Efeu - Die Kulturrundschau

Erstaunliche Flashbacks

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.02.2024. Die FAZ schlendert durch die Säle des Genfer Musée de beaux arts, die der belgische Konzeptkünstler Wim Delvoye in die schönste Unordnung gebracht hat. In der Türkei diskutiert die Kulturszene nach einem Gerichtsurteil über die Autorin Elif Shafak, ob diese säkular und links genug ist, berichtet die taz. nachtkritik, taz und SZ empfangen an der Schaubühne "Postkarten aus dem Osten". Im Interview mit der Zeit erklärt die polnische Regisseurin Agnieszka Holland über ihr Flüchtlingsdrama "Green Border": Es geht um die Zerbrechlichkeit Europas.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.02.2024 finden Sie hier

Film

Kalibriert den Blick auf die Politik neu: "Green Border" von Agnieszka Holland

Für die Zeit spricht Matthias Krupa mit der Regisseurin Agnieszka Holland über ihr in den vergangenen Monaten im damals noch nationalkonservativ regierten Polen kontrovers diskutiertes Flüchtlingsdrama "Green Border". Der Film erzählt von illegalen Pushbacks polnischer Grenzbeamte von syrischen Flüchtlingen, die von Lukaschenko nach Belarus geflogen und dann gezielt an der EU-Außengrenze abgesetzt werden. Gedreht hat die polnische Autorenfilmerin bewusst ohne Filmförderung und Anträge, um den Film unbemerkt im Schatten produzieren zu können, auch wenn die Dreharbeiten vom Kriegsbeginn in der Ukraine überschattet waren: "Der Krieg war so groß, er kam für viele so überraschend, obwohl er nicht wirklich überraschend war - warum sollte man sich noch für die Geschichte von einigen Geflüchteten in einer obskuren Ecke Europas interessieren? Aber dann habe ich verstanden, dass es sich im Grunde genommen um dieselbe Geschichte handelt. An der Grenze zu Belarus und beim Angriff auf die Ukraine, in beiden Fällen geht es um die Zerbrechlichkeit Europas. Putins Plan, der große geopolitische Hintergrund, ist die Frage: Wie kann man Europa destabilisieren und spalten? Für einen Diktator sind Flüchtlinge billige Waffen, ein Krieg ist viel teurer."

FAZ-Kritiker Bert Rebhandl ist nach diesem Film fix und fertig: "Es ist kaum vorstellbar, dass Menschen diesen Film ruhigen Bluts verlassen. Man kann nicht anders als mitleiden mit den Protagonisten. Was aber vor allem aus 'Green Border' zu lernen wäre: Engagement beginnt nicht auf einem Rettungsschiff im Mittelmeer oder bei Hilfsaktionen in polnischen Wäldern, sondern bei jedem Behördengang, mit jedem Facebook-Post, in jedem Moment von Gesellschaft. Würden Sie jemandem Ihr Auto leihen, wenn diese Person damit der Grenzpolizei ein Schnippchen schlagen wollte? Agnieszka Holland kalibriert unseren Blick auf die Politik neu." Für die FR bespricht Daniel Kothenschulte den Film.

Außerdem: Ueli Bernays sieht für die NZZ die in Russland und in der Ukraine gleichermaßen erfolgreiche Serie "Slovo Patzana" über Straßengewalt in der Sowjetunion. Kracauer-Stipendiat Leo Geisler gibt im Filmdienst einen Ausblick auf seine Artikelserie, in der er sich im kommenden Jahr mit Heist-Filmen auseinandersetzen will: Ihm geht es dabei um den "Übergang von Disziplin zur Kontrolle". Fabian Tietke empfiehlt im Tagesspiegel die Reihe "Jeonju Digital Project" im Berliner Kino Arsenal. Philipp Bovermann erzählt in der SZ von seinem Treffen mit Austropop-Bohemian Voodoo Jürgens, der aktuell in der (in FR und taz besprochenen) Komödie "Rickerl" im Kino zu sehen ist. Jan Brachmann gratuliert in der FAZ der Schauspielerin Christine Schorn zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Christopher Dolls Aussteigerfilm "Eine Million Minuten" (Perlentaucher), die DVD-Ausgabe von Radu Ciorniciucs Dokumentarfilm "Acasa" über eine Roma-Familie (taz), Matthew Vaughns Actionkomödie "Argylle" (Tsp), Marc Turtletaubs Tragikomödie "A Great Place to Call Home" (Standard), Ulrike Wiebrechts Buch "Marlene Dietrich in Berlin" (Tsp), die von Steven Spielberg produzierte Serie "Masters of the Air" (für die SZ online nachgereicht vom TA), die Netflix-Serie "Griselda" (Welt, mehr dazu bereits hier), der auf Arte gezeigte französische Sechsteiler "Hafen ohne Gnade" (FAZ), die Amazon-Serie "Mr. & Mrs. Smith" (Presse), die auf Youtube bereits sehr erfolgreiche, nun noch einmal im TV ausgestrahlte SR-Doku "NS-Ärzte: Ihre Verbrechen, ihre Karrieren" (taz) und Timm Krögers "Die Theorie von allem", der nun auch in der Schweiz startet (NZZ). Außerdem informiert das SZ-Filmteam, welche FIlme sich diese Woche lohnen und welche nicht. Und hier der Überblick mit allen Filmdienst-Kritiken in dieser Woche.
Archiv: Film

Kunst

Wim Delvoye, Ball Track Venus Italica, 2023. © Studio Wim Delvoye


Der belgische Konzeptkünstler Wim Delvoye hat die 16 Säle des Genfer Musée de beaux arts neu zusammenstellen dürfen: Jetzt sitzen Anamorphosen zwischen den antiken Statuen, ein Alu-Reisekoffer steht in der Waffenkammer, Maschinen rattern und eine Murmelbahn fährt durch zwei Picassos. Stefan Trinks (FAZ) ist begeistert! "Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt, scheint Delvoyes von Schiller entlehntes Motto für Genf gewesen zu sein. Tatsächlich entstehen bei diesem 'zärtlichen Vandalismus', wie er den Ikonoklasmus im Interview benennt, getreu der Schumpeter'schen These der 'produktiven Zerstörung', aus alten aufgebrochenen neue recycelte Kunstwerke sowie erstaunliche Flashbacks in der Kombination mit anderen: Neben Hodlers Ausmalungen des Genfer Museums gibt es auch ein monumentales Foto der haushohen Schildvortriebmaschine vom Bau eines Schweizer Tunnels, auf dem die Bohrköpfe wie die schwarzen Löcher in den Piranesis erscheinen. Dass Delvoye einen großen Plan der Vermurmelung der Welt verfolgt, belegen die gezeigten anarchisch-uhrmacherpräzisen Videos 'Der Lauf der Dinge' der Schweizer Künstler Fischli/Weiss sowie ein Film über den New Yorker Altmeister gepflegt-kunstvoller Altbau-Penetrierung mittels Kettensäge, Gordon Matta-Clark."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel gibt Nicola Kuhn eine Vorschau auf die kommende Venedig-Biennale. In der SZ erzählt Jörg Häntzschel die Geschichte des russischen Milliardärs Dmitrij Rybolowlew, der auf dem Kunstmarkt nach allen Regeln der Kunst und mit Hilfe von Sotheby ausgenommen wurde. Das von der BASF gegründete Museum für Lackkunst in Münster schließt heute, meldet Andreas Platthaus in der FAZ. Nicht so schlimm, versichert er, denn die BASF verkaufe ihre Sammlung nicht, sondern überlasse sie dem LWL-Museum.

Besprochen werden die Ausstellungen Sarah Entwistle in der Berliner Galerie Barbara Thumm (BlZ), Dale Grant in der nüüd.berlin gallery (BlZ) und Karim Aïnouz' "Blast!" in der Kreuzberger DAAD Galerie (Tsp).
Archiv: Kunst

Literatur

Die türkische Literaturszene diskutiert heftig über ein Gerichtsurteil gegen Elif Shafak, berichtet Jürgen Gottschlich in der taz: Die Schriftstellerin soll 2002 in ihrem ersten Erfolgsroman "Läusepalast" diverse Passagen aus der 1990 erschienenen Novelle "Fliegenpalast" der Journalistin Mine Kırıkkanat übernommen haben. In dem Konflikt geht es aber wohl um mehr, "was auch die große Anteilnahme an der Auseinandersetzung zeigt. Mine Kırıkkanat ist eine moderne Kemalistin, die für das Säkularitätsprinzip in der türkischen Gesellschaft kämpft und die Islamisierung, wie die regierende AKP unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan sie betreibt, entschieden ablehnt. Sie und ihre Unterstützer werfen Elif Shafak vor, mit dem Islam und Islamismus immer wieder geflirtet zu haben und nicht zuletzt damit zum Erfolg gekommen zu sein." Auch habe Shafak bei der an sich eher linksliberalen Bewegung "Yetmez ama evet" mitgemischt: "Die Bewegung begrüßte die Justizreform, nach der die Politik das letzte Wort bei der Ernennung der obersten Richter haben sollte. Säkulare sahen darin einen Eingriff in die Gewaltenteilung. Im Rückblick ist klar, dass dieses Referendum die Grundlage für Erdoğans autoritative Politik legte."

Weitere Artikel: Tilman Krause (Welt), Wilhelm von Sternburg (FR) und Sandra Kegel (FAZ) erinnen an Hugo von Hofmannsthal, der heute vor 150 Jahren geboren wurde. Im Tagesspiegel-Fragebogen gibt der eben beim Comicfestival Angoulême ausgezeichnete Zeichner und Autor Jeremy Perrodeau über sich Auskunft.

Besprochen werden unter anderem Barbara Yelins Comic "Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung" (online nachgereicht von der FAZ), Susanne Stephans Studie "Der Held und seine Heizung" (Jungle World), Josephine Teys "Wie ein Hauch im Wind" (FR), Alex Capus' "Das kleine Haus am Sonnenhang" (TA), Bodo Kirchhoffs "Seit er sein Leben mit einem Tier teilt" (Zeit) und Yavuz Ekincis "Das ferne Dorf meiner Kindheit" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Bühne

Postkarten aus dem Osten, Foto: © Gianmarco Bresadola, 2024


An der Berliner Schaubühne versenden die ukrainischen Theatermacher Pavlo Arie und Stas Zhyrkov Postkarten aus dem Osten, oder eigentlich eher die Gäste des Einweihungsdinners in einer Berliner Altbauwohnung, zwei Deutsche, zwei Ukrainer, die sich aus Mariupol kennen. Man plaudert über Kunst und Krieg. Es ist eine "große Leistung des Abends" dass man danach sofort weiterdiskutieren kann, meint in der taz Katja Kollmann. "Alle vier verbindet eine jahrelange Freundschaft, die Liebe zur Ukraine und der Schmerz um den möglichen Verlust von Mischa, Ehemann von Nastja und enger Freund der anderen. Er kämpft an der Front. Immer wieder spielen die vier wie im Stakkato. Akustisch wird dieses entfesselte Spiel begleitet durch ein Geräusch, das an eine Videokassette im Vorspulmodus erinnert. Regisseur Stas Zhyrkov setzt dieses Stilmittel ein, wenn die Figuren sich gegenseitig Normalität vorspielen. Denn Maria, Lukas, Nastja und Orest können ihre Ohnmacht, Trauer und Verzweiflung nicht in Gesellschaft ausdrücken. Nur wenn sie alleine sind, bricht es aus ihnen heraus. So entstehen vier Szenen mit einer bedrückenden Intimität, in der die Bühne einer einzelnen Figur gehört."

Und da nun mal zwei Deutsche dabei sind, kommt auch die Kollaboration der ukrainischen Nationalisten mit der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg zu Sprache, erzählt nachtkritikerin Esther Slevogt, "von der sie sich nationale Unabhängigkeit von der Sowjetunion erhofften. Verbrechen ukrainischer Nationalisten an der polnischen und jüdischen Bevölkerung. Hier wird bald auch zwischen den beiden ukrainischen Mitgliedern des Freundesquartetts ein Riss unübersehbar: Während Orest sich stärker mit ukrainisch-nationalistischen Positionen identifiziert, Holodomor oder die Ausrottung der ukrainischen Eliten durch Stalin thematisiert, rückt Anastasia die jüdisch-ukrainische Perspektive ins den Vordergrund. Erzählt, wie mörderisch sich der ukrainische Nationalismus auf das Schicksal der Juden ausgewirkt hat." Auch SZ-Kritiker Peter Laudenbach fand den Abend anregend: "Dass der Text dabei etwas überkonstruiert wirkt, dass das Spiel ab und zu die Grenze zum Kabarett streift, schmälert die Härte und bittere Komik dieses tiefenscharfen Blicks auf die Widersprüche einer vom Krieg veränderten Wirklichkeit nur geringfügig."

Weitere Artikel: Simon Strauß unterhält sich für die FAZ mit dem belgischen Regisseur Ivo Van Hove, neuer Leiter der Ruhrtriennale: "Es wird unter meiner Leitung kein aktivistisches Festival sein", versichert Hove. "Jeder kann denken, was er will. Aber beim Festival geht es um das, was uns verbindet." In der Berliner Zeitung arbeitet Birgit Walter nochmal die skandalösen Vorgänge um die Staatliche Ballettschule Berlin auf.

Besprochen werden Brigitte Fassbaenders Inszenierung der Strauss-Oper "Elektra" an der Oper Lübeck (FAZ) und Tatjana Gürbacas Inszenierung von Louise Bertins Oper "Fausto" in Essen (van, NZZ).
Archiv: Bühne

Musik

Zwei Meldungen, die sitzen: Wie Variety gestern berichtete, hat der deutsche Musikrechtevertreter BMG offenbar seinen Verlagsvertrag mit Roger Waters wegen dessen umstrittener Aussagen zu Israel und Russlands Angriff auf die Ukraine aufgelöst. Schon der Deal über Waters' Neuaufnahme des Klassikers "Dark Side of the Moon" seiner alten Band Pink Floyd musste bei einem anderen Label erscheinen. "Auch wenn es nichts Außergewöhnliches ist, dass Künstler aus Aufnahmeverträgen 'gedroppt' werden, ist es doch weniger üblich, dass eine Firma einen Veröffentlichungsdeal abschlägt", schreibt dazu Adrian Horton im Guardian. Waters selbst wähnt dunkle Machenschaften im Argen, die sich gegen ihn verschworen haben: "In einem Interview aus dem November des vergangenen Jahres fragt der Journalist Glenn Greenwald Waters, ob er denke, das Massaker der Hamas in Israel könne gerechtfertigt werden", schreibt Jakob Biazza in der SZ. "Waters' Antwort: 'Wir wissen nicht, was sie genau getan haben.' Aber es sei in jedem Fall gerechtfertigt, Widerstand gegen die Besatzung zu leisten. Unklar ist, zu welchem Zeitpunkt der Vertrag mit BMG aufgelöst wurde. Bereits im Interview mit Greenwald, also im November, spricht Waters auch von der 'israelischen Lobby', die versuche, ihn zu canceln. Unter anderem habe sie Druck auf BMG ausgeübt, sein Album nicht zu veröffentlichen. Daraufhin sei die Firma eingeknickt und habe ihn gefeuert. Es ist nicht ersichtlich, ob sich diese Aussage nur auf das Album bezieht, oder auch schon auf den Verlagsvertrag."

Und Meldung Nummer Zwei: Universal zieht seine Musik von der Viralschleuder TikTok zurück, nachdem man sich über die Lizenzbedingungen nicht mehr einig wurde - Martin Fischer im Tages-Anzeiger mit Einzelheiten. Unmittelbarste Folge des geplatzten Deals: Die auf TikTok dauerpräsente Musik von Taylor Swift kann man vorerst nicht mehr legal unter die eigenen Kurzvideos legen. Früher oder später werde man sich aber doch noch einigen, glaubt Joachim Hentzschel in der SZ: Die beiden Streithähne "brauchen einander zu sehr. Ein Videoalltag ohne Swift oder Olivia Rodrigo wäre undenkbar, ebenso ist der Entertainmentkonzern von der viralen Promotion abhängig, die TikTok-User für seine Produkte machen. In zweiter Reihe steht jedoch ein Punkt, der für Universal in Zukunft entscheidender sein könnte als ein paar Nachkommastellen in der Tantiemenquote: die Frage, welche Rolle Plattformen wie Tiktok, Youtube oder Spotify bei einer Regulierung von KI-Inhalten spielen könnten. An einer freilaufenden Challenge, wer via generativer Software den schönsten Swift-Song erschafft, wird Universal garantiert nichts mehr verdienen. Die Schlacht beginnt jetzt und hier." Und Apropos Taylor Swift: Der immens populäre Popstar gilt in manchen irren Milieus der USA mittlerweile als Geheimagentin des Pentagons in Joe Bidens Auftrag, berichtet Nina Rehfeld auf FAZ.net.

Außerdem: Die Juristin Antonia Bruneder erklärt im Standard-Gespräch, warum die Justiz mit Gangsta-Rap oft überfordert ist. Konstantin Nowotny plaudert für die taz mit Olli Schulz, dessen neues Album dieser Tage erscheint. Thomas E. Schmidt schreibt in der Zeit einen Nachruf auf die Folkmusikerin Melanie.
Archiv: Musik