Efeu - Die Kulturrundschau

Auch die in Frakturschrift brüllenden Goten

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25.03.2020. Große Trauer herrscht in den Feuilletons um Asterix-Zeichner Uderzo: ZeitOnline verabschiedet einen großen Europäer. Libération erinnert daran, dass der Vater des berühmtesten aller Gallier der Sohn italienischer Einwanderer war, der sich in der Pariser Banlieue gegen Linke zu wappnen lernte. SZ und Standard trauern zudem um Afro-Jazz-Pionier Manu Dibango, der kongolesischen Rumba in dampfende Kompositionen wandelte. Die FR fragt sich, warum Disneys neuer Streamingdienst so kleinmütig startet. In der NZZ empfiehlt Graham Swift, jetzt am besten Daniel Defoes "Pest zu London" zu lesen. Und der Tagesspiegel beobachtet in Guadalajara die Wiederbelebung der mexikanischen Moderne.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.03.2020 finden Sie hier

Literatur

Trauer um Albert Uderzo. (Bild: obs/Egmont Ehapa Media GmbH/Thierry Monasse)

Ganz Gallien - ja, ganz Gallien - hat die Fahnen auf Halbmast: Asterix-Zeichner Albert Uderzo ist im gesegneten Alter von 92 Jahren gestorben. In einem epischen Nachruf betont Marius Chapuis in Libération die Ironie, dass der Vater des berühmtesten Galliers Italiener war, zumindest bis er und seine Eltern eingebürgert wurden: "Der Junge wuchs in Clichy-sous-Bois auf und träumte davon, Clown zu werden (vielleicht rührt daher seine Liebe zu großen Nasen). Aus jenen Jahren bewahrte sich Uderzo die Erinnerung, dass er immer nur der Makaroni war, und ein großes Misstrauen gegenüber der Linken: 'Ich habe es nur zu gut kennengelernt, dieses negative Milieu der dreißiger Jahre, die Zeit des Front Populaire, als die Sozialisten und Kommunisten uns nichts ersparten, uns anderen, den italienischen Einwanderern." In Le Monde stellt Frédéric Potet klar, dass dem Zeichner Obelix immer lieber war als Asterix: "Albert Uderzo besaß die gleiche Feinfühligkeit wie Obelix und auch diese Großzügigkeit, die kein Kalkül kannte."

Meist stand er im Schatten des bereits 1977 verstorbenen Asterix-Autors René Goscinny - doch damit tut man Uderzo Unrecht, meint Christian Gasser in der NZZ: "Kaum ein Zeichner brachte so viel Schwung und Schmiss in die Panels. Seine Prügeleien sind beispielhaft für seine zeichnerische Dynamik. Überdies spielte Uderzo einfallsreich mit typografischen Elementen wie Speedlines; und als ein Gestalter, der Lautmalerei auch sichtbar, ja hörbar machen konnte, blieb er lange unerreicht." Was wir über die Zeit kurz vor Jesu Geburt wissen, wissen wir aus Asterix-Comics, schreibt Jens Balzer auf ZeitOnline, der um einen Zeichner von Comic-Gottes Gnaden trauert, dem das Karikaturenhafte ebenso lag wie die Präzision im Detail. Vor allem aber stehe Uderzo für den Aufbruch der Europäischen Gemeinschaft nach dem Krieg: "Welcher andere Zeichner hat es so liebevoll und niemals diskriminierend verstanden, 'nationale Eigenheiten' in Karikaturen zu fassen und diese Karikaturen zugleich zu lebenden, atmenden, eigenständigen Figuren zu machen - man werfe noch einmal einen Blick auf die Briten, die Normannen, die Belgier und ja: auch auf die in Frakturschrift brüllenden Goten."

Neben Knollennasen "beherrschte Uderzo auch die realistische Stilistik der amerikanischen Comicstrips, wie man seiner Fliegerserie 'Michel Tanguy' ansehen kann - auch sie zusammen mit Goscinny erdacht", erinnert Andreas Platthaus in der FAZ. Weitere Nachrufe in Tagesspiegel, taz, Standard, Presse und SZ.

Dieser Tage sollte man Daniel Defoe lesen, so jedenfalls der Ratschlag, den uns der Schriftsteller Graham Swift in der NZZ gibt. Nicht nur "Robinson Crusoe" - ein Klassiker des Isolationsromans -, sondern auch "Die Pest zu London" sollte man griffbereit haben: "Es ist eine erschreckende Lektüre - erschreckend detailliert, voll harscher Fakten und Statistiken, die gelegentlich überraschend nah bei den Nachrichten sind, die wir in diesen Tagen lesen und hören. Menschliches Verhalten wird genauso unbarmherzig beleuchtet wie das Wüten der Krankheit. ... Wenn Sie Defoes Journal lesen, können Sie zumindest einen Trost daraus ziehen: Was uns jetzt widerfährt, ist nicht das Schlimmste, was je geschah."

Außerdem: Der Freitag dokumentiert ein 1990 geführtes Gespräch mit dem Schriftsteller Robert Schernikau darüber, warum er damals vom Westen in den Osten machte. Das Berliner Poesiefestival wandert im Zuge der Coronakrise ins Netz, meldet der Tagesspiegel. Die Welt liefert eine weitere Folge von Thomas Glavinics Corona-Fortsetzungsroman. Im ZeitMagazin dokumentiert Moritz von Uslar den Alltag im Homeoffice. In der FAZ gratuliert Hendrikje Schauer der Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Elizabeth Strouts "Die langen Abende" (Tagesspiegel), Jenny Odells "How To Do Nothing" (Standard), Jens Wonnebergers "Mission Pflaumenbaum" (Freitag), Ulla Lenzes "Der Empfänger" (Zeit), Lisa Sandlins Krimi "Family Business" (FR) und Gertraud Klemms "Hippocampus" (FAZ).
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Architektur

Die alte Biblioteca Pública del Estado vor dem Park Agua Azul. © Moisés Mondragón / Changing Places

In Mexiko können sich die Menschen noch frei bewegen. Für den Tagesspiegel berichtet Philipp Lichterbeck vom Projekt "Changing Places" in Guadalajara, mit dem den Bauten der gescheiterten Moderne neues Leben eingehaucht werden soll, denn bei aller Funktionalität fehlte ihnen meist "die organische Einbindung in ihre Umgebung. Enorme Büro- und Bibliothekstürme wurden beispielsweise inmitten eher bescheidener Viertel mit flacher Bebauung hochgezogen. So blieben sie Solitäre, Repräsentanten der sozialistischen Idee, dass sozialer Fortschritt baubar sei. ... Aus architekturgeschichtlicher Sicht mögen viele Gebäude aus dieser Zeit also zwar wertvoll sein, gelten aber heute dennoch als grandios gescheitert."
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Stichwörter: Mexiko, Mexikanische Moderne

Film

Sicher, der neue Streamingdienst Disney+ wartet natürlich mit einigen Trickfilm-Schönheiten aus dem reichen Fundus des Konzerns auf, schreibt der Disney-Experte Daniel Kothenschulte in der FR. Die zahlreichen, den Filmen vorgeschobenen Warnungen, dass die alten Trickfilme fürs heutige Verständnis kulturell überholte Darstellungen beinhalten, nerven ihn allerdings auch etwas - und aus den Vollen des Repertoires geschöpft hat der Konzern auch nicht: "Das reiche Studioarchiv steht nur zu kleinen Teilen offen", insbesondere die zahlreichen Realfilme, die Disney im Laufe der Zeit gedreht hat, vermisst Kothenschulte schmerzlich. Und: "Keine Spur auch von den klassischen Fernsehserien, die Walt Disney in den Fünfzigern als Pionier des Mediums selbst produzierte, etwa 'Zorro'. Es ist schon etwas traurig, wenn ein Filmstudio, das zu den ersten in Hollywood gehörte, das überhaupt für den kleinen Bildschirm produzierte, diese Pionierrolle so wenig herausstellt. Selbst einige der schönsten Mickymausfilme fehlen."

Besprochen werden Daniela Königs via Vimeo ausgewerteter Dokumentarfilm "Waterproof" über Klempnerinnen in Jordanien (SZ), Roberto Savianos Amazon-Serie "ZeroZeroZero" (Presse), die Netflix-Serie "The Paper" (Tagesspiegel), die neue Staffel "Star Wars: The Clone Wars" (ZeitOnline) und Woody Allens Autobiografie (Spiegel, SZ).
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Kunst

Auf Hyperallergic meldet Jasmin Weber, dass das San Francisco Art Institute, die sehr angesehene Kunsthochschule, endgültig schließen muss, offenbar war die Finanzlage auch vor der Corona-Krise schon recht angeschlagen. FAZ-Kritikerin Rose-Maria Gropp besichtigt mit einem virtuellen Rundgang die Rembrandt-Schau um sein "Selbstporträt mit Hut und zwei Ketten" des Museums Thyssen-Bornemisza. Dorothea Marcus berichtet in der taz, wie das Kölner Künstler-Duo raum13 um den Erhalt seines Quartiers in den alten Deutzer Motorenwerken kämpft, aus dem Investoren sie rauswerfen wollen.
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Stichwörter: Corona, Coronakrise

Bühne

Von She She Pop bis zum Grips Theater ist die Stimmung düster bis verzweifelt, weiß Esther Boldt in der taz nach einer kleinen Umfrage unter freien Theatern in Berlin. In der Berliner Zeitung empfiehlt Florian Thalmann, Kulturschaffenden zu unterstützen, die ihre Stücke oder Konzerte nun im Stream kostenpflichtig machen. Margarete Affenzeller verzeichnet im Standard, dass die großen "Festivaltanker" des österreichischen Sommers - die Wiener Festwochen, Salzburger Festspiele, Impulstanz - noch nicht abgesagt wurden.
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Musik



Der große Afro-Jazz-Pionier Manu Dibango ist dem Coronavirus erlegen. "Er fusionierte James Brown mit den Tanzrhythmen seiner afrikanischen Heimat, brachte er seine große Liebe, den Jazz, mit afroamerikanischem Twist und kongolesischem Rumba zusammen", schreibt Jonathan Fischer in der SZ. Er verfolgt "die Vision eines Afro-Jazz, der keine nationalen oder Genre-Grenzen mehr kennt: 'Wir sind eine neue Rasse', sagte Dibango, der mit glänzender Glatze und Sonnenbrille stets wie eine Mischung aus Cool Dude und Dorfältestem rüberkam. 'Afrikanische Musiker behalten zwar immer noch ihre Wurzeln, aber sie sind nun überall auf der Welt daheim. Überall und nirgendwo'."

Zu seinen großen Klassikern zählten "Super Kumba" (siehe oben) und "Soul Makossa" (siehe unten), an denen Ljubisa Tosic vom Standard Dibangos Stil verdeutlicht: "Die dampfenden Kompositionen , auf epische Länge getrimmt, verfügen über einen munteren Groove, über den Dibango ein markantes Riff legte und dieses auch sprechgesanglich und in einem Call- and-response-Spiel mit dem Chor zelebrierte. In der Bringe dann ein kleiner Monolog, der diese tanzbare Weltmusik charmant auflud und zum Welthit formte."



Auf einen ersten, frühen Nachruf auf Gabi Delgado von DAF verwiesen wir bereits gestern, heute kommen die Feuilletons nach. "Er war ein Künstler und Tänzer, ein Sänger und Dichter", schreibt Ulrich Gutmair in der taz. "Zu Görls Körpermusik schrieb er Texte, die meist aus nicht mehr als zehn Zeilen bestanden." Es waren "Delgados eindringlicher Sprechgesang und seine schillernde Performance", die DAFs Kultstatus zementierten, meint Ueli Bernays in der NZZ. Delgado "begriff Punk früh als nihilistisches Programm", schreibt Kai Müller im Tagesspiegel: "Endlich mal nicht die Welt verbessern. Stattdessen eins werden mit dem Feind des Humanismus: den Maschinen, dem Rhythmus." Und sein "pointierter Gebrauch der deutschen Sprache verblüfft bis heute", hält Max Dax in der SZ fest: "Seine Texte wirkten in ihrer Verdichtung auf stets das Mindestmögliche wie ein Amalgam aus konkreter Poesie und militärischen Appellen."

Besprochen werden ein online übertragenes Montagskonzert der Bayerischen Staatsoper mit Hanna Asieieva, Darima Tcyrempilova und Dmitry Mayboroda ("Kein Huster, kein Programmheft-Rascheln, es ist, als umhege die Stille ihr hoch konzentriertes Spiel auf besonders sorgsame Weise", schreibt ein online namentlich ungenannt bleibender Tagesspiegel-Kritiker), neue Album von Gordon Lightfoot (FAZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter ein neues Album von Pearl Jam (SZ).
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