Efeu - Die Kulturrundschau

Schön, nicht schön

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09.03.2020. Die Welt lernt in Rom, nicht nur den klassischen, sondern auch den wilden Raffael zu bewundern. Die Nachtkritik erkennt mit Kirill Serebrennikows Inszenierung von Boccaccios Pestgeschichten, dass Theater unter Quarantäne nicht funktioniert. In der NZZ trauert Christina Viragh um venedig, weint aber den ausbleibenden Kreuzfahrtriesen keine Träne nach. Die FAZ beobachtet entgeistert, wie sich Uwe Tellkamp gegen die Einheitsfront stemmt. Außerdem trauern die Feuilletons um den Pianisten McCoy Tyner.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.03.2020 finden Sie hier

Kunst

Ausschnitt aus Raffaels Gemälde "Sixtinische Madonna", 1512/13


Vor 500 Jahren starb Raffael an Pest, Malaria oder Syphilis. Dass die Eröffnungsfeier der großen Jubiläumsausstellung in den Scuderie del Quirinale wegen Corona abgesagt werden musste, ist trotzdem verdammt ungerecht, meint Dirk Schümer in der Welt. Denn alle Städte Europas waren bereit, Werke auszuleihen, die von den aristokratisch-päpstlichen Familien der Borgias, Medicis, Borgheses und Barberinis zusammengetragen wurden: "Zeugte sein Ende also von vorauseilender Rache der Elemente? Vom Neid der Götter gar? Sicher ist, dass sich die Raffael-Verehrung wie das Bild des italienischen Rinascimento überhaupt seit dem 19. Jahrhundert und ihrer Vergöttlichung durch den Skeptiker Jacob Burckhardt und den Chauvinisten Arthur de Gobineau stark gewandelt hat. Galt die Dresdner 'Sixtinische Madonna' - die Anbetung der jugendlich-erotischen Gottesmutter durch den greisen Papst Sixtus - über Generationen als Inbegriff von Ebenmaß, Schönheit und Frömmigkeit, so konzentrierte sich mit den Jahren die Aufmerksamkeit immer weniger auf den klassischen als auf den wilden Raffael."

Besprochen werden die Mika-Rottenberg-Ausstellung im Sprengel Museum in Hannover (deren poetisch-visuelle "Vorlesungen über absurde Wirtschaftskreisläufe" SZ-Kritiker Till Briegleb als "echte Inspirationshilfen" dienen), Wolfgang Tillmanns Ausstellung "Today Is The First Day" im Wiels in Brüssel (FAZ) und eine Ausstellung des Wiener Fotografen Michael Horowitz in der Albertina (Standard).
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Bühne

Unter Quarantäne oder Selbstoptimiert? Kirill Serebrennikows Inszenierung von Boccaccios "Decamerone" am DT. Foto: Arno Declair

In Giovanni Boccaccios "Decamerone" flüchten Florentiner Aristokraten vor der Pest auf ihren Landsitz und unterhalten sich gegenseitig mit obszönen und grausamen Parabeln. Der in Moskau unter Hausarrest stehende Regisseur Kirill Serebrennikow hat hat zehn der Pestgeschichten für das Deutsche Theater in Szene gesetzt. In den Augen von Nachtkritiker Jannis El-Bira beginnt der Abend als harmloser Spaß und setzt sich nicht als Tiefenbohrung fort, doch auch das sei eine Erkenntnis: "Eine Stückentwicklung mit den Geschichten alternder deutscher Schauspieler*innen hatte Serebrennikov vorgeschwebt; auf Boccaccio griff er erst wegen der Einschränkungen durch den Hausarrest zurück. Dass sich gerade von dieser Erfahrung augenscheinlich nichts in seine Inszenierung übertragen hat, aus all den möglichen Reflexionsangeboten zu Epidemien, Exil und Isolation so wenig gemacht wurde, verwundert zwar - stimmt aber womöglich gar nicht. Denn vielleicht stößt Theater auch unweigerlich da an Grenzen, wo es zu weiten Teilen per Fernsteuerung entstehen muss, wo nur Skype die Endproben möglich macht. Vielleicht steckt das Eigentliche dieses Theaterabends also doch in seinen Umständen, wenn es sich auch nicht auf die Bühne übersetzt."

Als einfach, schön und eindringlich bejubelt Jan Brachmann in der FAZ Ulrik Mortensens und Jetske Mijnssens Inszenierung von Monteverdis "L'Orfeo" an der Oper Kopenhagen. Ein Ereignis von europäischem Rang, versichert Brachmann: "Überragend ist Marc Mauillon als Orpheus: Bei aller Präzision und Kehlfertigkeit in den bebenden Verzierungen seines Baritons zeigt er Mut zu einem rauhen, rissigen Timbre, das den Kunstgesang archaischen Praktiken annähert, wie man sie noch in der Folklore Sardiniens finden kann. Unmittelbarer Ausdruck von erschütternder Wirkung."

Besprochen werden Claudia Bauers Inszenierung von Michail Bulgakows "Meister und Margarita" am Schauspiel Leipzig (DlfKultur, Nachtkritik), die Tanzplattform München (taz), das Patriarchatsdoppel "Unterwerfung/Gegen den Strich" von Michel Houellbecq und Joris-Karl Huysmans in Mülheim (SZ), ein Gastspiel des britischen Ballet Rambert mit seinem Klassiker "Enter Achilles" in Berlin (taz, Tsp) und Evgeny Titovs Inszenierung von Gorkis "Wassa Schelesnowa" am Staatstheater Wiesbaden (Nachtkritik).
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Film

Besprochen werden Waad Al-Kateabs und Edward Watts' Dokumentarfilm "Für Sama" über den syrischen Bürgerkrieg (Freitag, mehr dazu hier), eine auf Sky abrufbare Doku-Reihe über Hillary Clinton (ZeitOnline), Hirokazu Koreedas "La Verité" mit Catherine Deneuve (Freitag, Jungle World, mehr dazu hier), der neue Pixar-Film "Onward" (Presse), die DVD-Veröffentlichung von Sam Raimis Krimi-Groteske "Crimewave" von 1985, die von den Coen-Brüdern geschnitten wurde (SZ) und Matti Geschonnecks TV-Adaption von Juli Zehs Roman "Unterleuten" (FR, FAZ, Presse).
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Literatur

Kein Karneval in Venedig und auch sonst ist die Stadt in melancholische Untergangsstimmung getaucht, wie die Schriftstellerin Christina Viragh in einem traurigen Liebesbrief in der NZZ schreibt, auch wenn sie "schon zu lange in Italien lebt, als dass ich von alter Bausubstanz umgeworfen würde. ...  Auch das Wort, wie alles in Venedig, schwappt zwischen Sein und Nichtsein hin und her, einmal rasch und oberflächlich zu Tränen rührend, dann an unbeleuchteten Palazzi vorbei sich in einem dunklen Kanal verlierend. Für das, was man dort sieht, fehlen die Worte, schön, nicht schön, man weiß es nicht mehr, man spürt nur, dass es an etwas erinnert, an eine Realität, in der wir selbst auch nicht so sind, wie wir meinen." Immerhin kann sie "von Glück sagen, dass in den drei Wochen, während deren ich in Venedig war, keines der monströsen Kreuzfahrtschiffe in den Canal Grande einfuhr. Es hätte mich in der Vorstellung bestärkt, dass man Venedig zerstören will, und ich hätte dann, dem Beispiel meiner Mutter folgend, die Stadt en bloc beweint." (Aber selbst ohne Corona fahren die Bettenburgen nicht durch den Canal Grande.)

Bei einer offenbar recht wirren Lesung in Dresden ging es Uwe Tellkamp weniger um sein neues Buch, als vor allem um die Geißelung des gesellschaftlichen Klimas, das ihn mittlerweile an die SED-Zeit erinnere, berichtet Stefan Locke in der FAZ. Die "Realitäten in diesem Land werden immer schlimmer", sagt Tellkamp, und "um das zu illustrieren, griff er zu Mitteln, die ihn in ihrer Schlichtheit selbst entlarven: Er stellte vor der Lesung ein T-Shirt mit dem Logo der aufgehenden Sonne, auf dem die Buchstaben FDJ durch CDU ersetzt waren, auf die Bühne, fiel davor auf die Knie und flehte: 'Lieber Kritiker, bitte, ich will in der Mitte der Zivilgesellschaft sein und es ganz bestimmt nicht wieder tun!' Danach stand er auf und erklärte mit Blick auf das veränderte Logo: 'Vorwärts und nicht vergessen/Womit du uns lange gequält/In Thüringen warst du vermessen/Und hast SED gewählt.'"

Weitere Artikel: Eva Erdmann überbrückt die ausgefallene Leipziger Buchmesse mit einer erneuten Lektüre von Albert Camus' "Die Pest" im Freitag. Für die FAS hat Rainer Schmidt mit Irvine Welsh über den dritten Band seiner "Trainspotting"-Trilogie geplaudert. Der Standard bringt einen Vorabdruck aus Raphaela Edelbauers Band "Und wie wir hassen!". Tilman Spreckelsen berichtet in der FAZ von Christoph Ransmayrs Frankfurter Poetikvorlesung.

Besprochen werden unter anderem Monika Helfers "Die Bagage" (Standard), Ingo Schulzes "Die rechtschaffenen Mörder" (Zeit), Frank Göhres Comeback-Krimi "Verdammte Liebe Amsterdam" (Tagesspiegel), Gertraud Klemms "Hippocampus" (Tagesspiegel), Christoph Höhtkers "Schlachthof und Ordnung" (NZZ), JJ Amaworo Wilsons Hausbesetzerroman "Damnificados" (Freitag), Jonas Lüschers Poetikvorlesung "Ins Erzählen flüchten" (SZ), die Neuauflage des nun von Thea Dorn moderierten Literarischen Quartetts im ZDF (taz, Dlf Kultur, mehr dazu bereits hier) und der Abschluss von Hilary Mantles Tudor-Trilogie (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Alexander Košenina über Schillers "Die Pest. Eine Fantasie"

"Gräßlich preisen Gottes Kraft
Pestilenzen würgende Seuchen,
Die mit der grausen Brüderschaft
..."
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Musik

Auch im Klassikbetrieb machen sich die Vorsichtsmaßnahmen wegen des Coronavirus hier und da bereits bemerkbar, berichtet Michael Stallknecht in der SZ. So kommen etwa die Israel Contemporary Players nicht zu einem Festival nach Berlin, weil die Musiker fürchten, nach ihrer Heimreise vorsorglich unter Quarantäne gestellt zu werden. Auch in Italien und der Schweiz ist der Spielbetrieb derzeit erheblich eingeschränkt. Soweit reichen die Maßnahmen hierzulande zwar noch nicht, doch "bekommen hierzulande bislang vor allem freiberufliche Musiker und Ensembles die Folgen des Virus zu spüren, sofern sie etwa Auftritte in Italien, Israel oder asiatischen Ländern geplant haben. ... Der Bundesverband der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft hat bereits vom Bundeswirtschaftsministerium gefordert, sich Gedanken über ein Hilfeprogramm zu machen. Der Verband fürchtet, dass im Falle flächendeckender Absagen vielen freien Konzert- und Tourneeveranstaltern der wirtschaftliche Kollaps drohe."

Die Jazzkritiker trauern um den Pianisten McCoy Tyner, der bei John Coltrane spielte, zu dessen Musik er das "unerschütterliche Fundament" bereit stellte, schreibt Wolfgang Sandner in der FAZ: "Er stellte das Material bereit, ließ keine Klanglücken zu und schaffte mit seinen riesigen Klavierpranken einen brodelnden Untergrund, ohne den sich kaum diese Eindringlichkeit entwickelt hätte." Ueli Bernays geht in der NZZ ins Detail: "Aus harmonischer Perspektive war entscheidend, dass McCoy Tyner die Begleitakkorde aus den Klammern der Terzstruktur löste, um sie in die Spreizung von Quarten überzuführen. Die harmonische Logik von Spannung und Auflösung wich einer schwebenden, ausladenden Bewegung. Und der plätschernde Fluss der Kadenzen ging auf in einem mächtigen, brodelnden Strom. Coltrane liess sich davon in die epischen Formen seiner flammenden Kür tragen." Seine "Expressivität nahm sich fast immer wie ein spirituelles Gebet aus", erklärt Hans-Jürgen Linke in der FR, ja "mehr noch: wie eine religiöse Ekstase. Für den Afroamerikaner, der sich bereits im Alter von siebzehn Jahren zum Islam der Ahmadiyya-Sekte hatte bekehren lassen, war Jazz eine sakrale Kunst." Weitere ausführliche Nachrufe in SZ, NPR und New York Times. In dieser Aufnahme sehen wir sein Solo ab 2:39:



Weitere Artikel: Für die Zeit porträtiert Ulrich Stock die Schweizer Pianistin Sylvie Courvoisier, die künftig das taktlos-Festival in Zürich kuratiert. Marco Frei spricht in der NZZ mit dem estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür. Annette Walter spricht in der Jungle World mit dem Berliner Popdup Jolly Goods über dessen neues Album "Slowlife".

Besprochen werden die politische Schrift "Die drei Dimensionen der Freiheit" des Musikers Billy Bragg (taz), ein Deichkind-Konzert (Tagesspiegel), der Abschluss der Musikbiennale "cresc..." (FR), diverse neue Musikveröffentlichungen, darunter ein neues Album des Gitarristen Mike Campell (FAZ), und das neue, ziemlich hektische Album "Fungus II" von Wasted Shirt ("ein erster Höhepunkt des Noise-Jahres 2020", schwärmt Jens Uthoff in der Jungle World). Ein Video:

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