Efeu - Die Kulturrundschau

Eine Kapazität im Aushalten

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24.12.2020. Die taz blickt fasziniert durch die Handykamera der Fotografin Barbara Wolff auf die Metropole Berlin. Die FAZ erkundet, was Abstände unter Musikern für den Orchesterklang bedeutet. In der Welt schildert Schriftsteller Jonathan Coe die Corona-Lage in Britannien. Und die SZ trauert um den Schauspieler Charles Brasseur, der wunderbar bourgeois und zugleich fies, brutal und unberechenbar sein konnte
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.12.2020 finden Sie hier

Kunst

Foto von Barbara Wolff aus dem Bildband "Metropolis Berlin"


In der taz begeistert sich Gunda Schwantje für einen schwarz-weißen Bildband über Berlin der Fotografin Barbara Wolff, die ihre Bilder mit einer Handykamera aufnahm: "Das Ungewöhnliche: Entstanden sind Bilder in klassischer Schwarz-Weiß-Fotografie, die eine gewisse Zeitlosigkeit ausstrahlen. Auch verweist ihre aktuelle Metropolis-Geschichte auf den gleichnamigen, legendären Film von Fritz Lang aus dem Jahr 1927. Wolffs Metropolis ist in so mancher Aufnahme von einer verblüffenden Dichte und die Spontaneität, die ihr das mobile Telefon ermöglichte, hat ganz eigene Blüten getrieben."

Weitere Artikel: Im Standard unterhält sich Katharina Rustler mit dem Künstler Hugo Canoilas, der gerade im Mumok ausstellt (mehr hier). Stefan Trinks betrachtet für die FAZ eine Bildinstallation des Künstler Henning von Gierke mit dem Heiligen Korbinian  im Freisinger Dom. In der taz erzählt Jenny Zylka, wie der Coronavirus Kunstschaffende verändert.

Besprochen werden eine kleine Ausstellung mit zwei Giottos und einem Rothko in der Berliner Gemäldegalerie Berlin (FAZ) und die Ausstellung "Die Picasso-Connection" in der Kunsthalle Bremen, die sich an der "Enthaarungs-Ideologie" für weibliche Körper abarbeitet (taz).
Archiv: Kunst

Bühne

In der nachtkritik stellt Sarah Fartuun Heinze eine kleine Auswahl künstlerischer Games für Theatermenschen vor.
Archiv: Bühne

Literatur

In der Literarischen Welt unterhält sich Mladen Gladic mit dem Schriftsteller Jonathan Coe über die Coronalage in Großbritannien: "Covid und der Brexit können nicht voneinander getrennt werden", sagt er. 2016 wollten die Briten den Brexit, "er wurde ihnen versprochen. Daher werden sie nicht ruhen, bis er über die Bühne gegangen ist. Alles andere wäre Verrat. Johnson hat erkannt, dass die Zukunft seiner ganzen Partei davon abhängt. Deshalb wurde jeder, der dem Brexit skeptisch gegenüberstand oder nicht bereit war, sich als 'wahrer Gläubiger' zu identifizieren, aus seiner Regierung entfernt. Und so sind wir bei einer Regierung gelandet, die voller Figuren ohne Erfahrung und Kompetenzen ist. Die mit Wahlkämpfern und Ex-Journalisten besetzt ist. Kein kluger oder besonnener Staatsdiener ist in Sicht. Dann schlug die Pandemie zu, und die Aufgabe, sie zu bekämpfen, fiel in die Hände von Leuten, die keine Erfahrung darin hatten, auch nur ein friedliches und reibungslos funktionierendes Land zu regieren. Geschweige denn eines, das sich in einer schrecklichen Krise befand."

Das Internet kann gesellschaftliches und literarisches Leben als Corona-Prothese nicht ersetzen, seufzt der Schriftsteller Kurt Drawert in der FAZ. Ein per Zoom gehaltenes Literaturseminar war sehr scheußlich, sagt er: "Ein technisch versierter Autor hatte sich als Administrator angeboten und alle Teilnehmer/innen eingeladen, sich über einen Link ins Programm einzuschalten. Das habe sogar ich hinbekommen und war plötzlich 'drin'. Aber wo? Überall sprangen kleine Fensterchen auf und meldeten sich neue Personen hinzu. Am unteren Rand lief ein Chat, in dem man seine Fragen verschriftlichen konnte. ... Es gab so vieles simultan zu beachten, dass die Konzentration auf einen Text, der jetzt gelesen wurde, mir geradezu unmöglich schien. Mir war, als ginge es gar nicht mehr um die Lesung, sondern allein darum, sie technisch zu realisieren, und wenn Begeisterung aufkam, dann eher nicht, weil eine Metapher so gut war, sondern weil ich es hinbekommen hatte, virtuell noch am Leben zu sein."

Weitere Artikel: Martin Hielscher würdigt in der taz sehr ausschöpfend Boccaccios "Decamerone". Mit den zehn unerhörtesten Begebenheiten resümiert Mara Delius in der Literarischen Welt das Coronajahr 2020.

Besprochen werden unter anderem Sigrid Nunez' und Benjamin Mosers Bücher über Susan Sontag (NZZ), Ralf Rothmanns Erzählband "Hotel der Schlaflosen" (online nachgereicht von der Welt), David Szalays "Turbulenzen" (SZ), Christoph Nußbaumeders "Die Unverhofften" (NZZ), Jana Heidersdorfers Comicadaption von Kai Meyers Geschichte "Der Speichermann" (Tagesspiegel) und Marie T. Martins Gedichtband "Rückruf" (FAZ).

Außerdem ein Hörtipp für die Feiertage: Der WDR hat die 16 Folgen des dritten Teils seiner Hörspielbearbeitung von Cixin Lius Science-Fiction-Saga "Trisolaris" online gestellt.
Archiv: Literatur

Film

Der französische Schauspieler Claude Brasseur ist gestorben. Er war mit über 100 Filmen eine Konstante des französischen Kinos, debütierte bei Godard, spielte bei Truffaut und brannte sich mit seiner Rolle des Vaters in der Liebeskomödie "La Boum" einem internationalen Publikum ein. Für SZ-Kritiker Fritz Göttler war er "der französische Schauspieler par excellence. Das heißt, er konnte beispiellos die Bourgeoisie verkörpern, bieder, untergründig, auf der anderen Seite fies und brutal und unberechenbar - weshalb er gern wechselte zwischen Flic- und Gangster-Rollen. In Truffauts 'Ein schönes Mädchen wie ich' ist er wirklich ein Lustmolch, der Anwalt Murene. Als er 1986 in dem fiebrigen 'Abstieg zur Hölle' nicht mehr den Vater, sondern plötzlich den Ehemann Sophie Marceaus spielte, einen aggressiven Krimiautor in Haiti, hat das gehörige Aufregung verursacht." Und Tilman Krause in der Welt: Er war "neben Jean-Paul Belmondo der Haudegen unter den französischen Leinwandhelden gewesen. Mit kantigerem Gesicht als der Schönling Belmondo allerdings."

Der Schauspieler Matthias Brandt war schon immer ein Meister im Zurückziehen, erzählt er in der SZ-Reihe mit Kulturschaffenden über die Coronakrise. Private Lockdowns waren stets seine Strategie gegen die Anfordernisse eines hektischen Betriebs. "In puncto Langeweile lasse ich mir seit den Urlauben in den norwegischen Wäldern von niemandem mehr was erzählen.  Ich war und bin eine Kapazität im Aushalten von Ereignislosigkeit. So werde ich auch diese, derzeitige Öde überstehen."

Besprochen werden der neue Pixar-Film "Soul" (taz, Tagesspiegel), George C. Wolfes Netflix-Film "Ma Rainey's Black Bottom" (Standard), George Clooneys auf Netflix gezeigter SF-Film "The Midnight Sky" (Tagesspiegel), Eugene Ashes auf Amazon gezeigtes 60s-Melodram "Sylvie" mit Tessa Thompson (SZ) und Axel Blocks Buch "Die Kameraaugen des Fritz Lang" über Kameramänner im Kino der Weimarer Republik" (SZ).
Archiv: Film

Musik

Clemens Haustein eruiert für die FAZ die Lage der Orchester, die zwar keine Konzerte in der Öffentlichkeit spielen können, aber mit gehörigem Abstand zueinander proben dürfen. Dies aber hat Folgen, es "lenkt den Blick auf einen Organismus, dessen Innenleben dem Konzertbesucher gewöhnlich verborgen bleibt. Dass aus der neuen räumlichen Entfernung klangliche Verzögerungen entstehen; dass Flötist und Klarinettist, zwei Meter hintereinander sitzend, den Eindruck haben, sie spielten zusammen, während der Dirigent sie an seinem Pult versetzt hört, solche Verschiebungen bildeten gar nicht einmal die größte Herausforderung, sagt Stefan Dohr. Folgenreicher sei, dass sich die einzelnen Instrumentengruppen kaum mehr als klangliche Gemeinschaft wahrnehmen könnten. 'Bei einem Posaunenchoral wie im letzten Satz von Johannes Brahms' vierter Symphonie ist es kaum möglich, einen gesättigten, gemischten Klang zu erzeugen. Die einzelnen Töne verbinden sich nicht mehr zu einem homogenen Akkord.'"

Besprochen werden das neue Album von Paul McCartney (NZZ, FAZ) und Yusuf Cat Stevens' Neuaufnahme seines 70s-Albums "Tea for the Tillerman" (SZ).
Archiv: Musik