Efeu - Die Kulturrundschau

Außerdem wollte er nicht schwitzen

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25.08.2021. "Die Rolling Stones sind Geschichte", verkündet die SZ mit dem Tod ihres Schlagzeugers, des stets gut gekleideten Charlie Watts. Der Tagesspiegel erzählt, wie Matthias Lilienthal und der libanesische Künstler Rabih Mroué mit dem Festival "This Is Not Lebanon" das zusammengebrochene Land wiederaufrichten wollen. Die FAZ stößt mit der polnischen Künstlerin Agnieszka Polska auf die Partisanen der Gegenmoderne. Der Filmdienst huldigt Guy Gilles' Kino der Entwurzelung. Und Slate blickt demoralisiert auf Spike Lees 9/11-Doku, die auch weidlich Verschwörungstheoretiker zu Wort kommen lässt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.08.2021 finden Sie hier

Musik

"Ladies and Gentlemen, die Rolling Stones sind Geschichte", verkündet Willi Winkler in der SZ nach dem Tod von Charlie Watts, dem Schlagzeuger der Band. Watts wurde zur "Herzmaschine" der Band, obwohl er eigentlich nicht viel auf den Rock gab, wie Winkler weiß, Watts bevorzugte Jazz und schwärmte für Charlie Parker und Benny Goodman: "Die Band, die nie 'ein Rock'n'Roll-Unternehmen' sein wollte und doch das größte aller Zeiten wurde, war ihm zu wenig sophisticated, außerdem wollte er nicht schwitzen. Merkwürdigerweise gelang ihm das. Der Vater, viel mehr working class geht fast nicht, war Lastwagenfahrer, der Sohn wollte es besser haben und brachte es mehrmals zum bestangezogenen Mann nicht nur im Popbusiness. Die Savile Row mit ihren maßgeschneiderten Anzügen war ihm wesentlich lieber als der Rock'n'Roll-Zirkus, noch ein Hotel in noch einem amerikanischen Hinterwäldlerkaff, wo ihnen die weiße Bürgerwehr zusetzte, wenn sie es wagten, mit den Schwarzen zu improvisieren." Handwerklich gesehen war Watts nicht unbedingt ein Virtuose, räumt Harry Nutt in der Berliner Zeitung ein, aber doch ein echter Rolling Stone: "Zumindest in musikalischer Hinsicht betrachtete ihn Keith Richards stets als Geistesverwandten. 'Wenn er auf der Hi-Hat die Ride-Pattern spielt', so befand Richards einmal, 'dann arbeitet er gerade schlampig genug, damit sein eigener Sound vollkommen mit den schmutzigen Gitarrenklängen verschmilzt'."Weitere Nachrufe in Tsp, NZZ und Standard.

Rapper füllen in Mali Fußballstadien, Rapperinnen bekommen dagegen kaum einen Fuß in die Tür, weiß Jonathan Fischer in der NZZ, der sich umso lieber mit Ami Yerewolo trifft, die gerade ihr neues Album "AY" vorgelegt hat: "Das Meisterwerk wurde vom Kameruner Blick Bassy in Paris produziert und unterlegt Yerewolos Selbstbehauptungs-Raps mit einer Mischung aus Elektronik, afrokaribischen Beats, Bläsern, Flöten und traditionellen Melodien. Nie klang die Malierin lässiger - und noch nie so sehr auf der Höhe der Zeit, in der afrikanische Elektro-Spielformen sich ihren Weg in westliche Avantgarde-Klubs bahnen. Ami Yerewolo selbst klingt dabei uralt und urban zugleich." Hier ihr  Video zu "Je gère":



Weiteres: Im Tagesspiegel meldet Gerrit Bartels, dass Johnny Rotten im Rechtssreit um die Verwertung der Sex-Pistols-Songs für eine Netflix-Produktion gegen seine früheren Mitsreiter verloren hat. Besprochen werden ein Bach-Konzert des Pianist Daniil Trifonov bei den Salzburger Festspielen (SZ, Standard) und das Debütalbum "Strung Figures" der kanadischen Produzentin Kristen Gallerneaux (taz).

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Kunst

Als Kommentar zur "Autokratisierung" Polens durch die PiS-Regierung versteht Alexandra Wach in der FAZ die Ausstellung "Der Millennium-Plan" von Agnieszka Polska im Warschauer Museum für Moderne Kunst. Polska zeigt eine Videoinstallation, in der zwei Ingenieure Anfang der 50er Jahre bei der Elektrifizierung des Landes auf zwei Partisanen der Untergrundarmee treffen, die für die Wiederherstellung des Vorkriegssystems kämpfen, resümiert Wach: "Polska lässt sie als Repräsentanten jener antikommunistischen und nicht selten auch antisemitischen 'verstoßenen Soldaten' agieren, die spätestens unter der PiS-Regierung ins Zentrum der konservativen Erinnerungskultur gerückt sind, inklusive eines neuen Gedenktags am 1. März. Die zwei Lager des Quartetts schließen sich ideologisch eigentlich aus und treffen doch außerhalb der städtischen Strukturen zwischen Himmel, wilden Tieren und üppig wachsenden Gräsern zum Duell aufeinander, ähnlich wie das heutige Polen unversöhnlich in eine pro- und antiwestliche Sphäre geteilt ist. Um die Kontrahenten doch noch zusammenzubringen, lässt Polska beide den Versprechungen der Elektrizität affirmativ begegnen, bringe sie dem Land doch einen Fortschritt, der den Lebensstandard verbessere."

"Ich habe Angst, (…) dass sich so etwas wie der 11. September wiederholen könnte, sagt im Monopol-Gespräch der französische Fotograf Pascal Maitre, der seit 30 Jahren regelmäßig nach Afghanistan reist und seine Faszination und Sorge um das Land erklärt: "Afghanistan ist ein starkes Land mit einem starken Charakter, aber auch mit seinen Problemen. Etwa die Unterdrückung der Frauen, die schon vor dem Aufstieg der Taliban bestand. Ich traf hin und wieder Frauen, die zu mir sagten: 'Als die Taliban kamen, mussten wir uns hinter einem Schleier verbergen. Aber weißt du, was noch schlimmer ist, als einen Schleier zu tragen? Vergewaltigt zu werden.' Sie spielten damit auf die Herrschaft der Mudschaheddin vor den Taliban an. Und das ist auch der Grund, warum es für die Taliban anfangs so einfach war, die Kontrolle zu übernehmen: weil das Land bereits in einem großen Chaos versunken war und die Bevölkerung froh war, dass jemand versuchte, die Strukturen wieder aufzubauen, Gesetze zu erlassen und so weiter."

Außerdem: Der Verein Die Vielen, ein Zusammenschluss aus Kulturinstitutionen aus ganz Deutschland, kritisiert in einem offenen Brief mit dem Titel: "Kunstfreiheit darf nicht auf die Terrorliste" die Ermittlungen des Berliner LKA gegen das Kunst und Politikkollektiv Peng, das auf einer Website Orte und Denkmäler mit kolonialer Vergangenheit zusammenträgt, meldet die taz. Im Perlentaucher-Fotolot besucht Peter Truschner die Ausstellung "Elfie Semotan: Haltung und Pose" im Kunsthaus Wien und hält fest: Man muss sie nicht gleich zur Revolutionärin hochstilisieren, um zu verstehen, dass Semotan eine bedeutende Modefotografin und eine sensible Porträtistin ist.

Besprochen werden Adrian Schiessers und April Gertlers Neuköllner Kunstprojekt "WIRWIR" in der Stuttgarter Straße 56 (taz), die Ausstellung "Landschaft II" in der Berliner Galerie Tammen (Tagesspiegel), die Ausstellung "Eine tropische Stimmung, nur um einiges kühler" mit Werken von Monika Brandmeier in der Zitadelle Spandau (Tagesspiegel).
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Bühne

Bild: Ali Eyal: "Don't let the beautiful colors fool you, who would draw Goofy inside the rooms of grownups?" Foto: Samar Al Summary

Der Libanon ist "quasi vollständig zusammengebrochen", sagt Matthias Lilienthal im Tagesspiegel zu Patrick Wildermann. Deshalb hat der Berliner Intendant nun gemeinsam mit Anna Wagner und dem libanesischen Künstler Rabih Mroué das Festival "This Is Not Lebanon" am Frankfurter Mousonturm kuratiert, das die Kulturproduktion im Libanon wieder anschieben soll, berichtet Wildermann: "Marwa Arsanios besucht in der Videoinstallation 'Who Is Afraid of Ideology?' den Olivenhain ihrer Familie im Norden des Landes, um Fragen nach Geld, Besitz, Grund und Boden zu stellen. Bassem Saad und Sonja Grozdanic untersuchen das Agieren des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, unter anderem am Beispiel des Sondertribunals, das die Ermordung des früheren libanesischen Premieres Rafik Hariri aufklären soll. Und Noor Abed und Mark Lofty, Künstler:innen aus Ramallah und Alexandria, erzählen von einem, der früher der Hamas nahestand, inzwischen aber Waffentraining für die Amerikaner macht. Anpassungsfähigkeit ist ja auch eine Kunst."

Nicht nur das traditionelle Open-Air-Theater "Shakespeare in the Park" spielt dieses Jahr in komplett schwarzer Besetzung, auch am Broadway sind gleich sieben Stücke von schwarzen KünstlerInnen zu sehen, stellt Barbara Behrendt in der taz fest und fragt deshalb die schwarzen New Yorker Theatermacherinnen Nia Farrell und Talia Paulette Oliveras, ob sie an eine Zeitenwende glauben. Nia antwortet, die kulturellen "Gatekeeper", die Produzenten mit dem Geld, seien nach wie vor: weiß. "Nia und Talia kennen die Gerüchte und Mutmaßungen: Die schwarzen Autorinnen würden absichtlich in der unsicheren Pandemie-Saison an den Start geschickt, weil jederzeit alles im Lockdown verschwinden kann; bei Startschwierigkeiten, die Corona geschuldet sind, könne man alles auf die Autor:innen schieben. Und trotzdem, sagt Talia, 'ist die Pandemie dafür verantwortlich, dass die Debatten um Zugänglichkeit für Schwarze Künstler:innen jetzt so vehement geführt werden. Das wäre im laufenden Betrieb anders verlaufen'."

Außerdem: Hingerissen berichtet Egbert Tholl vom Zürcher Theaterspektakel, das ihm vor allem dank "La Balsada" des kolumbianischen Mapa Teatro in Erinnerung bleiben wird: "Während die deutschsprachigen Stadttheater sich abgezirkelt der Notwendigkeit von Diversität annähern, knallen die Kolumbianer einfach ihren wütenden, historisch tradierte und gesellschaftliche determinierte Rollenbilder vernichtenden Karneval hin, in dessen Filmbildern man bald nicht mehr unterscheiden kann, ist das Krieg oder ein Fest." Besprochen wird das Rossini-Festival in Pesaro (Welt).
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Literatur

"Vorbildlich ausgewogen" nennt Marie Schmidt in der SZ die Longlist zum Deutschen Buchpreis, die gestern bekannt gegeben wurde, obwohl ihr dann doch ein Missverhältnis auffällt: "Eher wenig kleine Verlage stehen mit Titeln auf der Liste, aber die großen Publikumsverlage konnten ihre Kandidaten platzieren." Die taz sieht in der Liste vor allem auch eine Vielfalt von Schreibweisen präsentiert.

Weiteres: Nicolas Freund fragt in der SZ, wieviel Propaganda in Cixin Lius "Trisolaris"-Romanen steckt, von denen gerade die Comic-Version erscheint. Besprochen werden Eva Menasse Roman "Dunkelblum" (SZ) und Heinz Strunks Roman "Es ist immer so schön mit dir" (FR).
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Film

Guy Gilles' ""Le clair de terre"


In Deutschland ist der französische Regisseur Guy Gilles nahezu unbekannt geblieben, seufzt Stephan Ahrens in Filmdienst und empfiehlt nachdrücklich die kleine Reihe auf Mubi zum poetischen Werk des eigenwilligen Regisseurs: "In diesem Sinne gelang Gilles ein emblematisches (Früh-)Werk der Nouvelle Vague im Sinne der Forderung von François Truffaut, dass Regisseure ein 'Kino der ersten Person' kreieren müssten, in dem sie erzählen, was sie erleben. Gilles' frühe Filme korrelieren mit einem Gefühl der Entwurzelung, der melancholischen Sehnsucht nach etwas Verlorenem. 1958 verließ der 20-jährige Gilles Algerien und zog nach Frankreich. Er teilte die Erfahrung vieler als pieds noirs bezeichneter Franzosen, die die sich in die Unabhängigkeit kämpfende Kolonie verließen. Gilles ist aber nicht nur ein Flüchtender, er kam nach Paris, um Filmemacher zu werden. Dort traf er auf François Reichenbach, dessen konzentriert-ruhiges Kino heute ebenso im Schatten der großen Namen der Nouvelle Vague steht wie das von Guy Gilles."

Bereits am Montag hatte die NY Times Spike Lee vorgeworfen, dass er in seiner vierteiligen HBO-Doku zum 11. September "NYC Epicenters 9/11-2021½" auch Richard Gages "Architects & Engineers for 9/11 Truth" breiten Raum gewährt, die seit Jahren die Verschwörungstheorie verbreitet, die New Yorker Zwillingstürme seien durch eine kontrollierte Sprengung zum Einsurz gebracht worden. Für Slate hat sich Jeremy Stahl den Part kommen lassen: "Was ich fand, war surreal und demoralisierend. Lee widmet 30 Minuten am Ende seiner Serie der Wiederholung von Argumenten, die schon tausendmal entlarvt wurden. Konkret präsentiert er etwa ein Dutzend Verschwörungstheoretiker und Mitglieder von Gages Gruppe, einschließlich Gage selbst, in einem Wechsel mit drei glaubwürdigen Wissenschaftlern, die die Anschläge vom 11. September 2001 untersucht haben, so als würde es eine unentschiedene Debatte über die Wahrheit hinter 9/11 geben."

Besprochen werden Torsten Körners Dokumentarfilm "Die Unbeugsamen" über die Politikerinnen der Bonner Republik (SZ), Pietro Marcellos Jack-London-Verfilmung "Martin Eden" (FAZ) und Lisa Joys "Reminiscence" (Critic).
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