Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.05.2006. In der NZZ beschreibt Gilles Kepel die Strategien von Al Qaida, um eine Hegemonie in der islamischen Welt zu erreichen. Die SZ begrüßt zum Abschluss des Theatertreffens die Rückkehr des dokumentarischen Theaters. Die Welt macht auf den heute beginnenden Kongress des PEN Clubs in Berlin aufmerksam und fordert eine Diskussion über Polen. Die Welt schildert auch die Tücken des Urheberrechts in Zeiten der Digitalisierung. In der taz fragt Zafer Senocak: Gibt es einen Schutz des Staates vor dem Islam? In der FAZ am Sonntag spricht Geert Mak über die Ausbürgerung Ayaan Hirsi Alis. Die New York Times fragt: Welches sind die 100 besten amerikanischen Romane der letzten 25 Jahre?

NZZ, 22.05.2006

Eine Forschergruppe um den französischen Islamwissenschafter Gilles Kepel hat in dem gerade auf Deutsch erschienenen Buch "Al-Qaida. Texte des Terrors" (Piper) im Internet kursierende Texte übersetzt, die den Qaida Führern Usama bin Ladin, Aiman al-Zawahri, Abdallah Azzam und Abu Mussab al-Zarkawi zugeschrieben werden. Im Interview erklärt Kepel: "Der Kern der Qaida-Ideologie besteht darin, ihren Anhängern zu erklären, dass es kein wichtigeres Ziel gibt als den bewaffneten Jihad und dass al-Qaida mit Hilfe dieses Jihad nicht nur die westliche Welt zerstören, sondern vor allem die Macht in den islamischen Ländern erobern und die 'vom Islam abgefallenen' Regierungen stürzen wird. Schließlich weisen diese Texte aus, dass al-Qaida in den islamischen Ländern ein ihr eigenes Verständnis von Religion durchsetzen will, das sich unmissverständlich von dem der anderen islamischen Strömungen abhebt." Die Qaida-Ideologen versuchten "auf diese Weise, eine Deutungshoheit, eine Hegemonie über die anderen Strömungen in der islamischen Welt zu erlangen."

Weitere Artikel: Angelika Timm stellt in einem Schauplatz Israel die Kunstakademie Bezalel in Jerusalem und ihren Gründer Boris Schatz vor. Christoph Funke resümiert das Berliner Theatertreffen. Hans Bernhard Schmid schreibt über ein Symposium der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft zur Frage "Was ist Philosophie?"

Besprochen werden Händels Oper "Orlando" im Münchner Nationaltheater, die Aufführung von Elfriede Jelineks "Babel" am Luzerner Theater und der bisher nur auf Französisch erschienene Band von Farhad Khosrokhavar, der Gespräche mit islamischen Terrorverdächtigen führte: "Quand al-Qaida parle. Temoignages derriere les barreaux" (Grasset).

Welt, 22.05.2006

Tilman Krause macht auf den heute in Berlin beginnenden Kongress des internationalen PEN aufmerksam und meldet gleich auch Wünsche an: "Noch ist nicht ersichtlich, ob der PEN das Thema Polen auf die Agenda setzen wird. Doch in diesem Land, das gegenwärtig unter einer nationalistischen, fundamentalkatholischen Regierung lebt, sind bereits gewichtige Beschneidungen der Meinungsfreiheit zu verzeichnen sowie Benachteiligungen von Autoren, die Minderheiten angehören. Vor allem jüdische und schwule Schriftsteller und Publizisten fühlen sich nicht zuletzt durch das aggressive Trommelfeuer des regierungsnahen Radio Maria täglich massiv unter Druck gesetzt und bedroht... Es wäre sehr zu wünschen, dass diese Vorgänge auf dem Berliner Treffen gebührend angeprangert und nicht im Sinne einer falschverstandenen Feierlaune doch nur wieder unter den Tisch gekehrt werden."

Uwe Wittstock macht mit den Tücken des neuen Urheberrechts in Zeiten der Digitalisierung bekannt: "So soll nun allen 'Bibliotheken, Museen oder Archiven, die keinen unmittelbaren oder mittelbaren wirtschaftlichen oder Erwerbszweck verfolgen', gestattet sein, alle veröffentlichten Werke - selbst wenn sie bei ihnen gar nicht in Buchform vorhanden sind - an beliebig vielen elektronischen Leseplätzen den Nutzern anzubieten. Das kommt einer partiellen Enteignung der Verleger und Urheber gleich." Hierzu passt Nathan Gardels' Magazin-Interview mit dem Zukunftsforscher Alvin Toffler, der unter anderem über den Übergang von der Massen- zur Wissensgesellschaft und über das immer schwerer zu schützende geistige Eigentum spricht.

Weitere Artikel: Mariam Lau berichtet über die Inhaftierung des laizistischen iranischen Philosophen Ramin Jahanbegloo, die zu zahlreichen internationalen Protesten geführt hat - Jahanbegloo soll inzwischen in ein Krankenhaus verlegt worden sein. Hanns-Georg Rodek resümiert das Wochenende in Cannes und feiert Davis Guggenheims Dokumentarfilm "An Inconvenient Truth", der Al Gores Engagement gegen die globale Erwärmung zeigt. Peter Dittmar kommentiert eine Direktive der EU über den Bleianteil in Produkten, welche die Fertigung von Orgelpfeifen erschweren wird. Gerhard Gnauck verfolgte den deutschen Buchmessenschwerpunkt in Warschau.

Besprochen werden eine Ausstellung über das Oeuvre der Architekten Herzog und de Meuron in München, Händels "Orlando" ebendort, ein Konzert Van Morrisons in Berlin, und die Ausstellung "Weltsprache Abstraktion: Gestalt, Magie, Zeichen" im Ethnologischen Museum Berlin-Dahlem.

Auf der Forumsseite schreibt Arjan Paans, der Deutschlandkorrespondent des Algemeen Dagblad, dass die Niederlande bei der Ausbürgerung Ayaan Hirsi Alis zwar nach den Regeln handeln - aber wie sinnvoll sind die Regeln? "Wir brauchen ein Migrationsgesetz, das voll integrierte Ausländer nicht wegen dummer Formalitäten abschiebt."

TAZ, 22.05.2006

Das wirkliche Integrationsproblem stellt sich nicht zwischen Türken und Deutschen, schreibt Zafer Senocak auf der Meinungsseite, sondern zwischen Islamisten und dem Staat, und rät, diesen "Kulturkampf" in der Türkei zu studieren. "Die strenge Trennung zwischen Staat und Religion, zwischen dem öffentlichen Raum und der Privatsphäre, die Verbannung der Religion ins Private, hat in der Türkei keine wirklich aufgeklärte, sondern eher eine schizophrene Gesellschaft geschaffen. Es gibt keinen wirksamen Schutz des Staates vor dem Islam. Kann ein Muslim behaupten, der Koran sei nicht Richtschnur in seinem Leben? Ein türkischer Politiker jedenfalls darf sich nicht offen zum Koran bekennen, ohne als Bedrohung der säkularen Ordnung der Türkei angesehen zu werden. Doch sind türkische Politiker deshalb nicht Muslime?"

Der Kunsttheoretiker Michael Lingner warnt in einem aus der Zeitschrift Texte zur Kunst für das Feuilleton übernommenen Artikel alle Künstler davor, sich dem global erfolgreich agierenden Artist Pension Trust anzuschließen, der Alterssicherung und Karriereförderung für ihm überlassene Kunstwerke verspricht. "Was für den derart unangreifbar gewordenen embedded artist eine nicht zu unterschätzende psychologische Funktion hat, läuft wirtschaftlich gesehen auf nichts anderes als eine Kartellbildung hinaus. Angestrebt wird eine weitestgehende Marktbeherrschung, um letztlich die Preise diktieren zu können. Aber anders als etwa bei Rohstoffpreisen wie Wasser oder Öl bedeutet jeder Versuch der Kunstmarktkontrolle auch eine gezielte Beeinflussung der Meinungsbildung, der Wertvorstellungen und Selektionsmechanismen im Kunstsystem."

Weiteres: Katrin Bettina Müller resümiert eine eher zähes Berliner Theatertreffen mit zu viel Tschechow für ihren Geschmack. Dorothea Marcus notiert bei der Bonner Biennale, die indische Tanz- und Theatergruppen in hierzulande noch nicht dagewesenem Umfang präsentierte, eine Tendenz zum Politischen. Cristina Nord meldet sich aus Cannes, wo sie Gena Rowlands "Southland Tales" beeindruckt haben. Berlin braucht nicht zwei Ausstellungen über Vertriebene, meint Christian Semler, und favorisiert die Schau des Bonner Hauses der Geschichte.

Und Tom.

FR, 22.05.2006

Harry Nutt überlegt, wie man künftig mit dem Thema Vertreibung umgehen soll: "Informative und sinnlich ansprechende Ausstellungen" findet er richtig. "Ein Zentrum gegen Vertreibung mit eigenen Schwerpunktsetzungen zur Genozidforschung", wie es Vertriebenen-Funktionärin Erika Steinbach plant, "wirft jedoch ganz andere Fragen auf, um die wohl weiter gerungen werden wird."

Weiteres: Hans-Klaus Jungheinrich resümiert die vier Uraufführungen bei der 10. Musiktheater-Biennale in München. Sylvia Staude schreibt über Tanztheater beim Wolfsburger Movimentos-Festival.

FAZ, 22.05.2006

In der FAZ vom Sonntag meint der Publizist Geert Mak im Interview über Ayaan Hirsi Ali: "Ihre Ansichten waren immer extrem. Selbst die sogenannten Freunde aus ihrer Entourage diskutierten immer heftiger, weil Ayaan sich nie darauf beschränkte, bestimmte Strömungen des Islams anzuprangern, sondern weil sie die ganze Religion als große Gefahr darstellte." Den Entzug der niederländischen Staatsbürgerschaft, der Hirsi Ali droht, weil sie die Einwanderungsbehörde belogen hat, hält Mak allerdings für falsch: Sie müsse "um jeden Preis verteidigt und geschützt werden".

Eher missmutig berichtet Eleonore Büning vom Finale der Münchner Musiktheaterbiennale und der vorletzten Staatsoper-Premiere unter Sir Peter Jonas, Händels "Orlando". Das Orchester "präsentierte sich in flacher, farbarmer Verfassung: ungeschmeidig und wenig differenzierend in der Dynamik, sogar heftige Wackler waren zu hören. Wieder - ein letztes Mal - führte David Alden Regie, gab es absurde Gags zu bestaunen, quietschbunte Pointen, wie sie die Gay Community der Operngänger mit Entzücken erfüllen. Aus der Politesse Dorinda wird eine lackstiefelbewaffnete Domina, Orlando verstrickt sich während seiner windungsreichen Wahnsinnsarie 'Stigie larve' laokoonmäßig in einem Kabelsalat. Der Aufmarsch an militärischem Spielzeug, Krach und Rauchentwicklung ist beträchtlich, der Wald vor lauter Raketenbäumen nicht mehr zu sehen."

Weiteres: Christian Geyer warnt davor, in Sachen Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland eine Schweigespirale in Gang zu setzen. "Soll man seine Kinder nicht mehr davor warnen, nachts mit der S-Bahn in die Außenbezirke zu fahren?" Pedro Almodovar ist mit "Volver" der Liebling von Cannes, berichtet Verena Lueken, die andere Wettbewerbsbeiträge dagegen recht unzugänglich findet. Jürgen Kaube lässt sich von den finnischen Eurovision-Siegern Lordi nicht einschüchtern. Auf einer Gedenkveranstaltung der Berliner Westend-Kliniken hat sich Andreas Kilb unter anderem Gottfried Benns adjektivreiche Sektionsprotokolle aus dem Jahr 1912 angehört. Auf einer Anhörung des Europarats zu einem Bericht über das Verhältnis von Meinungsfreiheit und Glauben hat Alexandra Kemmerer noch wenig Konkretes erfahren. Jordan Mejias zitiert aus den amerikanischen Zeitschriften The Atlantic Monthly, Harper's und Foreign Policy.

Im Medienteil berichtet Michael Hanfeld von der Jahrestagung des Netzwerks Recherche, die sich hauptsächlich mit der Zusammenarbeit von Journalisten mit dem BND beschäftigte. Auf der letzten Seite meldet Swantje Karich, dass der iranische intellektuelle Ramin Jahanbegloo am 3. Mai auf dem Teheraner Flughafen festgenommen wurde und seitdem an unbekanntem Ort festgehalten wird. Reinhard Olt berichtet über die Probleme der ungarischen Minderheit in Rumänien, die von der EU-Kommission ignoriert werden. Und Ursula Böhmer sieht sich die deutsche Kinder- und Jugendtheaterszene an.

Besprochen werden Jan Bosses "überdrehte" Inszenierung von Eugene Ionesocs Dramaerstling "Die kahle Sängerin" am Schauspielhaus Bochum, die "erhellend gehängte" Rembrandt-Schau in der Kasseler Gemäldegalerie, ein Auftritt der Spinto Band in Berlin, und Bücher, darunter Stephane Audeguys Romandebüt "Der Herr der Wolken" und ein Band über "Das Beste an Deutschland" in 250 Beispielen (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 22.05.2006

Die New York Times hat mal wieder eine dieser beliebten literarischen Umfragen durchgeführt. A. O. Scott schreibt: "Anfang des Jahres sandte Sam Tenenhaus, Redakteur der Book Review einen kurzen Brief an etwa hundert prominente Autoren, Kritiker, Redakteure und andere Weise aus, mit der Bitte, dass sie 'das beste Werk amerikanischer Fiktion in den letzten 25 Jahren' benennen. Die Resultate führen zu einem - teils überraschenden, teils vorhersehbaren - reichen, wenn auch parteiischen Bild von der amerikanischen Literatur." Auf Platz 1 der Liste steht Toni Morrisons "Beloved".

SZ, 22.05.2006

Peter Laudenbach resümiert das Berliner Theatertreffen und begrüßt die Rückkehr des lange totgeglaubten dokumentarischen Theaters: "Wie der Dokumentarfilm seit einigen Jahren eine ganz neue Faszinationskraft entwickelt, so versuchen im Theater Regisseure mit den unterschiedlichsten Arbeitsstrategien den leerlaufenden Simulationsspielen der Bühne mit Wirklichkeitsrecherchen zu entkommen. Falk Richter montiert in die kapitalismuskritischen Paranoia-Welten seiner Stücke Interviewpassagen mit Unternehmensberatern ('Unter Eis'), Hans-Werner Kroesinger entwickelt klug-spröde Theater-Installationen über die Treuhand, arabische Selbstmordattentäter ('Suicide Bombers on Air') oder die südafrikanische Wahrheitskommission, Feridun Zaimoglu montiert Interviews mit radikalen jungen Musliminnen ('Schwarze Jungfrauen')." In einem zweiten Artikel werden die Preisträger des Festivals aufgezählt.

Weitere Artikel: Steffen Kraft berichtet über eine beim Bundestag einreichte Petition, die die Ausbeutung von Praktikanten unterbinden will. Henning Klüver stellt einige italienische Neuerscheinungen (darunter Osti Guerrazzis "Caino a Roma") vor, die belegen, dass die Kollaboration der Italiener beim Judenmord intensiver war, als es dem nationalen Selbstbild bisher entsprach. Susan Vahabzadeh lässt einige Filme aus Cannes Revue passieren, ohne ein Meisterwerk gefunden zu haben.

Besprochen werden Händels "Orlando" unter Ivor Bolton und David Alden in München, Jens-Daniel Herzogs Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs "Greifswalder Straße" in Mannheim, ein Beethoven-Abend des Pianisten Andras Schiff in München, Michael Glawoggers Dokumentarfilm "Workingman's Death", die Pariser Ausstellung "La Force de l'art", welche laut Johannes Willms "die vitale Fülle zeitgenössischen Kunstschaffens in Frankreich dokumentieren" soll und dabei scheitert, einige DVDs, darunter mit Leni Riefenstahls Olympiafilm und einigen denkwürdigen Auftritten Serge Gainsbourgs und Bücher, darunter Walter Kempowskis "Hamit - Tagebuch 1990".

Auf der Medienseite empfiehlt Franziska Augstein eine Dokumentation zum 20. Jahrestag des Historikerstreits heute Abend auf 3sat.