Efeu - Die Kulturrundschau

Sinn ohne Abgeschlossenheit

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11.06.2020. Zeit-Cluster in Farbe habe sie für den Hamburger Bahnhof gemalt, erklärt Katharina Grosse in Monopol. Tell-Review vertieft sich in die Bücher von Clarice Lispector. Die taz erinnert an den Blues- und Rockmusiker Rory Gallagher. Der Streaminganbieter HBO Max will "Vom Winde verweht" aus seinem Angebot nehmen, um den historischen Zusammenhang erklären zu lassen, berichtet die FAZ. Die Welt wittert schon Zensur.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.06.2020 finden Sie hier

Film

Szene aus "Vom Winde verweht" mit Hattie McDaniels und Clark Gable


Der noch frische Streaminganbieter HBO Max hat den von Rassismen keineswegs freien Südstaaten-Klassiker "Vom Winde Verweht" kurzfristig aus dem Angebot genommen - er werde allerdings "ins Programm zurückkehren 'verbunden mit einer Diskussion seines historischen Zusammenhangs und der Kritik seiner Darstellungsweise'", hat Michael Hanfeld für die FAZ von einem Sprecher des Unternehmens erfahren: "Der Film werde nicht bearbeitet, sondern weiter in seiner Originalversion gezeigt. 'Denn würden wir es anders machen, wäre dies so, wie zu behaupten, es hätte diese Vorurteile nie gegeben.'" Der Streamingdienst folgt damit einer Empfehlung des Drehbuchautors John Ridley vor wenigen Tagen in der L.A. Times.

Wer dazu heute Hanns-Georg Rodek in der Welt liest, erfährt von solchen Details freilich nichts, vielmehr könnte man nach seiner Lesart meinen, der Film sei mit einem Totalverbot belegt, was völlig irrsinnig sei, schließlich werde ja auch McDonald's nicht verboten. Das historische "Erbe wirft man nicht einfach weg, und sei es schwierig", vielmehr solle man "auf die Zeit schauen, in der das Werk entstand." Nun ist ersteres ja offensichtlich nicht geplant und zweiteres hat HBO Max eben genau vor. Außerdem ist der Film nach wie vor bei Amazon sowohl im Stream zum kleinen Preis als auch auf DVD mühelos erhältlich (und dort gerade sogar überaus erfolgreich).

In der taz empfiehlt Katrin Bettina Müller nochmal allerwärmstens Ulrike Ottingers autobiografischen Essayfilm "Paris Calligrammes" über Ottingers Pariser Jahre in den Sechzigern. Bereits Anfang März kam der Film in die Kinos (unser Resümee), wurde dort dann von Corona überrascht und kehrt jetzt allmählich zurück: "Es gibt in diesem Film (...) sowohl die Lust am Wissen, mit geradezu enzyklopädischer Detailfreude, als auch die Lust am Schauen, am langanhaltenden Beobachten, Laufenlassen der Bilder."

Volker Schlöndorff schreibt in der Welt einen Nachruf auf den Kameramann Igor Luther, mit dem er sieben Filme zusammengedreht hat. Er verdanke Luther vieles, nicht zuletzt den Oscar, räumt der Regisseur ein, und einige pfiffige Einfälle, etwa in "Die Blechtrommel": "Optische Verfremdungen nur für die Zeit vor Oskars Geburt: Hier schlug Igor vor, mit einer alten Stummfilmkamera mit Handkurbel, einer Berliner Askania, zu drehen. Daher die ruckartigen, phantasmagorischen Ruckelbilder auf dem Kartoffelacker, unter den Rücken von Oskars kaschubischer Großmutter, wieder die Landschaft des Ostens, die Igor inspirierte."

Besprochen werden eine DVD-Edition von "Der Prozess", Eberhard Fechners mehrstündiger dokumentarischer Beobachtung des Majdanek-Prozesses (taz) und der Experimentalfilm "Last and First Moon", den der vergangenes Jahr gestorbene Komponist Johann Johannsson noch vor seinen Tod fertigstellen konnte (Welt).
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Bühne

Besprochen werden "Der Mitarbeiter. Tagebuch eines Wahnsinnigen" nach einer Erzählung von Gogol am Staatstheater Augsburg (nachtkritik), "Unboxing Unboxing" des Kollektivs Geheimagentur in Kampnagel Hamburg (nachtkritik) und das Hörstück "Lücke 2.0" zum Kölner Nagelbombenattentat des Schauspiels Köln (taz).
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Kunst

Arbeit von Katharina Grosse, mehr auf 3sat


Im Interview mit monopol erzählt die Künstlerin Katharina Grosse, wie sie mit den Farben gearbeitet hat, die sich in ihrer Schau "It Wasn't Us" im Hamburger Bahnhof "über die skulpturalen Elemente hinaus in den Außenraum, über die Pflastersteine, die Gehwege und Straßen und letztendlich in die Rieck-Halle wieder hinein und hinaus" ergießen: "Ich male mit allen Farben der Palette, wobei ich die kühleren Töne bevorzuge, weil die Farben dadurch schärfer und leuchtender wirken. Mich interessiert das Verwirbeln verschiedenster Farben, dass ein Strang gemeinschaftlicher Farbigkeit entsteht. So nutze ich den ganzen Schub, den die Farben entwickeln können. Jede Farbe hat für sich die Aufgabe, andere Bewegungen in Zeit und Raum zu markieren, sodass man auch nachvollziehen kann, was zuerst da war und was danach gekommen ist. Die unterschiedlichen Farbereignisse verschmelzen zu einem Zeit-Cluster." (Die Ausstellungsbesprechung von Tobias Timm hat die Zeit jetzt online nachgereicht.)

Der Zürcher Kunsthistoriker und MoMA-Kurator für Architektur und Design Martino Stierli erzählt in einem epischen Interview mit der NZZ von der neuen Gestaltung des Moma, wo Architektur und Design sich jetzt mit der Kunst mischen, statt nur abgetrennt in eigenen Abteilungen auf Besucher zu warten: "Das erlaubt uns, nicht nur eine teleologische, auf ein Argument fixierte Kunstgeschichte zu zeigen, sondern die Vielzahl von Geschichten und auch Widersprüche und Brüche aufzuzeigen. Ein solches Geschichtsverständnis erscheint uns aus heutiger Sicht viel angemessener als die längst überholten Metanarrative."

Weiteres: In New York streifen die Kuratoren bereits um das Weiße Haus, um Protest-Artefakte für künftige Ausstellungen einzusammeln, berichtet Graham Bowley in der New York Times. Besprochen wird eine Retrospektive des arabischen Künstlers Hassan Sharif in den Kunst-Werken in Berlin (Berliner Zeitung)
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Literatur

Luis Ruby denkt für Tell-Review über die Bücher von Clarice Lispector nach: "Die Begegnung zwischen Subjekt und Welt erscheint als etwas Ungeheuerliches. Clarice Lispectors Erzählungen sind nicht daran interessiert, dies zu leugnen oder aufzulösen. Sie sehen dem ins Auge, was der Fall ist, und lassen sich davon treffen. Deswegen kann es genauso selbstverständlich Hass geben wie Liebe und alles Mögliche andere. ... In Clarice Lispectors Erzählungen finden wir Unbestimmtheiten aller Art, Sätze ohne Verb, Dialoge ohne Adressaten, Sinn ohne Abgeschlossenheit."

Weitere Artikel: Michael Wurmitzer erkundigt sich für den Standard nach Andreas Unterwegers Plänen für die Zeitschrift Manuskripte, die Alfred Kolleritsch bis zu seinem Tod im Mai geleitet hatte. "Das ganze Buch steckt derart voll von Aerosolen, dass man es fast nur mit Maske und Gummihandschuhen umblättern mag", glossiert Elmar Krekeler in der Welt über Patrick Süskinds ewigen Bestseller "Das Parfüm". Elmar Krekeler erinnert, online nachgereicht, in der Welt an Sir Arthur Conan Doyles Geisterglaube.

Besprochen werden unter anderem John O'Connells Band "Bowies Bücher", das sich mit jenen Werken beschäftigt, die David Bowie am meisten geprägt haben (NZZ), und Reto Hännys "Sturz" (Tagesspiegel).
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Musik

Frank Schäfer erinnert in der taz an den vor 25 Jahren gestorbenen Blues- und Rockmusiker Rory Gallagher, der entgegen anders lautenden Mutmaßungen in den Siebzigern, den Stones nie beigetreten ist: "In diesem Bandkorsett hätte er nicht das machen können, was er wollte. ... Gallagher ist flink, liquide, aber noch kein Saiten-Irrwisch der Überschallklasse. Er nimmt sich schon mal die Zeit, über sein Instrument nachzudenken." In Deutschland bescherte ihm ein Auftritt im Rockpalast viele junge Fans, weiß Schäfer:



Außerdem: Ulrich Stock besucht für ZeitOnline Eva Johannsen, die in Hamburg seit 18 Jahren den Jazzraum organisiert und diesen nach dem Corona-Schock als mobiles Innenhof-Festival wieder beleben will. Der Tagesspiegel schwelgt in Erinnerungen an Open-Air-Konzerte. Besprochen wird das Album "Push" des Berliner Noiserock-Trios Heads (taz). Wir hören rein:

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