Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Regenbogen aus Melancholie

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26.09.2023. Die polnische Filmemacherin Agnieszka Holland wird in ihrer Heimat von ihrer Regierung extrem angefeindet, berichtet die FAZ. Die Schriftstellerin Charlotte Gneuß fordert ein 1968 für die Ostgeschichte. Die FR saust mit Virgina Woolfs "Orlando" am Schauspiel Frankfurt durch die Jahrhunderte und Geschlechterrollen. Die SZ schmilzt beim elektronischen Geräuschglitzer des Cyber-Manga-Gothic-Popstars Yeule dahin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.09.2023 finden Sie hier

Film

"Grüne Grenze" von Agnieszka Holland

Die polnische Filmemacherin Agnieszka Holland hat Personenschutz angeheuert, meldet Gerhard Gnauck in der FAZ: Ihr in Venedig prämiertes Flüchtlingsdrama "Grüne Grenze" über die Lage der syrischen Migranten, die aus Belarus via Polen in die EU kommen wollen, ist in ihrem Heimatland extremen Anfeindungen ausgesetzt. "Der Chef der regierenden PiS, Jarosław Kaczyński, wetterte, wer ein solches 'widerliches Pamphlet' herstelle, unterstütze oder auch nur gut aufnehme, sei 'Teil der Armee Putins' und jener Kräfte, die Polen zu einem 'Kondominium' seiner Nachbarstaaten in Ost und West machen wollten. ... Justizminister Zbigniew Ziobro verglich die 'Grüne Grenze' mit NS-Propagandafilmen und ihrer 'Darstellung der Polen als Banditen'. Holland, deren Vorfahren teils im polnischen Widerstand waren, teils Opfer des Holocausts wurden, wehrt sich. ... Ein Staatssekretär forderte von allen Studiokinos in Polen, vor Hollands Film ein zwanzig Sekunden dauerndes Gegenvideo zu zeigen. Es weist auf den von Belarus geführten 'hybriden Krieg' hin. Der Spot endet mit den Worten: 'Wir schützen die Grenze. Sicheres Polen.' Zahlreiche Kinobetreiber haben angekündigt, diese Forderung nicht zu erfüllen."

Mit der "vorläufigen Einigung" zwischen Drehbuchautoren und den Hollywood-Studios scheint zumindest dieser der beiden aktuellen Doppelstreiks beigelegt - Details des Deals liegen noch nicht vor und unter den Einigungsverträgen trocknet derzeit auch noch keine Tinte. Alles gut also? Nein, "beide Parteien haben verloren", kommentiert Claudius Seidl lakonisch in der FAZ, "wenn sie nicht längst verloren sind." Denn: In dem Streit ging es vor allem auch um den Einsatz von Künstlicher Intelligenz und weder die Autoren noch die Produzenten sollten sich sicher sein, dass in dieser Entwicklung wirklich das letzte Wort gesprochen ist: "Die Produzenten, die jetzt auf der Seite der Studios verhandelt haben, könnten sich ohnehin schon darauf gefasst machen, dass sie die nächsten sein werden, deren Job eine KI genauso gut erledigen kann. Kaum ein Arbeitsplatz in der Filmindustrie wird bleiben, wie er jetzt ist. Kaum ein Arbeitsplatzbesitzer darf sich sicher fühlen. Insofern ist, was wie der Abschluss eines Arbeitskampfs aussieht, viel eher die Vorahnung der Konflikte, die noch kommen werden - nicht nur in Hollywood, nicht nur in Amerika, sondern überall dort, wo sehr gut ausgebildete und halbwegs gut bezahlte Menschen sich für unersetzlich halten, weil sie ja über so wunderbare Produktionsmittel wie Schöpferkraft, Eigensinn, Risikobereitschaft verfügen."

Außerdem: Jakob Thaller wirft für den Standard einen Blick auf die Lage der Wiener Programmkinos. Besprochen werden Héloïse Pelloquets Regiedebüt "Wild wie das Meer" (online nachgereicht von der FAZ) und die Serie "The Continental" (Presse).
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Kunst

Edgar Degas, Absinthtrinkerin im Café, 1873. Foto: Musée d'Orsay, Paris
Edouard Manet "Die Pflaume". Foto: National Gallery of Art, Washington D.C.

Die Schau "Manet/Degas" am Metropolitan Museum of Art hat alles, was sich SZ-Kritiker Christian Zaschke von einer Ausstellung wünschen würde. Durch die hervorragende Kuration tritt die Kunst der beiden Maler, die eine nicht ganz ausgeglichene Freundschaft verband, in ein erhellendes Gespräch, so Zaschke. Der "laute, expressive Manet und der stillere, scharfsinnige Degas" beeinflussten sich künstlerisch gegenseitig, die Bewunderung war auf Seiten Degas jedoch größer als andersherum. Die künstlerische  Verwandtschaft zeigt sich beispielsweise zwischen Manets Gemälde "Der tote Torero" und Degas Darstellung eines "bewusstlosen, womöglich toten Jockeys", beobachtet Zaschke: "Noch intensiver wird der Dialog zwischen Degas' 'Der Absinth' und Manets 'Die Pflaume'. Beide zeigen eine einsame Frau im Café, vor sich ein Glas Schnaps, die Gemälde ähneln einander wie Schwestern. Sie hängen direkt nebeneinander, und natürlich handelt es sich nicht um einen Wettbewerb oder gar ein Duell, aber beim Betrachten dieser Gemälde denkt man unwillkürlich: Punkt an Degas. Sein Bild hat mehr Tiefe, es ist eindringlicher, und: Er hat es ein Jahr vor Manets Version des gleichen Motivs gemalt."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel schaut sich Rilana Kubassa Edvard Munchs Drucke genauer an, die in "Edvard Munch. Zauber des Nordens" in der Berlinischen Galerie zu sehen sind.

Besprochen wird die Ausstellung "Michelangelo und die Folgen" in der Albertina in Wien (NZZ).
Archiv: Kunst

Design

In seiner Stilkolumne fürs ZeitMagazin hat Tillman Prüfer nur sanften Spott übrig für Männer, die sich in Bordeauxrot kleiden: Wer als Mann aus dem Korsett der gedeckten Farben ausbrechen will, sich gar als "progressiver Nonkonformist" versteht, greift gern zu Rot, ohne dabei aber gleich als impulsiver Umstürzler erscheinen zu wollen. "Deswegen wählt er ein gedecktes Rot, das Bordeauxrot. Bordeauxrot, das klingt schon so, als ob man etwas von Wein versteht. Und sendet das Signal, dass man zwar nicht angepasst ist, aber eben auch nicht so unangepasst, dass es gleich Ärger geben würde. ...Man möchte sich weder zu den Konventionen bekennen noch mit ihnen brechen. Man möchte gern einfach beides sein, sich stets in jede Richtung biegen können."
Archiv: Design
Stichwörter: Männermode, Bordeauxrot, Rot

Literatur

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In einem großen, sehr lesenswerten FAZ-Gespräch mit Sandra Kegel meldet sich Charlotte Gneuß im Streit um ihren Roman "Gittersee" erstmals selbst zu Wort. Eine von Ingo Schulze erstellte, interne Liste mit Hinweisen auf angebliche Fehler in der Darstellung von DDR-Details war an die Jury des Deutschen Buchpreises weitergereicht worden. Dass in den Siebzigern in Dresden niemand "lecker" gesagt hätte und auch niemand in die angeblich viel zu dreckige Elbe gesprungen wäre, kann die im Westen geborene Schriftstellerin nicht stehen lassen: Dies seien konkrete, weitergegebene Erfahrungen ihrer im Osten aufgewachsenen Eltern. Die literarisch-biografische Perspektive auf die DDR werde homogenisiert und verengt, sagt sie: Statt vielfältiger Individualgeschichten setze sich ein Standardmodell durch. Aber "wir brauchen ein 1968 für unsere Ostgeschichte, davon bin ich überzeugt. Vielleicht wird es irgendwann heißen: 2023, das war das Jahr, als die Kinder und Enkel begannen, Fragen zu stellen, die ihre Vorgänger nicht fragen wollten oder konnten. Ich fürchte fast, auch mein Roman würde von Einzelnen nicht infrage gestellt, wenn er sich nicht diesen unangenehmen Fragen aussetzen würde, sondern von einer glücklichen DDR-Alltagsrealität erzählen würde. ... Na klar gab es auch eine andere Alltagswirklichkeit. Und ich habe gar nichts dagegen, dass diese andere Wirklichkeit in nostalgischen Farben geschildert wird. Es ist nur nicht meine Geschichte. Ich würde sie auch gerne erzählen können, aber das kann ich nicht. Denn meine Eltern konnten zu DDR-Zeiten eben nicht studieren, sie haben das Land verlassen, meine Onkel waren in Haft. Es gab in meiner Familie Republikflucht und in diesem Zusammenhang auch einen Todesfall, der für uns so ungeklärt ist wie der von Jürgen Fuchs."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Tagesspiegel-Kritiker Rüdiger Schaper zieht mit Rilkes "Duineser Elegien" durch die Schweiz. Der Schweizer Schriftsteller Andrea Fazioli denkt in der NZZ über die Faszinationskraft einer Gotthard-Überquerung nach: Jede davon "birgt etwas Episches in sich". Michael Wurmitzer berichtet im Standard vom Poetry Slam in Wien. Und: Judith Hermann erhält den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis der Stadt Braunschweig und des Dlf, wie Juryvorsitzende Wiebke Porombka verrät.

Besprochen werden unter anderem Thomas Hettches "Sinkende Sterne" (FR), der Briefwechsel zwischen Max Reinhardt und Helene Thimig (taz), die Ausstellung "Singen! Lied und Literatur" im Literaturmuseum der Moderne in Marbach (FAZ) und Max Lobes "Vertraulichkeiten" (FAZ).
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Musik

SZ-Kritikerin Juliane Liebert schmilzt bei der Musik des Cybermanga-Wesens Yeule dahin: Hinter dem "nicht-binären Geschöpf der binären Matrix des Netzes" steckt der singapurische Künstler Nat Ćmiel. Zu erleben ist "ziselierte Manga- und Goth-Ästhetik, viel Videospiel-Fantasy, Emoharmonik, elektronischer Geräuschglitzer, der aus den liebenswerten kleinen Fehlern digitaler Klangerzeuger gewonnen scheint. Laptopmikrorauschen, hinter dem sich erste Songskizzen abzeichnen. Auf dem neuen Album 'Softscars' auch wohltemperiert verstimmte, weich verschrammte Gitarren; der mal geschlechtslos digitale, dann wieder kawaii-mädchenhafte Gesang, manchmal in Metal-Schreien ertrinkend. Alles zusammengebunden von einem Regenbogen aus Melancholie, die Lebenssucht und Todeswunsch wie einander überlagernde Quantenzustände in der Schwebe hält. ... Yeule liest all das an den Randstreifen der Datenautobahnen auf, konstruiert daraus in geduldiger Kleinarbeit einen musikalischen Avatar und haucht ihm Seele ein."



Außerdem: Luca Vazgec resümiert in der FAZ das Kronberg Festival. Im Tages-Anzeiger spricht die Sängerin Anna Rossinelli über die schlechte Vereinbarkeit ihres Berufs mit einem Kind. Der Verein Mufa möchte die Präsenz von Frauen in der Musik stärken, berichtet Karl Fluch im Standard.
Archiv: Musik
Stichwörter: Manga, Yeule, Gothic, Fantasy

Bühne

Szene aus "Orlando-eine Biografie" am Schauspiel Frankfurt. Foto:Jessica Schäfer. 

Vergnügt verfolgt FR-Kritikerin Judith von Sternburg Anselm Webers Inszenierung von Virginia Woolfs Roman "Orlando-Eine Biografie" am Schauspiel Frankfurt. Wie die Romanhandlung durch die Geschichte, so saust auch die Inszenierung an Sternburg vorbei: Orlando, ein junger Adliger, wacht eines Tages als Frau auf - damit beginnt eine Reise vom 16. Jahrhundert bis ins Jahr 1928, in der Orlando sich mit den gesellschaftlichen Konsequenzen des Frauseins auseinandersetzen muss. Die sehr aktuellen Themen Feminismus und Gender-Fluidität verhandeln Roman und Inszenierung mit großer Leichtigkeit, freut sich Sternburg. Orlando, der "sich auch zuvor nie viel daraus gemacht hat, ob er männlich oder weiblich ist", proklamiert "die individuelle Freiheit als einzig erstrebenswertes Ziel, proklamiert sie eigentlich auch gar nicht, sondern lebt sie." Die Lässigkeit der Inszenierung überzeugt Sternburg auf allen Ebenen: "Nowak und Sonja Beißwenger, immer auf der Bühne und in wendiger, schlenkeriger Aktion, teilen sich Orlando und die Rolle der Erzählerin. Cosima Wanda Winters Kostüme orientieren sich lose an den 20er Jahren, Garconne-Look für Nowak, ein Charlestonkleid für Beißwenger. Eher lässig teilen sie Lord und Lady Orlando entsprechend auf, auch hier darf alles fließen. Um sie herum ein bisschen Satire, ein bisschen Mummenschanz, ein bisschen Karneval, wenn andere Figuren auf die Bühne springen: Angelika Bartsch zum Beispiel als Elisabeth I. in voller Montur. Rokhi Müller zum Beispiel als mysteriöse russische Gräfin, Orlandos erste, unglückliche Liebe."

SZ-Kritiker Michael Stallknecht hat an der Oper in Rouen Romain Gilberts Inszenierung von "Carmen" gesehen. Schon außergewöhnlich, meint er, denn George Bizets Oper wurde in der "optischen Urgestalt" der Erstaufführung von 1875 gezeigt (die das Publikum unter anderem aufgrund der "realistischen Milieuschilderungen" damals ziemlich schockierte). So ganz überzeugt ist der Kritiker von dieser Retro-Fassung allerdings nicht: die Sehgewohnheiten sind eben ganz anders als damals, auf den heutigen Zuschauer wirkt alles "knallbunt - und reichlich bieder."

Weitere Artikel: Im Nachtkritik-Interview zieht Barbara Frey die Bilanz ihrer dreijährigen Intendanz bei der Ruhrtriennale. Patrick Wildermann trifft für den Tagesspiegel die Theatermacherin Marina Davydova, die wegen ihrer Kritik an Putin Moskau verlassen musste und deren Stück "Museum of Uncounted Voices" gerade am Berliner HAU zu sehen ist.

Besprochen werden Kirill Serebrennikovs Inszenierung von Wagners Oper "Lohengrin" an der Bastille Oper in Paris (Welt), Romain Gilberts Inszenierung von George Bizets Oper "Carmen" an der Oper in Rouen (Welt, SZ), Burkhard C. Kosminskis Inszenierung von Shakespeares "Was ihr wollt" am Schauspiel Stuttgart (SZ), Bettina Kaminskis Inszenierung von Shakespeares "Hamlet" am Titania Theater Frankfurt (FR), Ersan Mondtags Inszenierung von Georg Büchners "Woyzeck" und Max Lindemanns Inszenierung von Sibylle Bergs Stück "Es kann doch nur noch besser werden" beides am Berliner Ensemble (FAZ), Manuel Schmitts Inszenierung von Richard Strauss' Oper "Salome" am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen (nmz).
Archiv: Bühne