Erzählungen

Stefan The Gun

Von Sascha Josuweit
26.10.2011. Mit jedem neuen Treffer wuchs die dunkle, schmierige Masse in ihm, erhaben und abstoßend zugleich, wie ein Fettauge. Er war wie elektrisiert ... Im Augenblick hielt er sich für ein unkalkulierbares Risiko. Ein falsches Wort, eine erniedrigende Situation und er würde hochgehen wie ein Fass Benzin. Eine Erzählung
Am Morgen des 9. August 2010 legten zwei Ereignisse der in ihren stickigen Büros delirierenden Berliner Tagespresse ein hölleschmales Brett über das Sommerloch: Auf einem Randstreifen der Stargarder Straße im Prenzlauer Berg stellten Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks bei einer Routinemessung erhöhte Radioaktivität fest. Die unbekannte Strahlenquelle wurde in einer Tiefe von rund zwanzig Zentimetern unter dem Asphalt vermutet. Die Fundstelle wurde auf einen Flecken von zwei mal zwei Metern eingegrenzt und mit Kreide markiert. Ein gelangweilter Azubi, der mit im THW-Bus saß, vermeldete auf Twitter eine »dirty bomb« im Gebärmutterbezirk der Hauptstadt. Außerdem wurden das Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit, das Landeskriminalamt und die Bildzeitung informiert. Beinahe zur selben Zeit wurde in Kreuzberg ein Teil der Markgrafenstraße abgeriegelt, nachdem Anwohner die Polizei alarmiert hatten. Vor Ort berichtete eine aufgebrachte Hausgemeinschaft den beiden Streifenpolizisten von einem verdächtigen Arbeitslosen, der sich in seiner Wohnung verbarrikadiert hätte, angeblich bewaffnet. Als die Beamten versuchten, durch die Wohnungstür Kontakt zur Zielperson aufzunehmen, und anstelle einer Antwort das Durchladen einer Pistole vernahmen, forderten sie die Kollegen vom SEK an. Die Bildzeitung schickte den erfahrenen Reporter F. nach Prenzlauer Berg und die neue Praktikantin S. rüber in die Markgrafenstraße. Es hätte genau umgekehrt sein müssen. Jemand in der Befehlskette hatte sein Gehirn ausgehängt, falls da eines war.



Zwei Finger der rechten Hand


Die Welt dreht sich im Kreis. Galilei entdeckte die Jupitermonde und erfand den automatischen Tomatenpflücker. Das Heilige und das Profane hocken zusammen wie zwei ungleiche Freundinnen, die eine sonnt sich in der Vollendung und der Grazie der anderen, die durch ihre eigene Gewöhnlichkeit nur noch heller strahlen. Milan Kunderas berühmter Roman über einen Mann, der nicht weiß, wem er vertrauen soll, seinem Herzen oder seinem Schwanz, spielt mit dem Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen, der Nietzsche nicht etwa beim Blick in die Sterne kam, sondern vor einem dicken Stein. Am Ufer des Silvaplana Sees lassen sich heute Herden von Greisen dabei beobachten, wie sie euphorisiert einen absolut gewöhnlichen Fels betasten. Wenn alles wiederkehrt, glauben diese heiligen Narren, dann auch der Führer und wir. Ein anderer Starphilosoph, Psychoanalytiker natürlich (ein lacanianischer, zum Glück nicht praktizierend), zeigt die Ideologieanfälligkeit unserer Gesellschaft, indem er das Wort Ware in einem Satz von Marx durch das Wort Toilette ersetzt: Die Welt ist ein Scheiß.
Aber greifen wir nicht vor. Beginnen wir lieber an einem Punkt im Leben eines Menschen, da ihm die Vergänglichkeit all seines Wissens und Wirkens bewusst wird (geahnt hat er es längst), die unerhörte Seichtheit des Reims, den er gewohnt war, sich auf das Dasein zu machen, die wenig tragfähige Weichheit des Leims, der alles zusammenhält, so dachte er. Hinter der Maske der Schönheit lauert das Chaos. Ein Vorzug des digitalen Zeitalters besteht darin, dass es uns diese Erfahrung in so konzentrierter Form ermöglicht, als Schlag auf den Kopf gewissermaßen, der das Denken bekanntlich voranbringt. Vorausgesetzt, er bringt uns nicht um.
- Du musst dir das so vorstellen, als wenn der Tonabnehmer deines Plattenspielers sich ins Vinyl deiner Lieblingsschallplatte reinbrennt, trällert sein Gegenüber und fingert in den erloschenen Eingeweiden des Rechners herum.
Stefan findet das schamlos. Und hat er richtig gehört? Welcher Plattenspieler denn und wieso Lieblingsschallplatte? Dieser Typ an der Reparaturannahme, ist der eigentlich echt? Aber ja, es ist ja seine Lieblingsfestplatte, die sich da verabschiedet, deshalb. Schließlich sind da seine Texte drauf, seine Fotos und Filme und MP3s und Emails. Datenrettung?
- Och, weißt du, sagt Stefan, plötzlich entschlossen, die Sache sportlich zu nehmen, vergiss es einfach, bau mir eine neue ein und dann ist gut, eine neue Festplatte ist wie ein neues Leben.
Das stimmt nicht ganz. Das Neue beginnt nicht mit dem Neuen, sondern indem das Alte endet, beziehungsweise: Auch keine neue Festplatte war wie ein neues Leben. Gleich weiß er es auch.
Als der Typ ihn so schief angrinst und noch bevor er etwas erwidern kann, hält Stefan ihm den Zeige- und den Mittelfinger seiner rechten Hand an die Schläfe und drückt zweimal ab.

Das Schulfernsehen, eine Erfindung der 60er Jahre, die Kindern auf lebendige Weise die Fünfjahrespläne der indischen Wirtschaft (Arbeiter und Bauern in Indien, 1. Teil) oder die Gefahren des Straßenverkehrs (Vorsicht ist besser als Nachsicht) vermittelte, erprobte nebenher den didaktischen Wert einer schwarzen Mattscheibe, auf der in weißen Versalien eine einfache Fragestellung in die Diskussion einführte:

STEFAN, WIE KONNTE DAS PASSIEREN?

Bis er 19 war, spielte sich sein Leben in demselben Dorf, in derselben Straße, in derselben Wohnung ab. Ein Psychologe mit Hang zu tragischer Ironie würde sagen, er war geborgen in der Gegenwart, in seiner eigenen Geschichte. Nur dass die Geschichte Scheiße war, das würde er nicht sagen. Das Studium war das Ticket raus. Er ging nach Berlin, und nach einem kurzen Sommer der Euphorie war klar: Der Ort war ein anderer, doch die Geschichte ging weiter. Das Studium der Philosophie brachte er irgendwie zu Ende. Zerstört vom Aufschlag auf dem Dauerfrostboden realer Forschung und Lehre nach seinem begeisterten Sprung in das Denken, rührte er die Bücher nicht mehr an. Er schrieb dem Jobcenter einen Brief und schloss sich in seiner Bude ein. Er lag auf dem Bett, hörte Johnny Cash und Eddie Cochran und starrte die Decke an. Er starrte die Decke an und überlegte, was das Leben in der großen Stadt ihm eingebracht hatte. Viel war es nicht. Er hatte die Affäre mit einer neurotischen Geisteswissenschaftlerin hinter sich gebracht, die er nur in der Missionarsstellung bumsen durfte, er hatte seinen Magister abgeholt, und er war dabei gewesen, als Sternberg im Saturn am Alexanderplatz vor einer flimmernden Wand aus Plasmabildschirmen zusammengebrochen war. Von da an war Sternberg nicht mehr derselbe gewesen. Es hieß, er lebe, umsorgt von seiner erztreuen Frau, auf einem Gutshof irgendwo in Nordfriesland und zähle die Schafe. Andere behaupteten, der stinkende Alte mit dem Ziegenbart, der vor der Mensa der Technischen Universität Zettel verteilte, auf denen in krausen Pfeildiagrammen die kommende Weltverschwörung abgebildet war, der den anderen Pennern die Kippen abschwatzte, dieser arme Irre sei niemand anderes als Sternberg. Es war nicht herauszukriegen, welche Version die richtige war, und vermutlich war es wie so oft: Beides stimmte, nur nicht zur selben Zeit und am selben Ort. Eindeutig erscheint uns dagegen, was wir mit einigem Abstand betrachten: Wie auch die 70er, die 80er und die 90er waren die 60er Jahre ein heillos naives Jahrzehnt.
Nein, viel war es wirklich nicht. Er imitierte mit den Fingern Lauf, Hahn und Abzug einer schönen Colt M1911 »Government«, zielte auf die Mücke, die, prall von seinem Saft, an der Decke über ihm klebte, und drückte ab. Peng, sagte er noch, und das Biest schmierte ab, segelte, kreiste und schlappte erdwärts wie ein angeschossener Helikopter und landete auf seinem Bauch.
Welch dankenswerte Einrichtung die Vorstellungskraft ist. Ohne Ötigkeit, wie seine Oma zu sagen pflegte, also ohne Ziererei, zaubert sie noch aus dem trostlosen Muster einer Raufasertapete Fabeltiere, einen Hamburger oder entlegene niederdeutsche Wörter (Meinten sie: nötigen? Ungefähr 7.150.000 Resultate). Bräsiger Silberblick. Scheinbar war er nicht ganz bei der Sache. Musste sich schon verdammt zusammenreißen, um von den Ereignissen nicht abgehängt zu werden. Stefan nahm erst einmal einen Schluck aus der Flasche. Dann brachte er die Augenmuskulatur so gut es ging auf Spur und betrachtete den Kadaver: Als wäre etwas, das man nicht mehr genau erkennen konnte, auf einer Windschutzscheibe zerplatzt, wie ein Blutstropfen mit Flügeln. Abgefahren, dachte er dumpf, wenn das ein Zufall war, und was sollte es bitteschön sonst sein, war es ausnahmsweise ein origineller. Jedenfalls hatte er dergleichen noch nicht erlebt, physikalisch war es bestimmt erklärbar, eine Frage des osmotischen Drucks womöglich, was wusste er denn. Und doch spürte er so etwas wie Erhabenheit. Eddie Cochran sang »Dark Lonely Streets«, und er fühlte sich erhaben und abstoßend zugleich. Zwei Stunden und einen Traum später, in dem seine Mutter ihm mit einer Kneifzange die Fingernägel schnitt, erwachte er aus dem Dämmer und dachte nicht mehr an das Mückenmassaker.
Ganz vergessen hatte er es aber nicht. Als er sich anderntags durch sein tägliches Portfolio aus Pornoseiten, News-Artikeln (Sarah Connor wieder verliebt) und Wiki-Einträgen klickte, von denen er Letztere mit einer gewissen Leidenschaft, sofern er dazu noch fähig war, doch, doch, es gab Leidenschaften, von denen konnten andere nur träumen, Leidenschaftssurrogate, Leidenschaften aus unerfüllten Leidenschaften (die leidenschaftlichsten von allen), die er also mit Inbrunst (haha) auf logische Fehler abklopfte (hihi), stieß er, ohne dass es ihm merkwürdig erschien, in einem Cytowiki auf den Link zur Schweizer Histologischen Gesellschaft und dort ohne größere Umwege auf das Problem hypotonischer Zustände und die Beantwortung der Frage, die ihm just in dem Augenblick dann auch einfiel: Ja, es kam vor, Zellen konnten förmlich und scheinbar ohne äußeren Einfluss explodieren. Wobei der äußere Einfluss wie immer und in diesem Fall sogar buchstäblich vorhanden, nur nicht unmittelbar als solcher erkennbar war. Das Aufplatzen reifer Kirschen bei Regenwetter etwa erklärte sich aus dem osmotischen Eindringen des Niederschlags in die Frucht. Ein fernes Läuten aus dem Biologieunterricht. Anders verhielt es sich mit der tierischen Zelle. Zwar kannte man genetische Störungen, die den Flüssigkeitshaushalt der Zelle beeinträchtigten. Ebenso konnte Salzmangel bewirken, dass aufgenommenes Wasser nicht mehr ausgeschieden wurde, die Zellen schwollen an wie Ballons, die Folge war ein Ödem. Damit die Zellmembran riss, hätte man schon Nitroglyzerin hineinpumpen müssen. Stefan dachte kurz an seine Oma selig mit den dicken Beinen, die sie ständig hochlegen musste. Als Kind hatte er sich furchtbar geekelt davor. Es wäre schon ein Ding, überlegte er, wenn die Natur ausgerechnet ihm so ein Geschenk gemacht hätte: Eine Luftknarre, mit der er würde töten können, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Wo keine Tatwaffe war, keine Geräuschentwicklung, kein Projektil und auch keine Schmauchspuren, rein gar nichts, abgesehen von dem Willen zu töten, doch der allein war nicht strafbar, und einer Leiche natürlich, aber Leichen gab es schließlich auch so, da waren auch keine Sanktionen möglich, kein Prozess, keine Verurteilung, kein Knast, keine Sicherheitsverwahrung. Das Gesetz musste erst noch geschrieben werden.
Was macht man mit einer neuen Körperfunktion? Man probiert sie an. Von Stubenfliegen, Mücken und Weberknechten war seine Wohnung bald gesäubert. Binnen einer Woche machte er den Keller rattenfrei. Mit jedem neuen Treffer wuchs die dunkle schmierige Masse in ihm, erhaben und abstoßend zugleich, wie ein Fettauge. Er war wie elektrisiert. An einem einzigen Nachmittag erledigte er vom Küchenfenster aus zwei Spatzen, eine Kohlmeise, einen ihm unbekannten scheuen Vogel mit roten Schwanzfedern, recht hübsch eigentlich, eine fette Taube, deren zerfetzter Körper, groß und blutig, noch tagelang auf dem Gehweg faulte, bis ein paar Krähen sich herbeiließen, ihn zu zerlegen, sowie die vom Aasgeruch angelockte Nachbarskatze. Das blöde Biest schrie wie ein Baby und machte Bocksprünge, er streckte es mit einem Fangschuss nieder.
Als das Kleinvieh ihn zu langweilen begann, nahm er die S-Bahn Richtung Grunewald. Er wollte ein Wildschwein zur Strecke bringen, einen wehrhaften Keiler, einen Fuchs oder wenigstens ein Karnickel. Nach stundenlangem Herumstreifen entdeckte er eine Gruppe Schwarzwild im Unterholz. Vor lauter Ungeduld schoss er wahllos hinein, unterschätzte aber die Dickhäutigkeit der Tiere und schlug sie nur in die Flucht. Über die Durchschlagskraft seiner Waffe, über Kaliber und Reichweite wusste er praktisch nichts. Frustriert ballerte er in der Gegend herum und verfehlte ein aufgescheuchtes Käuzchen bloß um Haaresbreite. Als ich gestern einsam ging / auf der grünen, grü-ünen Heid' ... Den Jogger hatte er gar nicht kommen sehen. Als der plötzlich hinter einer Wegkrümmung auftauchte, war es schon zu spät. Kam ein junger Jäger an, / trug ein grünes, grünes Kleid. Der Pechvogel auch! Der joggte nicht mehr, der taumelte, presste, allem Anschein nach unter erheblichen Schmerzen, die Hände auf die athletische Brust und schüttelte ungläubig den Kopf, ehe er, keine zehn Meter von ihm entfernt, mit einem einzigen Seufzer zusammenbrach. Grün ist die Heide, / die Heide ist grün, / blutrot sind die Rosen, / wenn sie da blüh'n. Stefan verstand den Zusammenhang nicht. Tier ist Tier und Mensch ist Mensch. Er tippte auf Herzinfarkt und lief auf den leblos im Moos liegenden Körper zu, bereit, seine rudimentären Erste-Hilfe-Kenntnisse zur Anwendung zu bringen. Da fasste ihn die Angst mit Spinnenfingern.



Please continue


Es heißt, die moralische Scheu des Täters verhalte sich gegenüber der Distanz zu seinem Opfer umgekehrt proportional. Der Abstand könne ein räumlicher sein, ein technisch bedingter oder ein struktureller. Einen Schuss auszulösen, sei an sich ein unschuldiger Akt, wobei es unter philosophischen Gesichtspunkten sogar gleichgültig sei, ob der Schuss zielgerichtet, d. h. mit dem Willen oder unter Order zu töten abgegeben werde oder nicht. Der Abwurf einer Wasserstoffbombe, das Zünden einer Atomrakete seien hinsichtlich ihres zweifellos barbarischen Zwecks vermittelnde Vorgänge, die den gewaltsamen Tod Tausender zu einer Frage der Technik, des Handwerks, ja der Kunst machten, abstrakt bis zur Unkenntlichkeit. Ebenso sei das institutionalisierte Töten, also die Tat aus einer hierarchisch gegliederten Gruppe heraus, dazu geeignet, die Verantwortungsverhältnisse durcheinanderzuwirbeln und zu verschleiern. Einen schockierenden Beweis dafür liefert bis heute ein Experiment, das der Yale-Psychologe Stanley Milgram erstmals 1961 durchführte und in dessen Verlauf die Probanden eine Person im Nebenraum mit Elektroschocks traktierten, weil ein Herr im weißen Kittel sie dazu aufforderte. Ein fingierter Test, bei dem zum Glück niemand zu Schaden kam. Einmal hatte er in einer Galerie das Video zu einem Reenactment des legendären Versuchs gesehen. Auch 50 Jahre danach lag die Quote derer, die bis zum Äußersten gingen und den letalen Stromstoß verabreichten, noch bei über fünfzig Prozent! Als er sich in der für das Screening nachgebauten Kulisse auf den Probandenhocker vor dem Schaltkasten setzte, ergriff ihn ein Schauder. Als hätte er sich nicht in einer Simulation der Simulation befunden, sondern vor den Apparaturen einer echten Elektrokutionskammer.
Und nun, da es sich nicht um einen Film handelte, ein Kunststück möglicherweise schon, doch mit realen Konsequenzen, nicht die Auferstehung der femme coupee en deux war die Sensation, sondern der tatsächlich zerstückte Leib, echtes Blut und Tod: War er schuldig, war er ein Mörder? Und wie fühlte sich das an? War der Schauder eine Erscheinung retrospektiver Art, romantisch und irrational? Sein Verstand arbeitete präzise, ein bisschen unter Strom gesetzt, das erregende Gefühl, auserwählt zu sein (wozu?), entzündete die Eitelkeit in ihm. Das Erhabene triumphierte über das Abstoßende: Ja, er war ein Mörder! Wenn er auch sonst nichts war. Das war die eine Seite. Blieb das Töten von Tieren unterhalb des Radars seiner moralischen Instanzen, ein aus der Kindheit verschlepptes Defizit, gab ihm diese jüngste Erfahrung Stoff, Arbeit für sein mit allen Spielarten ethischer Konzepte vollgestopftes Gehirn, das war die andere Seite. Soll man moralisch sein und wenn ja, warum? Mal sehen, ob seine Studien zu etwas gut waren oder bloß lästig, eine Last, die ihm sein Hochgefühl versaute, zivilisatorischer Bullshit. Er spulte das ganze Programm ab, vom Naturalismus/Utilitarismus über den Intuitionismus Max Schelers bis zur bizarren Irrtumstheorie eines John Leslie Mackie. Letzterem zufolge war die Rede über Moral schlicht fiktiv und vergleichbar den Erzählungen über den Weihnachtsmann oder Herr der Ringe. Hier kollidierten nicht nur Moral und Amoralismus, sondern auch Realismus und Antirealismus. Begriffe wie Intention, Ereignis, Pflicht, Gewissen und Schuld hatte er in analytischer Kleinarbeit untersucht, jetzt konnte er sehen, was ihm das einbrachte: null, nichts, beschloss er. Was die grüne Heide weiß, / geh-et die Mutter ga-ar nichts an, / keiner weiß darüber mehr, / als der grüne Jägersmann. Wenn er sich da mal nicht täuschte. Abgesehen davon bot sich hier eine Erfahrung, an die er sich zu einem späteren, wie sich zeigen wird, nicht ganz unwichtigen Zeitpunkt seines Lebens gewinnbringend hätte erinnern können: dass nämlich seine Kenntnisse keineswegs an die Unversehrtheit eines kalten Stücks Metall gebunden, sondern in dem Blumenkohl in seinem Schädel, seiner eigenen »hard disk«, sicher gespeichert und abrufbar waren. Hätte.
Wäre er unter der Fuchtel seiner Frau nicht ein so ordnungsbewusster Mensch geworden und hätte er nicht die Warnungen missachtet und wäre wegen eines herumliegenden Materialstücks in den Gefahrenbereich des Industrieroboters MH-234 gestiegen, wäre der 34-jährige Fabrikarbeiter Michael Heath aus Detroit, Michigan, Vater zweier drolliger Kinder, verheiratet mit Mary Heath, geborene Walton, ein zänkisches, missgünstiges Stück, diese Frau, kaum zu glauben, sie gönnte ihrer eigenen Brut nicht den Zuckerguss vom Geburtstagkuchen, stattdessen kratzte sie ihn selber herunter, wäre er nicht zwischen der vermeintlich sicheren Rückseite des Roboters und einem Stahlpfosten auf die Hälfte seines natürlichen Körperumfangs zusammengequetscht worden. Andererseits wäre er auch nicht als erster von einer programmierten Maschine getöteter Mensch in die von diesem wirklich bedauerlichen Unfall, Rückschritt sozusagen einmal abgesehen als Cäsarenkranz menschlichen Fortschritts verdiente Geschichte der Robotik eingegangen. Nun, er hatte sowieso keine Wahl, das ist der Punkt.
Stefans Schritte wurden schneller, und am Ende rannte er doch, als wäre ein Dämon hinter ihm her. Nur raus aus dem Märchenwald. Das Monster aber konnte er nicht zurücklassen. Es folgte ihm in die S-Bahn, stieg mit ihm die Treppen zu seiner Wohnung hinauf und legte sich mit ihm ins Bett.
Gegen halb vier Uhr morgens wurde es Zeuge des folgenden Dialogs zwischen einem Hippie und einer Kröte. Offensichtlich handelte es sich um die Kröte aus Äsops Fabeln, denn sie trug den Strick, mit dem sie die Maus, aus purem Neid übrigens, ins Verderben gerissen hatte, noch ums Bein. Der Hippie wollte der Kröte die Haut abziehen, um daraus ein stark wirkendes Halluzinogen zu gewinnen, die Kröte hielt nicht viel davon. Insgeheim vermutete sie, der Allmächtige würde dahinter stecken und als Sühne für die ertränkte Maus ein endloses Exempel, vergleichbar den Qualen des Prometheus, an ihr statuieren, sollte sie sich dies eine Mal nicht entschieden zur Wehr setzen. Mit einem Riesensatz sprang sie dem verdutzten Hippie aus der Hand.
- Alter?
- Schicksal wende dich.
- Ey, das Märchen mit dem Prinzen oder was, denkst du, ich bin stoned?
- Kein Prinz.
- Türlich nicht. Eh dich ein Vogel frisst und an deinem Gift verreckt ...
- Rücksicht ist keine Tugend, denkt man an seinen eigenen Vorteil.
- Mann, und das Laster ist kein Laster, wenn ...
- Im Sinne einer sozialen Moral oder ...
- Meines mir überwichtigen persönlichen Glücks, Schlaufrosch, beides natürlich.
- Glück ist nicht Rausch, denk an dein Karma.
- Scheiß drauf, gib Haut, Baby!
Um ein Haar wäre es um die Kröte geschehen gewesen. Der Hippie wetzte schon das Messer. Da gelang der Kröte das Unmögliche. Sie überzeugte ihren Henker, dass er mehr von ihr hätte, wenn er sie nicht tötete. Stattdessen sollte er das Rauschmittel direkt aufnehmen, indem er die Zunge über ihre warzige Pelle gleiten ließ. Die Wirkung wäre die gleiche, versicherte die Kröte. Die Quelle jedoch wäre unerschöpflich. Der Hippie war begeistert. In einer kleinen Dose trug er die Kröte nun immer bei sich, und kamen seine Hippiekumpels zu Besuch, wurde sie wie ein Joint durch die Runde gereicht. Die Kröte aber hatte das Leben als Dauerlutscher bald dicke. Die großen, kraftlosen Zungen und der schlechte Atem ihrer Schmarotzer erfüllten sie mit Abscheu und sie gewann die Überzeugung, der Tod wäre letztlich die bessere Wahl gewesen. Auf dem Gipfel ihrer Not schrieb sie einen Brief an den Primas der »Orthodoxen Kirche in Amerika« und bat um Aufnahme in die nächstgelegene Diözese. Es war ein herzerreibendes Dokument irdischer Reue. Aber es kam nie eine Antwort.

Grau ist alle Theorie. Stefan machte also doch noch Bekanntschaft mit seinem Über-Ich. Und diesmal triumphierte das Abstoßende. Es war grotesk, da besaß er eine Gabe wie Jesus, mit umgekehrten Vorzeichen, gut, aber immerhin, und traute sich nicht, auch nur den Daumen zu heben, weil er fürchtete, einen unkontrollierten Schuss abzugeben. Sein eigener Körper ängstigte ihn. Was, wenn nicht nur seine Hand töten konnte, sondern auch seine Worte, Blicke und Gedanken? Er beschloss, sich genau zu beobachten, um sich gegebenenfalls selbst in die Parade zu fahren. Zwar wusste er nicht, ob seine Fähigkeiten überhaupt von Dauer sein würden, im Augenblick jedoch hielt er sich für ein unkalkulierbares Risiko. Ein falsches Wort, eine erniedrigende Situation und er würde hochgehen wie ein Fass Benzin.
Dann geschah die Sache mit der Festplatte. Er konnte sich ja schlecht für immer einsperren. Also kratzte er seinen verbliebenen Mut zusammen, klemmte den kaputten Rechner unter den Arm und machte sich auf den Weg. Als er den Laden betrat, hatte er gar kein schlechtes Gefühl, eigentlich hatte er gar kein Gefühl, doch das änderte sich, sowie der Service-Mitarbeiter den Mund aufmachte. Seine Reaktion nach der zweiten (genau wie die erste) unvorhergesehenen Tat, der Hinrichtung des nassforschen Hardwarespezialisten, war heftig. Kaum hatte er abgedrückt, ja, noch während er die verfluchte Bewegung ausführte, riss er den Kopf herum. Der Körper folgte mechanisch. Als wüsste es, wo es gebraucht wird, sackte ihm das Blut in die Beine. Er war blind vor Ekel und Entsetzen. Hätte er nur Augen gehabt. Wäre er in diesem schicksalhaften Moment fähig gewesen zu sehen. Wenn schon nicht den leicht irritierten, aber höchst lebendigen Service-Mitarbeiter, so doch wenigstens die Schwierigkeit seiner Lage, ihre Verzweiflung und Hässlichkeit und ihren Widersinn und dazu die Verbrechen, die er vielleicht noch begehen würde (er hätte sich augenblicklich gestellt). Er musste fort von hier, fort von allem, so schnell und unauffällig wie möglich. Mit langen Schritten steuerte er auf den Ausgang zu. Niemand stellte sich ihm in den Weg, niemand hielt ihn auf (weshalb auch). So gelangte er in sein Versteck, äußerlich unversehrt, doch in seinen Adern floss das Öl, schwarz und zäh.



Ein strahlender Morgen


Niemand vermochte mit Sicherheit zu sagen, wie das Metallröhrchen von der Größe einer Zigarette, das fröhlich Cäsium-137 in die Atmosphäre abgab, unter die Stargarder Straße gelangt war. Vielleicht hatte Sternberg ja recht und die Weltverschwörung war längst im Gange. Wahrscheinlicher war, dass es sich bei dem Röhrchen um einen Dichtigkeitsmesser handelte, der bei Tiefbauarbeiten, die letzten an dieser Stelle hatten vor rund zwanzig Jahren stattgefunden, einfach in der Baugrube vergessen worden war. Der Reporter der Bildzeitung, angeödet von so einer Kindergeschichte, fragte sich, welche Alge ihn eigentlich zu diesem Termin eingeteilt hatte. Vor Wut vergaß er sogar, bei seinem Bericht ein bisschen zu übertreiben. Er diktierte der Redaktion einen den Tatsachen ziemlich genau entsprechenden, entsprechend todlangweiligen Text in die Leitung, der Fotograf schoss ein paar Fotos von der aufgerissenen Asphaltdecke und der THW-Zivi genoss seine fünf Minuten Ruhm in der virtuellen Quasselbude. Ende der Nachricht.
Verwickelter war die Situation, in der sich die Praktikantin S. befand. Beflissen, ihren ersten Vor-Ort-Auftrag mit Bravour zu erledigen, war sie außerordentlich fix gewesen und zeitig in der Markgrafenstraße angelangt, zeitiger sogar als das einbestellte Spezialeinsatzkommando. Als handele es sich um einen Interviewtermin mit Lachshäppchen und levitiertem Wasser, war sie, bewaffnet mit einem Aufnahmegerät und ihrer Digitalkamera in Richtung der Nummer 11 und dann immer den Stimmen nach, die weithin hörbar durchs Treppenhaus hallten, geradewegs nach oben marschiert. So ein Häschen und dann dieser Anblick, ganz und gar unglamourös: ein Haufen aufgeregter alter Männer im ortstypischen Rentnerdress, die wild durcheinander brüllten.
- Entschuldigung, worum geht es denn, bitte?
Scheinbar hatte die Polizei sich einstweilen aus dem Staub gemacht, was Stoff zum Politisieren bot bis hin zu der Frage, ob der Innenminister nicht eine Fehlbesetzung war. In Wirklichkeit warteten die Beamten gut getarnt in ihrem Wagen, jemand musste schließlich das SEK in Empfang nehmen.
- Hallo, jetzt reden Sie doch nicht alle gleichzeitig, man versteht ja hinterher kein Wort auf der Aufnahme.
Einer der Greise ereiferte sich besonders. Irgendetwas Abscheuliches war seiner geliebten Katze zugestoßen und er, der Verrückte hinter der Tür, ein Nichtsnutz, eine Schande, geiferte der Alte, habe todsicher seine Finger im Spiel gehabt (wie recht er hatte). Leider habe er keine Beweise. Tja, denn. Eine Story ergab das noch nicht. Du lieber Himmel, und nun?
Wie heißt es immer so schön: Dann muss alles sehr schnell gegangen sein. Wie gelangte die Praktikantin S. in die Wohnung von Stefan K.? Hatte sie in aller Unschuld einfach geklopft und um eine Stellungnahme gebeten oder hatte der Täter sie hinterlistig zu sich hineingelockt, um sie als Geisel zu nehmen? Die hierzu vorliegenden Zeugenaussagen widersprechen sich und genau genommen sind sie nichts wert. Während zwei Anwohner behaupten, sich an keine weibliche Person im Treppenhaus erinnern zu können, schwört ein anderer Stein und Bein, das Mädchen zu kennen, es ziehe von Tür zu Tür und gehöre wohl den Russelliten an. Sicher ist nur, dass kurz darauf das Treppenhaus gesperrt wurde und Beamte mit Sturmhauben und schusssicheren Westen in Stellung gingen. Stefan, der zwischenzeitlich mit vagem Interesse, so als gehe es ihn überhaupt nichts an, vom Fenster aus das Eintreffen der Polizeiwannen und Rettungskräfte mitverfolgt hatte, wandte sich um. Hier setzt die Tonbandaufnahme ein, die uns aus verlässlicher Quelle zugespielt wurde.
- Noch mal, was hast du gesagt?
- Ich ...
Ja, was war es noch gleich? Warum er sich eingesperrt habe, wollte sie wissen, ob er sich vor jemandem fürchte, sehr einfach eigentlich. Und Stefan erzählte. Weil die Zeit ihm jetzt doch zu drängen schien, raffte er den Bericht hier und dort und veränderte den Ton seiner Stimme nach Höhe und Stärke, um die Bedeutung einer Stelle unmissverständlich zu kennzeichnen, einiges allzu Beiläufige ließ er ganz weg, und schaffte es so schließlich bis zum Ende der Geschichte. Oder doch beinahe bis zu ihrem Ende. Als das Sturmkommando durch die Tür rollte, war wenigstens alles gesagt, es fielen zwei oder drei Schüsse, oder war es nur einer? Jedenfalls war es ausgestanden. Abgesehen vom Täter waren keine Opfer zu beklagen.
In der Redaktion wurde die Praktikantin S. gefeiert wie eine vom Fronteinsatz heimkehrende Kriegsreporterin. Ihre Story wurde als Fortsetzungsroman deklariert, man konnte dem Leser schließlich nicht jede Tatsache zumuten, und war der Auflagenknüller der Saison. Bei den Kollegen sorgte sie für anhaltendes Staunen, zeugte sie doch von einem Gespür für die Abgründe der menschlichen Seele, wie man sie von einer Praktikantin nicht unbedingt erwartet. Von nun an ging es steil bergauf für sie. Die meisten Redakteure begegneten ihr mit Achtung. Einzig Kollege F., der alte Platzhirsch, schnitt sie demonstrativ und nährte einen von sexuellen Erniedrigungsfantasien unterkellerten Hass gegen sie. Aber das steckte sie leicht weg.



Die beiden Mits


Mit einer entsprechenden Portion Selbstverliebtheit lässt sich das ganze Dasein als bloße Abfolge von Pointen verstehen. Menschen und Ereignisse kommen vor, doch ihr einziger Zweck scheint der, dem in seinem eigenen stellaren System als Mittelpunkt ruhenden Ich Impulse zu senden für das persönliche Befinden und Fortkommen. Noch der Tod eines anderen ist dem Narziss nicht zu fern, um ihn seinem Leben anzuverwandeln. Die Neriodow-Mandel-Theorie besagt den Zusammenhang aller Bewegungen im Universum. Im Unterschied zu vergleichbaren Beschreibungen dynamischer Systeme, etwa bei Monroe und Forrester, schließt sie auch die Bewegungen des Geistes und der Seele mit ein. Sämtliche Geschehnisse und Auswirkungen sind Teil eines wechselseitigen Spiels. Dein Glück bedeutet immer das Unglück eines anderen irgendwo usw. Der extrem narzisstisch Veranlagte aber sieht nur die eine Seite. Nie würde er auf die Idee kommen zu fragen, welcher Art sein ANTEIL am Spiel ist. Er IST das Spiel. In unserer vom Terror der Demokratie bestimmten Welt hat sich der Narzissmus in dieser Form rar gemacht. Ein ganzes Sonnensystem vermag heute kaum noch jemand um sich zu konstruieren. Dafür geht die Angst um, jeder vergessene Koffer, jedes anonyme Paket könne einen Springteufel enthalten, dazu bestimmt, lachend und feixend unser Spiel zu beenden. Wie alles andere auch ist der Narzissmus ein globales Phänomen geworden.

Mit wenigen Mausklicks kann jedes Kind in Erfahrung bringen, wie sich mit frisch gepflückten Pfifferlingen ein Cäsium-137-Prüfstrahler herstellen lässt. Das ist der Realismus in seiner reinsten Form. Die Leute lieben diesen Dreck so sehr, dass sie ihn für die Wirklichkeit halten. Ein Mensch, die spärlichen Überreste seiner Lebenskraft darauf verwendend, seine rechte Hand zu heben, zwei Finger an seine Schläfe zu halten und in der festen Überzeugung, sein Leben zu beenden, abzudrücken, so ein Mensch aber ist für die allermeisten von uns einfach ein armer Spinner, ein Opfer seiner, man muss es sagen, krankhaften Imagination. Die ein oder andere Schlagzeile zu den Ereignissen in der Markgrafenstraße fiel denn auch auffallend dialektisch aus. In Kreuzberg, so wurde beispielsweise vermeldet, habe ein Sondereinsatzkommando einen Amokläufer nach allen Regeln der Kunst außer Gefecht gesetzt, bei der Leiche sei jedoch überraschenderweise (Überraschung, in der Tat) keine Waffe gefunden worden. Was ja eines ganz gewiss nicht hieß: nämlich dass es keine gab.