzi die verschiedenen Formen von Gewalt einander gegenüberstellt. In der FAZ hebt Martin Lhotzky neben Gudarzis feinsinnigem Humor vor allem die mal poetische, mal rasante Sprache hervor. Ein hartes, schonungsloses Debüt, das Petra Pluwatsch in der FR empfiehlt. Ein Buch, das lange nachhallt, lobt Thomas Hummitzsch in der taz.

Empfohlen werden außerdem Tijan Silas autobiografischer Roman "Radio Sarajewo" (bestellen), in dem Sila, in Sarajewo geborener deutscher Autor, von einer Kindheit im Jugoslawienkrieg erzählt. Als der Krieg ausbricht, ist der junge Tijan elf Jahre alt, im Roman schreibt er von der "großen Apokalypse des Lärms". Der Kampf ums Überleben sorgt dafür, dass das Kind das Weinen verlernt, seine einzige Verbindung zur Außenwelt ist ein Radio, dessen unterschiedliche Frequenzen auch den Text in seiner Fragmentiertheit, seinem Fokus auf Impressionen, zu bestimmen scheinen, erklärt Paul Jandl, der in der NZZ vor allem Silas kluges und unmittelbares Erzählen lobt. Auch taz-Kritikerin hebt hervor, wie es Silas gelingt, den Krieg aus der Perspektive des Kindes zu schildern. Und Zoltan Danyis von Terezia Mora ins Deutsche übersetzter "Rosenroman" (bestellen), der uns vor dem Hintergrund der Jugoslawienkriege von einem namenlosen Helden erzählt, der unter einer Zwangsstörung leidet und sein Leben durch akribische Beschreibung schmerzhafter, auch intimer Details wieder in Gang zu setzen versucht. NZZ-Kritiker Jörg Plath zieht Vergleiche mit Imre Kertész und Kafka.


Aus der Erinn'rung dunkelgrünen Räumen

Cordelia Edvardson ist Holocaust-Überlebende und die Tochter der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer. Ihr Erinnerungsbuch "Gebranntes Kind sucht das Feuer" (bestellen) war 1986 erstmals in deutscher Übersetzung erschienen. Eine "Erschütterung" und "ein großes Geschenk" nennt Welt-Rezensentin Gisela Trahms das Buch, in dem Edvardson, Tochter eines jüdischen Vaters und einer nichtjüdischen Mutter, von ihrer Kindheit mit ihrer alleinerziehenden Mutter in Berlin erzählt, von ihrer Deportation, ihrer Zeit im KZ, dem Überleben, dem Exil in Schweden und Israel, und auch von jener "Wahl, die keine war" - wie sie selbst es ausdrückt: Als Mutter und Tochter nämlich in Berlin von der Gestapo vor die Entscheidung gestellt werden, wer bleiben darf und wer deportiert wird, spürt die Tochter die unausgesprochene Weisung der Mutter, resümiert Trahms, die das rigoros ehrliche Buch nachhaltig bewegt hat. In der FAZ verdankt Stephan Opitz dem Buch auch einen neuen Blick auf die oft etwas überschätzte Neutralität Schwedens. Nicht zuletzt lobt er Ursel Allensteins Neuübersetzung und Daniel Kehlmanns Nachwort.

Unter den Franzosen der Saison sind es vor allem zwei Entdeckungen, auf die wir aufmerksam machen wollen: Als echten Sensationsfund würdigt NZZ-Kritiker Paul Jandl Louis-Ferdinand Celines in dessen Nachlass entdeckten Roman "Krieg" (bestellen), der nun erstmals in brillanter Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel auf Deutsch vorliegt. Dass Celine, Antisemit und Vichy-Unterstützer, eine ziemlich unerträgliche Gestalt war, verschweigen die Kritiker nicht. Aber er war eben auch ein Genie, meint etwa Maximilian Mengeringhaus im Dlf Kultur, der diesen Roman über einen Soldaten im Ersten Weltkrieg, der im Lazarett zum hemmungslosen Zyniker wird, als Schlüssel zu Celines Werk versteht. Auch der in der FAZ rezensierende Medienwissenschaftler Andreas Bernard will Kunst und Moral keineswegs gleichsetzen: Meisterlich findet er, wie Celine "Granatsplitter in den Bewusstseinsstrom" streut. Als echte Wiederentdeckung wurde auch Raymond Radiguets erstmals 1923 erschienener Debütroman "Den Teufel im Leib" (bestellen) empfohlen, der von einer skandalösen Liebe erzählt: Der fünfzehnjährige Francois liebt die etwas ältere Marthe. Während ihr Verlobter an der Front kämpft, beginnen die beiden eine einjährige Affäre, von der das ländliche Umfeld schnell Wind bekommt. Erfrischend wie ein Schwall Meerwasser scheint Niklas Bender in der FAZ der Roman des damals 18-jährigen Autors, das für ihn zudem durch reduzierte und kraftvolle Sprache und präzise psychologische Beobachtungen besticht. Claude Autant-Laras Verfilmung von 1947 mit Gerard Philipe findet man übrigens (mit englischen Untertiteln) bei Youtube.

Vom friedlichen Zusammenleben im Weichselstädtchen Kazimierz Dolny berichtet Maria Kuncewiczowa in ihrem 1933 erstmals erschienenen Roman "Zwei Monde" (bestellen). Die titelgebenden "Zwei Monde" stehen dabei für die Gegensätze, die dort immer wieder aufeinanderprallen - Stadt und Dorf, Juden und Christen, Männer und Frauen, weiß Jörg Plath in der FAZ: "Mit hübschen Sehnsuchtsfalten gealtert" scheint ihm dieser Roman. Als wichtige Wiederentdeckung gilt den Rezensenten auch Fanny Lewalds doppelt empanizpatorischer Roman "Jenny" (bestellen) aus dem Jahr 1843. Die Hauptfigur Jenny entstammt einer zunächst glücklichen, wohlhabenden Familie. Es ist allerdings auch eine jüdische Familie in einer zutiefst antisemitischen Gesellschaft. Lewald, selbst Jüdin, zeichnete ein faszinierendes Frauenporträt, das vom Kampf um Selbstbestimmung geprägt ist, lobt im Dlf Kultur Manuela Reichart. In der FAZ empfiehlt Manuel Paß den Roman auch wegen Lewalds großem Gespür für "Ambivalenzen und Widersprüche".


Das waren die Romane der Saison. Weitere Empfehlungen finden Sie in Angela Schaders Kolumne "Vorworte" und unseren Bücherbriefen der vergangenen Monate.