Efeu - Die Kulturrundschau

Weder Nägel noch Schrauben

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29.03.2017. Als reinste Studie zur Technik des Biegens preist die NZZ den Houdini-Stuhl des Möbeldesigners Stefan Diez. Der Guardian feiert den japanischen Gartenbau. Die FAZ fragt, wohin die Schweizer Männer eigentlich gerade weglaufen. Presse und Welt erleben in Elfriede Jelineks Stück "Auf dem Königsweg" in New York die Schwein-Werdung des Donald Trump.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.03.2017 finden Sie hier

Architektur


Sou Fujimoto Architects, House NA, Tokio, Japan, 2011. Foto Iwan Baan. Barbican


Ganz fantastisch findet Rowan Moore im Guardian die Ausstellung im Londoner Barbican Centre, die sich der japanischen Architektur der Nachkriegszeit widmet. Natürlich sieht er viel Filigranes, Zartes und Kontemplatives, aber auch exzessiv Postmodernes: "Wie die Macher der Ausstellung zeigen, wird ein Haus in Japan als etwas ganz anderes angesehen als in Europa. Es ist vergänglicher, sitzt leichter auf dem Boden, es wird viel eher abgerissen und neu gebaut. Es sitzt eher hoch oben auf seinem Platz in Raum und Zeit, als dass es unten Wurzeln schlägt. Traditionell werden sie aus Material gebaut, das  man pflegen muss, wie Papier, Stroh und Schlamm, was die Architektur zu einer Art Gartenbau macht."
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Design

Das Museum für Angewandte Kunst in Köln würdigt den Möbeldesigner Stefan Diez mit einer Ausstellung. Für die NZZ war Andrea Eschbach vor Ort, wo es unter auch den "Houdini"-Stuhl zu sehen gibt, Diez' berühmteste Arbeit: "Er ist eine Studie zur Technik des Biegens. Diez zeigte - inspiriert durch eine Methode aus dem Flugzeugmodellbau -, was man mit Schichtholz heute machen kann: Die Rückenlehne der Stühle sowie deren Sitzrahmen legen sich kurvenförmig um die Basis und bilden so eine harmonische Sitzschale. Die dünnen Schichtholzplatten werden dabei per Hand um einen Massivholzring gebogen. Um die gebogenen Elemente in Form zu halten, sind weder Nägel noch Schrauben nötig. Das Sperrholz umschließt Massivholz - das Modell zitiert im Namen nicht umsonst den großen Entfesselungskünstler Harry Houdini."
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Bühne

In New York wurde Elfriede Jelineks Donald-Trump-Stück "Auf dem Königsweg - Der Bürger-King" in gekürzter Fassung gelesen. Hannes Stein berichtet etwas ratlos von dem Abend in New York, bei dem ihm Miss Piggy, Ödipus und der blinde Seher Teiresias begegneten. Es geht irgenwie um die Schweinwerdung eines Menschen. In der Presse erkennt Michael Watzka die große Schwierigkeit des Unterfangens: "Jelineks neuer Text 'Auf dem Königsweg' versucht sich etwas zu nähern, was es eigentlich gar nicht gibt: Der Tiefenstruktur des omnipräsenten Oberflächenphänomens Trump." (Foto: Segal Center, New York)

Retro-Experimente sind nicht die Zukunft der Oper, stellt Joachim Lange im Standard klar, weiß aber dennoch Aufführungen von Klaus Michael Grüber, Heiner Müller und Ruth Berghaus zu schätzen, die Serge Dorny für sein Festival Mémoire in Lyon rekonstruieren ließ: "Sie erinnern an die Maßstäbe, an denen man messen kann."

Besprochen werden die Uraufführung von John Adams' neuer Sakral-Oper "The Gospel According To The Other Mary" am Theater Bonn (FAZ) und Calixto Bieitos "Tannhäuser"-Inszenierung in Bern (NZZ).
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Kunst

Überfällig nennt nun auch Michael Kohler in der SZ die große und bereits vielfach gefeierte Otto-Freundlich-Retrospektive "Kosmischer Kommunismus" im Kölner Museum Ludwig. Absolut nebensächlich findet Nicole Scheyerer in der FAZ Fragen nach Kitsch oder Moderne im Werk des viktorianischen Historienmalers Lawrence Alma-Tadema, bei dem sich Viktorianer wie Römer gern in Toga vor antiker Landschaft räkelten und das Wiens Belvedere in der Ausstellung "Dekadenz und Antike" zeigt.
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Stichwörter: Dekadenz, Freundlich, Otto

Literatur

Eine Reihe von neuen Schweizer Romanen dreht sich um Männer im mittleren Alter, die von Auf- und Umbruchslust getrieben sind, ist FAZ-Kritikerin Sandra Kegel aufgefallen, auch wenn "das Wohin" diffus bleibe: "Sie haben kein Ziel, das sie ansteuern, und auch kein inneres Navi, das sie leiten würde. Stattdessen lassen sie sich ins Offene treiben."

Weiteres: Für den Tagesspiegel besucht Oliver Ristau das Leipziger "Comics And Graphics Fest". Jan Bürger berichtet in der FAZ, dass das verschollen geglaubte Original eines von Franz Kafka 1913 aus dem Sanatorium in Riva an Felix Weltsch geschriebenen Briefs in einer Autographensammlung wieder aufgetaucht ist und dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach übergeben wurde.

Besprochen werden Lionel Trouillots "Yanvalou für Charlie" (NZZ), Peter Wensierskis "Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution" (taz), Takis Würgers "Der Club" (Freitag), Tom Kummers "Nina & Tom" (Freitag), Jérôme Leroys "Der Block" (Freitag, unsere Kritik hier), Birk Meinhardts "Brüder und Schwestern 1989-2001" (FR), Evelyn Schlags "Yemen Café" (Tagesspiegel), Zsuzsa Bánks "Schlafen werden wir später" (online nachgereicht von der FAZ), Fabian Hischmanns "Das Umgehen der Orte" (SZ) und Kerstin Deckers Biografie über Elisabeth Förster-Nietzsche (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Film




Tom Schilling nicht etwa im Ikea-Katalog, sondern in "Der gleiche Himmel" (Bild: ZDF).

Mit "Charité", "Der gleiche Himmel" und der Amazon-Serie "You Are Wanted" soll das Serienwunder auch in Deutschland endlich Fahrt aufnehmen. Freitag-Kritiker Matthias Dell ist allerdings nicht überzeugt - er sieht vor allem in mäßigen Spannungsbögen spazieren getragene Perücken: "Das panoramatische Erzählen markiert das Problem der beiden (ersteren) Produktionen, die stärker an Tanker mit 'Traumschiff'-Dramaturgie erinnern, als flinke Beiboote sind, die interessante Erzählfelder sondieren." Schweighöfers "You Are Wanted" erhält minimal bessere Noten, doch "von einer Idee, wofür ein spezifisch deutsches Erzählen im Serienformat sinnvoll sein könnte, ist auch 'You Are Wanted' noch weit entfernt."

Christine Kaufmann ist im Alter von 72 Jahren den Folgen einer Leukämie erlegen. Elmar Krekeler würdigt die Schauspielerin, für die sich lange Zeit nur der Boulevard interessierte, in der Welt als "großartige Schauspielerin", zu deren herausstechendsten Talenten es zählte, ganze Filme mit ihrer Präsenz zu retten. In der FR würdigt sie Daniel Kothenschulte. In der SZ schreibt David Steinitz einen Nachruf.

Weiteres: Im Freitag sinniert Francey Russell über Kannibalinnen im Film.

Besprochen werden James Grays Abenteuerfilm "Die versunkene Stadt Z" (SZ), Aki Kaurismäkis "Die andere Seite der Hoffnung" (FR, unsere Kritik hier), eine Realverfilmung des CyberNoir-Animes "Ghost in the Shell" mit Scarlett Johansson (Welt, FAZ) und die deutsche Comedyserie "Jerks" (Freitag).
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Musik

Julian Weber spricht in der taz mit dem Gitarristen Jeff Parker, der mit "The New Breed" im vergangenen Jahr ein an Hiphop angelehntes Album veröffentlicht hat und nun für ein paar Konzerte nach Deuschland kommt. Dabei kehrt auch Jazz "als fernes Echo wieder ... Jeff Parker sieht sich selbst als Teil der Great Black Music. Jazztraditionen und das Erbe der afroamerikanischen Kultur benutzt er wie einen Werkzeugkasten. Mit der Karambolage alter Traditionen in der Sphäre des Digitalen erneuert und verändert Parker diese Musik." Hier ein auf Filmmaterial gedrehtes Video daraus:



Weiteres: Für die NZZ unterhält sich Markus Ganz mit Philipp Schnyder von Wartensee über das Schweizer Indiepop-Festival M4Music und gegenwärtige Herausforderungen der Branche. In der taz empfiehlt Tabea Köbler das Berliner Konzert der Postpunk-Band Karies. Hans-Jürgen Linke (FR) und Wolfgang Sandner (FAZ) schreiben Nachrufe auf den Jazzpianisten Ekkehard Jost.

Besprochen werden ein von Andris Nelsons dirigiertes Konzert der Wiener Philharmoniker (FR), ein von Vladimir Jurowski dirigiertes Konzert des Ensemble United (Tagesspiegel), das Berliner Konzert der Beginner (Tagesspiegel, taz),das neue Album der Rapperin Sookee (Freitag), ein Auftritt des Bluesmusikers John Mayall (FR) und ein Konzert von Macy Gray (Standard).
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