Efeu - Die Kulturrundschau

Schule aller Schändlichkeiten

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09.03.2018. Dass Bach die ideale Voraussetzung für die brachial-erotischen Kräfte des Jazz geschaffen hat, lernt die SZ vom Jazzpianisten Brad Mehldau. Die taz sieht in Leipzig beste Voraussetzungen für ein Handgemenge zwischen Linken und der neurechten Verlagsszene. Die FAZ bewundert Schimmer, Glanz und Leben in den Porträts des spanischen Impressionisten Joaquín Sorolla. Die Gleichsetzung von Schauspielerinnen und Prostituierten ist uralt, erklärt der Romanist Gerhard Poppenberg in der FAZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.03.2018 finden Sie hier

Kunst


Joaquín Sorolla, Elena in a yellow robe, 1909. Private collection

Einfach hingerissen steht Paul Ingendaay (FAZ) vor siebzig Porträts des Impressionisten Joaquín Sorolla (1863 bis 1923), die das Museum Thyssen Bornemisza in Madrid für eine Ausstellung versammelt hat: "Sorollas Palette kennt das Opulente und das Schlichte. Mutig setzt der Maler seine Lichtpunkte, holt die Porträtierte nach vorn, legt Schimmer in ihre Augen und zaubert Leben auf ihre Haut. Kleidung ist so wichtig, dass er den Kopf der Porträtierten manchmal aber auch in den Halbschatten rückt. Bei alldem injiziert Sorolla eine ansteckende Vitalität, die wenig mit dem Lebensalter zu tun hat. Es ist erkennbar die Garderobe, die ihn befeuert. Das flutet, fällt und fließt, es schimmert, zittert, atmet."

Standard-Kritikerin Anne Katrin Fessler lässt sich bei einer Führung durch das Kunsthistorische Museum in Wien von der Kunsthistorikerin Andrea Marbach erklären, warum es richtig und wichtig ist, den Blick auf Frauenkörper auch in der Kunst anzusprechen: "Die #MeToo-Bewegung hat die Wahrnehmung sensibilisiert, bestätigt die Kunsthistorikerin Andrea Marbach, die seit 19 Jahren Führungen in der Gemäldegalerie im Kunsthistorischen Museum (KHM) macht: 'Man muss das Thema nur ganz zart ansprechen', dann formuliert das Publikum andere Sichtweisen. Kritik daran, dass auf maskuline Bildpolitiken in den Saaltexten nicht hingewiesen wird, hagele es jedoch nicht. #MeToo sei ja noch jung."

Besprochen werden eine Parcours-Kunstperformance der Gruppe "wenn es soweit ist" im Kunsthistorische Museum in Wien (Standard) und die Schau "Stepping Stairs" der Bildhauerin Judith Hopf in den Berliner Kunstwerken (FAZ).
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Musik

Beileibe nicht uninteressant oder gar abwegig findet es SZ-Kritiker Helmut Mauró, wenn sich etwa der Jazzpianist Brad Mehldau auf seinem neuen Album Bach zuwendet. "Mehldau verlängert den Gestus der Bachschen Melodik, führt also nicht die Melodie nach deren Gesetzen weiter, sondern lässt sie ins entgrenzte Outback entgleiten. Es klingt noch ein bisschen wie das Original, aber das rhythmische Profil wird unscheinbarer, die Harmonien verlieren sich ins Unbestimmte, die Tonreihen sind vom eigentlich Melodischen abstrahiert." Und schließlich "hat Bach vorhandene Dogmen bis zur Unangreifbarkeit perfektioniert und damit die ideale Voraussetzung für die brachial-erotischen Kräfte des Jazz geschaffen." Hier eines von Mehldaus Bachkonzerten.

Maria "Mascha" Aljochina, Punkmusikerin und Mitbegründerin des russischen Protestkunstkollektivs "Pussy Riot", erklärt im Interview mit dem Standard, was außer ihrer Konzerttour "Riot Days - Story Of Protest And Resistance" sie gerade noch beschäftigt: "Ich habe vor allem meine momentane politisch-künstlerische Hauptkampagne fortgesetzt: 'Freiheit für Oleg Senzow!' Senzow ist ein ukrainischer Filmemacher, der derzeit eine zwanzigjährige Haftstrafe unter verschärften Bedingungen in einer russischen Strafkolonie verbüßt. Und das nur deshalb, weil er gegen Putins Annexion der Krim protestierte."

Moderne Musiker lernen sich im Internet kennen und vernetzen sich "in Musikforen und in den Kommentarspalten von YouTube", wie Julia Lorenz die Gründungsgeschichte der interkontinentalen Band Superorganism in der taz erklärt. Deren "Debüt trägt die DNA einer Kindheit und Jugend zwischen Neunzigern und Nullerjahren, geprägt von Nintendo64 und Klingeltonwerbespots. Superorganism vertonen - wie man vielleicht nicht erwarten würde - das Lebensgefühl der Prä-Spotify-Ära." Heraus kommt dabei "süßer, zurückgelehnter Pop." Hier das neue Video:



So enttäuschend fällt das Debütalbum "Everything Is Recorded" von Produzentenlegende Richard Russell aus, dass SZ-Kritiker Jan Kedves die Zeilen lieber dafür nutzt, um nochmal Russells frühere Glanztaten in den Neunzigern mit dessen Label XL Recordings in Erinnerung zu rufen. Im Video zur Single "Mountains of Gold" tummeln sich immerhin einige schöne Gastauftritte:



Weitere Artikel: Anastasia Belina erinnert im Guardian an in Vergessenheit geratene Komponistinnen, darunter Augusta Holmès. In der NZZ porträtiert Hans Keller die Sängerin Gal Costa. Barbara Volkwein führt in der Neuen Musikzeitung durch die Streaming-Angebote für Klassikkonzerte. Zur heutigen Beisetzung des Trikont-Machers Achim Bergmann bringt die taz weitere Nachrufe von Robert Mießner (hier) und des Musikers  und Poptagebuchschreibers Eric Pfeil (hier). Steen Lorenzen spricht im Tagesspiegel anlässlich David Byrnes neuen Albums "American Utopia" mit dem Musiker unter anderem über Utopien. Für die SZ besucht Jonathan Fischer den britischen Produzenten und Labelmacher Chris Rockwell, der mit seiner Arbeit die Musik Jamaikas in die Welt vermittelt hat. Das Ende der Printausgabe des britischen, ab heute nur noch online erscheinenden Musikmagazins NME stellt eine Zäsur dar, meint Gerrit Bartels im Tagesspiegel, und Tony Parsons fürchtet in der Berliner Zeitung: "Der Schritt ins Digitale ist "der erste Schritt ins Grab". Auf ZeitOnline bespricht Fabian Wolff das Album. Hier ein Video daraus:



Besprochen werden außerdem ein Auftritt von Bariton Florian Boesch mit Malcolm Martineau am Klavier (Standard), ein Haydn-Abend mit dem Tonhalle-Orchester (NZZ) und ein Auftritt von Franz Ferdinand (Berliner Zeitung).
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Design

In der NZZ lobt Roman Bucheli die Krawatte, ohne die sich der Bildhauer und Maler Alberto Giacometti nie blicken ließ, auch nicht in Momenten größter Materialnähe. Dank der Foodies im Netz und deren Instagram-Bilderstrecken liegt gutes Porzellan wieder im Trend, erklärt Nikolas Feireiss im ZeitMagazin.
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Literatur

Auf der Leipziger Buchmesse könnte es wieder zu Handgemengen zwischen Linken und der neurechten Verlagsszene kommen, glaubt René Loch für die taz Leipzig. Auf der einen Seite ist "das Bündnis 'Verlage gegen Rechts', dem nach eigenen Angaben derzeit 65 Verlage sowie 160 Einzelpersonen und Initiativen angehören. Am Abend vor Beginn der Buchmesse möchte dieses eine Kundgebung unter dem Motto 'Meinungsfreiheit nutzen, Rechten widersprechen' abhalten. Während der Buchmesse will die Initiative zahlreiche Lesungen und Diskussionen zu Themen wie Feminismus, Rassismus und der Situation in Ostdeutschland durchführen. Zudem soll es eine Veranstaltung zur 'Meinungsfreiheit als Kampfbegriff' geben. Auf der anderen Seite steht unter anderem die Zeitschrift Compact, welche die Stadt 'für die Meinungsfreiheit zurückerobern' möchte und dazu unter anderem den wegen Volksverhetzung verurteilten Autor und Pegida-Redner Akif Pirinçci einlädt."

Weitere Artikel: Der türkische Journalist Ahmet Altan wurde vor wenigen Tagen zu lebenslanger Haft verurteilt - weil er im Fernsehen einen Tag vor dem Putsch "unterschwellige Botschaften" von sich gegeben haben soll. Die SZ hat Altans zuerst in der New York Times erschienenen, literarischen Bericht des Tags seiner Verurteilung übersetzt. Eine bedrückende Skizze mit empathielosen, abwesenden Richtern und Polizisten in Robocop-Rüstung (unser Resümee). Christian Thomas gerät in der FR bei der Ovid-Lektüre ins Nachdenken, was es mit Begriffen undefinierter Zeiträume wie "kürzlich" eigentlich auf sich hat. Hans Magnus Enzensberger fragt sich in der NZZ, wer heute eigentlich noch Nadeln herstellt.

Besprochen werden Alexander Schimmelbuschs "Hochdeutschland" (taz), Virginie Despentes' "Das Leben des Vernon Subutex 2" (Standard, NZZ), Josefine Rieks' "Serverland" (Zeit), die Neuübersetzung von James Baldwins erstem Roman "Von dieser Welt" (online nachgereicht von der FAZ), die Wiederveröffentlichung von Ricarda Huchs Studie "Die Romantik. Blütezeit, Ausbreitung und Verfall" (FR), Matthias Senkels "Dunkle Zahlen" (taz), Emma Glass' Debüt "Peach" (Berliner Zeitung), ein Batman-Comic des italienischen Comickünstlers Enrico Marini (Tagesspiegel), Christoph Nix' Roman "Muzungu" (nachtkritik) und die neue Dauerausstellung "Exil - Erfahrung und Zeugnis" in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main (SZ, online nachgereicht von der FAZ).
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Bühne

Die Gleichsetzung von Schauspielerinnen und Prostituierten ist uralt, schreibt der Romanist Gerhard Poppenberg in einem Hintergrundessay zu #MeToo in der FAZ. Sie geht zurück auf die Antike, wurde in der Kirche tradiert und durch Jean-Jacques Rousseau säkuarisiert: "Rousseaus Brief an M. d'Alembert über die Schauspiele (1758) ist ein Beitrag dazu; er wendet die Argumente der christlichen Theaterverdammung ins Säkulare. Seit Tertullians 'De spectaculis' aus dem zweiten Jahrhundert ist der Vorwurf der moralischen Korrumpierung durch die Stücke stereotyp. Sie sind eine Schule aller Schändlichkeiten. Man muss im wirklichen Leben nur nachahmen, was dort vorgemacht wurde. Vor allem Frauen und Mädchen sind sittlich gefährdet. Sie gehen unschuldig ins Theater und kommen verdorben wieder heraus."

Besprochen werden die Uraufführung von "the Sky above, the Mud below" der Urban Dance Company (Standard) und Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk" in Klagenfurt (Standard).
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Film


Old weird America: Harry Dean Stanton in "Lucky"

John Carroll Lynchs
"Lucky" mit Harry Dean Stanton, der kurz nach der Premiere des Films im gesegneten Alter von 91 Jahren verstarb, begeistert die Kritiker auch weiterhin (ein erster Überblick in unserem gestrigen Efeu). Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche bescheinigt dieser Hommage an den ewigen Nebendarsteller Stanton "einen bittersüßen Beigeschmack, der allerdings schon in der Geschichte angelegt ist. Die Chronik eines angekündigten Todes." In der FR besingt Daniel Kothenschulte das "old weird America", aus dem dieser "Porträtfilm" und dieser Schauspieler seine Kraft bezieht: "Es sollte über jeden geliebten Filmstar solche Filme geben, in denen sie noch einmal Gelegenheit haben, all das zu tun, was sie am besten können." Auch Bert Rebhandl freut sich in der FAZ über diesen "angemessen unsentimentalen, angemessen tiefsinnigen und angemessen altersweisen Film. ... Am Beispiel eines ungewöhnlich gewöhnlichen Erdenbürgers sehen wir, dass die Conditio Humana als solche den besten Trost spendet."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel empfiehlt Katrin Doerksen Filme aus der Hongkong-Reihe des Berliner Kino Arsenals. Besprochen werden die Tragikomödie "Arthur & Claire" mit einem lebensmüden Josef Hader (FR, Tagesspiegel) und der Thriller "Molly's Game" mit Jessica Chastain (SZ).
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