Efeu - Die Kulturrundschau

Das Color der ganzen Welt

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14.07.2023. Hollywood Reporter, ZeitOnline und Welt berichten von den Folgen des Schauspielerstreiks. Die FAZ lernt in einer Ausstellung im Dresdner Kupferstichkabinett, wie gefährlich Künstlerreisen sein können. Die SZ zweifelt, ob sie künftig mit zehntausend Begüterten auf einer veganen Pizza im Wasser leben möchte. Die taz sitzt beim Frankfurter Festival Theater der Welt in einer Inkubationskapsel und fragt sich, ob sie ein Ei oder eine Krankheit ausbrütet.  Und auf ZeitOnline vermisst Simon Reynolds strahlende Zukunftsutopien im Pop.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.07.2023 finden Sie hier

Kunst

Allaert van Everdingen: Wanderer auf einer Lichtung am Bach und Tannenbäumen beim Skizzieren. Katrin Belliner Collection, Foto: Matthew Hollow.


"Sofern Sie in diesem Sommer reisen und dabei eine Ausstellung sehen wollen, steuern Sie Dresden an!", empfiehlt Andreas Platthaus in der FAZ. Die Ausstellung "Ferne so nah - Künstler, Künstlerinnen & ihre Reisen" im Dresdner Kupferstichkabinett versammelt Reisebilder von Künstlern von Albrecht Dürer bis Ludwig Richter und besticht den Kritiker durch unerwartete Zusammenhänge. Adrian Zinggs etwa wurde nach der Anfertigung einer Zeichnung vom Elbufer aufgrund von Spionageverdacht verhaftet - "kurz nach dem Siebenjährigen Krieg lagen in Sachsen die Nerven blank" - damit ist er unter den Ausgestellten nicht allein: "Selbst die schönste Präsentation, der zehnteilige Holzschnittfries 'Sitten und Gebräuche der Türken' von 1553 nach Zeichnungen von Pieter Coecke van Aelst, verweist mit serpentinenförmig gefertigten Tischvitrinen auf ein anderes Blatt, das eine sich ähnlich schlangengleich durch Rom windende Prozession zeigt. Coecke van Aelst war übrigens höchstwahrscheinlich tatsächlich als Spion durchs Osmanische Reich unterwegs, seine Zeichnungen dienten ihm nur als Vorwand. Auch das lernt man in Dresden."

Lothar Böhme: Knieender Akt 2012. Bild: Lothar Böhme und Roman März.
Liebevoll betrachtet Ingeborg Ruthe für die Berliner Zeitung die Werkschau Lothar Böhmes, die anlässlich seines 85. Geburtstags in der Berliner Galerie Pankow gezeigt wird: Seine Bildsprache ist "seit 60 Jahren das, was man Essenz nennt. Eine Urform bestimmt diese einsamen Gestalten, egal ob weiblich, männlich, androgyn - ob Akt, Kopf oder Stillleben. Und in den dunklen, oft fast bronzeartigen Farben ist das Color der ganzen Welt enthalten, wie hineingemischt als Zeichen für Melancholie und Freude, Nachdenklichkeit und Lust, Resignation und Aufbegehr." Ruthe erscheinen die einsamen Gestalten wie ein "Gleichnis des Aushaltens": Sie "setzen Trotzgesten gegen Angst, Resignation und überwältigende Trauer."

Weitere Artikel: Die Neupräsentation der Sammlung Bührle soll den laufenden Entwicklungen angepasst werden können, meldet Thomas Ribi in der NZZ: "Was das für die Ausstellung im Herbst konkret bedeutet, dazu will man am Kunsthaus zurzeit nichts sagen. Ann Demeester äußere sich erst, wenn die Neupräsentation unmittelbar bevorstehe, heißt es auf Anfrage. Das 'interdisziplinäre und polyphone' Projekt sei 'im Fluss'."

Besprochen werden Joanna Rajkowskas Installation "Sorry" in Frankfurt an der Oder (FAZ), Eva Fàbregas' "Devouring Lovers" im Hamburger Bahnhof (FR), die Ausstellung "Can You Hear It? Musik und Künstliche Intelligenz" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (taz) und die Ausstellung "Photography as a Way of Life" mit Bildern von Rüdiger Trautsch im Schwulen Museum (tsp).
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Architektur

"Durch die Klimakrise könnten in den nächsten 25 Jahren mehr als eine Milliarde Menschen aus ihren Lebensräumen vertrieben werden", prognostiziert Gerhard Matzig in der SZ. Und weil sich derweil die Weltmeere ausbreiten, plant das japanische Unternehmen N-Ark eine schwimmende Öko-Stadt unter dem Namen "Dogen City": "Gedacht für 10.000 ständige Einwohner und 30.000 Touristen - als vermögende Endzeit-Überlebende. (...) Computersimulationen zeigen eine kreisförmig an eine vegan belegte Pizza erinnernde Insel", die aus drei Zonen bestehen soll: "Erstens aus dem äußeren Ring, dem Wall, worin auch die Dauerbewohner untergebracht werden. Das ist fast wie in Venedig, wo die dienenden Menschen in Mestre auf dem Festland leben, während die bedienten Touristen das bröckelnd museale Stadtinnere zermalmen. Im Inneren des Rings sind - zweitens - die touristischen Einrichtungen, aber auch Farmen zur Nahrungsproduktion geplant. Erst die dritte Zone befindet sich unter Wasser: als Datenzentrum, letztlich eine Serverfarm, wassergekühlt immerhin."
Archiv: Architektur
Stichwörter: N-Ark, Klimakrise, Wasserstadt

Film

Alle Reels stehen still, wenn Dein starker Arm es will: Erstmals seit 63 Jahren streiken in Hollywood wieder zwei zentrale Gewerke. Der Drehbuchstreik hält weiter an, nun hat aber auch die Gewerkschaft der Schauspieler nach ergebnislosen Verhandlungen mit den Studios einen Streik ausgerufen. 160.000 Gewerkschaftsmitglieder legen laut Hollywood Reporter die Arbeit nieder: Damit kommt die US-Filmindustrie de facto zum Stillstand, auch auf promoträchtigen Premieren zeigen sich die Schauspieler nicht (weshalb etwa die "Oppenheimer"-Premiere in London um eine Stunde nach vorne verlegt wurde, um nicht nackt dazustehen, meldet die Welt). "Wir sind die Opfer hier", rief Gewerkschaftspräsidentin Fran Drescher in ihrer wütenden Rede, "eine habgierige Instanz schikaniert uns. ... Dies ist ein Moment der Geschichte, ein Moment der Wahrheit. Wenn wir uns jetzt nicht gerade machen, werden wir alle in Zukunft gehörige Probleme bekommen. Uns allen droht die Gefahr, von Maschinen ersetzt zu werden." ZeitOnline hat via dpa eine informative FAQ erstellt, um was es bei dem Streik genau geht: Wie die Drehbuchautoren leiden auch die Schauspieler an sinkenden Budgets und Honoraren trotz höherer Produktionvolumen und dem Wegfall von Tantiemen durch Wiederholungen, die es im Streaming de facto nicht mehr gibt (mehr dazu hier). "Zudem hatte SAG-AFTRA mitgeteilt, dass es eine 'reale und unmittelbare Bedrohung' darstelle, wie animierte KI-Charaktere die Schauspielerei von Mitgliedern täuschend echt nachbilden könnten."

Aktuelle Produktionen sind damit einem erheblichem Stresstest ausgesetzt, schreibt Hanns-Georg Rodek auf Welt+: Manche Produktionen konnten rechtzeitig abgeschlossen werden, "weniger Glück haben die dritte Staffel von 'White Lotus' oder der Serien-Ableger von Ridley Scotts 'Alien', die zwar in Thailand drehen, aber mit SAG-AFTRA-Schauspielern in führenden Rollen besetzt sind: Verschiebt man die Produktion in der Hoffnung auf einen kurzen Streik oder besetzt man um? Natürlich könnte man australische oder britische Darsteller nehmen, aber für deren weitere Karriere in Hollywood-Filmen wäre eine Art inoffizielles Streikbrechen gar nicht zuträglich. Auch das von US-Stars abhängige Festival in Venedig (Beginn: 30. August) könnte stark leiden. ... Mit einem kurzen Streik sollte nicht gerechnet werden, dafür sind die Streitpunkte zu komplex."

Zurück nach Berlin: Mit einer gewissen (und ja auch durchaus berechtigten) Häme nimmt Rüdiger Suchsland auf Artechock zur Kenntnis, dass die Berlinale nun durch schieren Druck von oben dazu gezwungen ist, Suchslands seit Jahren am Festival geäußerte Kritik in die Praxis umzusetzen (mehr dazu hier und dort). Ihre Chance, diesen Umbau selber zu gestalten, habe die 2019 neu eingerichtete Festivalleitung nicht ǵenutzt. Suchsland bekräftigt daher weitere Forderungen: "Man muss die Berlinale einmal völlig auf Null stellen und neu starten." Das "bedeutet auch: Die Berlinale braucht einen neuen Standort. Auch hier sind ein klarer Schritt und viel Mut nötig. Wenn die Berlinale sich wirklich neu erfinden will, muss sie das auch formal, ästhetisch, also räumlich signalisieren. Darum sollte sie auf das Messegelände im Westen ziehen! Die Berlinale könnte im leerstehenden ICC eine neue herausragende Heimat finden, die auch einen Neuanfang symbolisiert."

Weitere Artikel: Das Team von critic.de - darunter auch die Perlentaucher-Autoren Lukas Foerster, Andrey Arnold, Michael Kienzl und Robert Wagner - erzählt von seinen Fundstücken beim italienischen Festival Il Cinema Ritrovato, das sich ganz auf die Bergung filmhistorischer Schätze spezialisiert hat. Von "Barbenheimer" zu "Oppenbarbie" und zurück: Andreas Scheiner macht sich in der NZZ ernsthaft Sorgen, dass die für nächste Woche angesetzten Blockbuster "Barbie" und "Oppenheimer" vom aktuellen Hype darum eher Schaden nehmen. Fritz Göttler fragt sich in der SZ, ob es von Orson Welles' seinerzeit vom Studio stark gekürzten Film "Magnificent Ambersons" noch eine Originalversion gibt. In der Jungle World erinnert Dierk Saathoff an die Serie "Orange Is the New Black", mit der Netflix vor zehn Jahren auf sich aufmerksam macht.
Archiv: Film

Literatur

Die vor 40 Jahren erschienene Erzählung "Carmen Nova" liegt allein bibliothekarisch vor und dies auch nur in zwei Exemplaren und dann auch nur in einer deutschen Übersetzung. Laut Cover wird sie Umberto Eco zugeschrieben. Dessen Autorenschaft ist aber "höchst unwahrscheinlich", schreibt Thomas Ribi in der NZZ unter Berufung auf Eco-Übersetzer Burkhard Koeber und Ecos Familie. Der Literaturwissenschafter Niels Penke stieß bei Recherchen "auf ein Labyrinth von Anspielungen, Hinweisen und hintergründigen Bezügen. Sie deuten auf einen Autor oder eine Autorin hin, die die Arbeitsweise von Umberto Eco gut kannte und zu kopieren versuchte: das virtuose Spiel mit Zitaten und Verweisen auf Werke der Literatur und Kunst, die Vermengung von historischer Realität und Fiktion. So, wie der Meister es in seinen Romanen, vor allem in 'Der Name der Rose'" vorgeführt hat, der 1982 auf Deutsch erschien und ein Riesenerfolg wurde. ... Das gefakte Buch könnte aus einer Erzählung Umberto Ecos oder des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges stammen: eine Fiktion, die so minuziös mit der Realität verknüpft ist, dass man kaum merkt, wo die Fakten enden und die Erfindung beginnt. "

Außerdem: Die Jury des Tagesspiegel präsentiert die besten Comics der Saison - auf dem ersten Platz: Kate Beatons autobiografischer Comic "Ducks". Tjark Kunstreich schreibt in der Jungle World einen Nachruf auf die ukrainische Schriftstellerin Victoria Amelina, die von einem russischen Raketenangriff aus dem Leben gerissen wurde. Besprochen werden unter anderem Tarjei Vesaas' "Der Keim" (NZZ) und Nick Hornbys "Dickens und Prince. Unvergleichliche Genies" (SZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Opéra de quat'sous. Foto: Jean-Louis Fernandez.

Gleich zwei Inszenierungen beim Festival d'Aix-en-Provence hat sich Anja-Rosa Thöming für die FAZ angesehen: Thomas Ostermeiers Inszenierung der "Dreigroschenoper" konnte sie nicht ganz überzeugen, "man ahnt das Potential der Typen, doch die Regie meint immer wieder, mit Varieté-Gags wie Gesicht-in-Sahnetorte nachhelfen zu sollen. Da kann auch der musikalische Leiter Maxime Pascal mit dem Ensemble Le Balcon nicht helfen." Deutlich besser sieht es mit "The Faggots and their Friends between Revolutions" von Philip Venables und Ted Huffman aus: "Wie das Wort 'queer' wird auch 'faggots' (Schwuchteln) umgedeutet in eine positive Selbstbezeichnung: 'Nous le disons avec amour' (Huffman). Alle fünfzehn Darstellerinnen und Darsteller, Musikerinnen und Musiker, binäre und nicht binäre, blicken mit einer ungewohnten Offenheit ins Publikum, jedoch nicht aufgesetzt, sondern um Kontakt herzustellen. Und das Publikum spielt mit, reagiert, ist geradezu verzaubert."

"Zur Inkubationskapsel" werden Frankfurt am Main und Offenbach während des Festivals "Theater der Welt", auf dem sich Shirin Sojitrawalla für die taz umschaut. "Dazu muss man wissen, dass die diesjährige Festivalleiterin Chiaki Soma den Inkubationismus als Festivalanker ausgeworfen hat. Der Begriff bezieht sich zum einen auf das Ausbrüten von Eiern und meint zum anderen die Phase bis zum Ausbruch einer Krankheit. Für Soma sind das Momente der Ungewissheit, aus denen Neues entstehen kann. ... Inkubationismus ist für mich gleichbedeutend mit einer positiven Einstellung gegenüber einem Leben in Ungewissheit.'" Virtuelle Realitäten spielen bei vielen Inszenierungen eine wichtige Rolle: "Meiro Koizumi arbeitet für 'Prometheus Unbound' mit VR-Brillen. Mit dem schweren Ding auf dem Nasenrücken wandelt man in einem Raum umher; zuerst bleibt alles im Rahmen, ein paar Quadrate und andere Figuren fliegen durch die Luft, was zu Effekten führt, die man aus 3D-Filmen kennt. Mit einem Mal aber verliert man den Boden unter den Füßen und muss kurz nach Luft schnappen, weil man nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Ein gigantisches Gefühl, gleichzeitig furchterregend."

Weitere Artikel: Dem Schauspieler Florian Teichtmeister droht eine weitaus schwerere Anklage als zunächst angenommen, berichtet Cathrin Kahlweit in der SZ, es wird ihm nun nicht mehr  der Besitz, sondern auch die Bearbeitung von Kinderpornographie angelastet: "Der 43-Jährige soll nicht nur weit mehr als zunächst bekannt, nämlich 76 000 Dateien auf Smartphones, Laptops, einem Desktop, drei externen Festplatten, einem USB-Stick und drei Speicherkarten gesammelt, sondern etwa die Hälfte davon auch vervielfältigt, bearbeitet, verändert und zu Collagen oder Videos umgestaltet haben." Der Choreograf des Hamburger Balletts, John Neumeier, zieht seine "Kameliendame" jetzt doch vom Moskauer Bolschoi-Ballett ab, berichtet Dorion Weickmann in der SZ, Grund dafür ist der Ukraine-Krieg; ein weit davor geschlossener Vertrag läuft jetzt aus.

Besprochen werden Rudi Stephans Oper "Die ersten Menschen" in der Inszenierung von Tobias Kratzer in der Oper Frankfurt (Welt), "Chornobyldorf" von Roman Grygoriv und Illia Razumeiko beim Theater der Welt (FR) und Koleka Putumas "Hullo, Bu-Bye, Koko, Come In" ebenfalls beim Theater der Welt (FR).
Archiv: Bühne

Musik

Mit "Futuromania" legt der Pophistoriker Simon Reynolds zumindest die inoffizielle Fortsetzung zu seinem damals vieldiskutierten "Retromania"-Buch vor. Damals ging es um die Vergangenheitsobsession von Pop, in dieser Sammlung von Texten aus drei Jahrzehnten geht es nun um längst verglühte Aufbruchstimmungen. "In der Frühphase der Popmusik waren Zukunftsvisionen optimistischer als heute", sagt Reynolds im ZeitOnline-Gespräch. "Ein Fortschrittsgedanke drückte sich darin aus, die Hoffnung, dass Technologie uns eine strahlende Zukunft eröffnen würde - eine Freizeitutopie. Ein Sampler oder später Digital Audio Workstations wie Cubase schienen hingegen andere Entwicklungen vorzuprägen: den Zugang für Musikerinnen und Musiker zu quasi-göttlichen Möglichkeiten. ... Die Kernidee war, dass wir uns auf eine radikal andere Zukunft zubewegen und dass uns Musik einen Vorgeschmack darauf geben kann."

Außerdem: Moritz Baumstieger hat für die SZ bei den Proben von den Toten Hosen, den Well-Brüdern und Gerhard Polt vorbeigeschaut, die demnächst gemeinsam auf Tour gehen. In der FAZ gratuliert Max Nyffeler der Komponistin Violeta Dinescu zum 70. Geburtstag. Maxi Broecking schreibt in der taz einen Nachruf auf den Jazzmusiker Ernst-Ludwig Petrowsky. Besprochen werden das neue Album von PJ Harvey (taz, mehr dazu hier) und das Tapes-Album "Funk Plates Vol. 1" (taz). Gisela Trahms schreibt in der Frankfurter Pop-Anthologie über Jacques Brels "Le plat plays".

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