Heute in den Feuilletons

Komplex, emotional und verständlich

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.01.2009. In der taz entschuldigt sich der türkische Publizist Sahin Alpay bei den Armeniern, auch wenn sie seinerzeit mit westlichen Kräften im Bündnis standen. Im Guardian fordert die Altermondialistin Naomi Klein: Kauft nicht bei Israelis! In der FAZ fordert Aravind Adiga westliche Unterstützung für Indien gegen den von Pakistan zugelassenen Terrorismus. In der SZ plädiert die Philosphin Martha Nussbaum für eine multikulturelle Gesellschaft.

TAZ, 12.01.2009

Auf der Meinungsseite entschuldigt sich der türkische Publizist Sahin Alpay mit zusammengebissenen Zähnen für den türkischen Mord an den Armeniern. Zu bedenken sei dabei allerdings, wie es beim Zerfall des Osmanischen Reichs zuging: "Ermutigt von westlichen Mächten wie Großbritannien und Frankreich, die das Osmanische Reich beerben wollten, kollaborierten nationalistische Armenier, die einen unabhängigen Staat anstrebten, mit Russland gegen das Imperium, dem sie angehörten. Sie verlegten sich auf terroristische Aktionen und töteten zahlreiche ihrer muslimischen Mitbürger. Die osmanische Regierung jener Zeit - besser gesagt: eine innere Clique, die von Innenminister Talat Pasha angeführt wurde - entschied daraufhin, zur Vergeltung alle Armenier aus dem Kriegsgebiet in die syrische Wüste umzusiedeln."

Im Kulturteil stellt Claudia Gass den Schauspieler, Dramatiker und Regisseur Jan Neumann vor, dem es darum geht, "das Du und das Ich zu verstehen". Besprochen werden die Ausstellung "Es ist einfach nicht einfach" im Museum der bildenden Künste Leipzig, Volker Löschs Inszenierung des "Hamlet" in Stuttgart und Andreas Maiers Roman "Sanssouci" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 12.01.2009

Jörg Plath stellt den bulgarischen Autor Georgi Gospodinov vor, der zur Zeit als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Berlin lebt: "Das Banale und das Tragische sind Zwillinge bei Gospodinov, nicht anders als die Postmoderne und die Schwermut. 'Damals in den neunziger Jahren war die Postmoderne in Bulgarien unheimlich aktuell. Das war eine karnevaleske Zeit, wir haben erstmals bemerkt, was wir alles anstellen können mit der Sprache, auch Blödsinn! Aber in postmodernen Romanen wird nicht gestorben, es gibt keine privaten Apokalypsen - im "Natürlichen Roman" schon. Er handelt vom Scheitern.'"

Weiteres: Reinhold Vetter schildert, wie sich Deutschland und Polen bei den bevorstehenden Gedenktagen in diesem Jahr - den deutschen Überfall auf Polen, die Öffnung der Mauer - um Annäherung bemühen. Besprochen werden eine Inszenierung von Thomas Bernhards "Minetti" in Paris mit Michel Piccoli und die bald zu Ende gehende Ausstellung zu Edward Hopper und seinem Nachbild in der Kunsthalle Wien.

Weitere Medien, 12.01.2009

Kauft nicht bei Ju... äh Israelis!, fordert Naomi Klein im Guardian. Die Altermondialistin weist in ihrem Artikel darauf hin, dass sogar einige Israelis zum Boykott israelischer Produkte aufrufen: "Und trotz dieser klaren Aufrufe wollen viele nicht mitmachen. Die Gründe sind komplex, emotional und verständlich. Aber sie sind einfach nicht gut genug. Ökonomische Sanktionen sind das effektivste Werkzeug im gewaltfreien Arsenal: Sie nicht zu gebrauchen, wäre aktive Komplizenschaft."

Auch der italienische linke Gewerkschaftsverband Flaica Cub hat zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgefordert, berichtet der Standard. In Italien kam es daraufhin immerhin zu Protesten.
Stichwörter: Israelis, Italien, Klein, Naomi

Welt, 12.01.2009

Michael Pilz gratuliert dem Label Motown zum Fünfzigsten. Wieland Freund freut sich, dass der Autor Richard Yates weithin wiederentdeckt wird - nun sogar mit einer Verfilmung von "Zeiten des Aufruhrs", die in dieser Woche in Deutschland anläuft. Gabriela Walde gratuliert dem Berliner Haus der Kulturen der Welt in Berlin zum Zwanzigsten. Peter Dittmar schreibt zum traurigen Ende es Porzellanherstellers Rosenthal. Besprochen werden Volker Löschs "Hamlet"-Inszenierung in Stuttgart und neue DVDs, darunter eine Carmen-Miranda-Edition.

Auf der Magazinseite schreibt Flora Wisdorf über Fremdenfeindlichkeit in Südafrika.

Ach und noch was: Die Köchin Sara Wiener posiert für eine qualitätsjournalistische Bilderstrecke in Mey-Unterwäsche.

FR, 12.01.2009

Robert Kaltenbrunner blickt auf die neuesten Trends im europäischen Städtebau, etwa den kosovarischen "Turbo-Urbanismus" von Prishtina: "Ein weiterer schöner Begriff ist der vom 'Familienurbanismus': Wenn von einem Clan, was häufig der Fall ist, gebaut wird, erhalten alle (männlichen) Familienmitglieder das Gleiche. Daher haben alle Brüder ein identisches Haus (häufig bis in die Inneneinrichtung), damit es keinen Streit gibt. So resultiert aus heterogenen Elementen eine paradoxe Botschaft: Der explosionsartige Bauboom erodiert das kommunale Gemeinwesen; zugleich entstehen architektonische Strukturen, die eine andere, transitorische Stadtidentität erzeugen."

Weiteres: Jürgen Otten preist die von Patricia Kopatchinskaja und Fazil Say eingespielte Kreutzersonate als "Naturereignis, gegen das sogar die Aufnahme des legendären Duos Martha Argerich/Gidon Kremer beinahe als ein laues Lüftchen bezeichnet werden muss". Konsequent und unterhaltsam, aber lange nicht so verstörend wie den Hamburger "Mara" fand Stefan Keim Volker Löschs Stuttgarter "Hamlet". Bestens amüsiert hat sich Christoph Schröder an einem Abend im Mousonturm mit Wiglaf Droste und dessen gesammelten Friseur-Namen ("Fönix", "Krehaartiv", "Hair Force One"). In Times mager setzt Hans-Jürgen Linke trotz einiger Rückschläge auf die Nasa. Besprochen wird zudem James Meeks Afghanistan-Roman "Fremdland".

FAZ, 12.01.2009

Der Autor und Booker-Preisträger Aravind Adiga ist enttäuscht über das Ausbleiben von Sanktionen gegen die pakistanische Regierung wegen der seiner Meinung nach eindeutig von Pakistanis verübten Anschläge in Bombay. Umso erfreulicher findet er die indischen Reaktionen: "Mich und andere hierzulande erfüllt die indische Reaktion auf den Anschlag mit Stolz. Es hat keine antimuslimischen Racheakte gegeben. Bei Regionalwahlen nach dem 26. November wurde den Hindunationalisten, die aus dem Terroranschlag Kapital schlagen wollen, eine Abfuhr erteilt. Die Inder wollen eine vernunftbetonte, keine chauvinistische Politik, die meisten lehnen ein militärisches Vorgehen gegen Pakistan ab. Soll die Vernunft aber weiterhin die Oberhand behalten, braucht Indien Unterstützung."

Weitere Artikel: An Tag zwölf des gedenkreichen Jahrs 2009 ist schon Zeit für den ersten Metatext. Der Zeithistoriker Martin Sabrow denkt über eine scheinbar paradoxe "tektonische Verschiebung" nach, die sein Fach betrifft: "Die Zeitgeschichte hat sich über die Universitäten und akademischen Forschungseinrichtungen hinaus in den Raum der gesellschaftlichen Aufarbeitung verbreitert, und in der öffentlichen Wahrnehmung haben sich die Akzente von der akademischen Grundlagenforschung hin zur angewandten Zeitgeschichte verschoben." In der Glosse schildert Jürg Altwegg die Empörung, die die französische Justizministerin Rachida Dati ausgelöst hat, als sie wenige Tage nach der Geburt ihres Kindes zur Arbeit zurückkehrte. Irene Bazinger hat erlebt, wie in Berlin in szenischer Lesung des 80. Geburtstags von Heiner Müller gedacht wurde. Marcus Jauer war dabei, als in Berlin geschichtsbewusste Linke zum Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht demonstrierend durch die Straßen zogen.

Erfreut vermeldet Andreas Kilb den Berliner Ankauf von Jean-Francois de Troys Gemälde "Die Lesende". Nicht schlecht fand Gerhard Rohde die beim Bad Kissinger "Winterzauber" uraufgeführte Vervollständigung von Felix Mendelssohn-Bartholdys "Klavierkonzert Nummer 3 in e-Moll durch R. Larry Todd. Auf der Medienseite versucht sich Michael Hanfeld vorzustellen, wie sich Gruner und Jahr die Zusammenlegung seiner Wirtschaftsredaktionen vorstellt.

Die allmontäglichen Geburtstagsglückwünsche gehen an: den Autor Haruki Murakami (60) - der Artikel ist online, den Designer und Innenarchitekten Philippe Starck (60), den Ex-Stone Mick Taylor (60), den Autor, Komponisten, Musiker, Filmemacher Hartmut Geerken (70) - Website, den Literaturwissenschaftler Helmut Lethen (70) und - ganz knapp - den Museumsdirektor Jean Christophe Ammann (70).

Besprochen werden die Oberhausener Uraufführung von A.L. Kennedys Stück "Altweibersommer", die Ausstellung "So weit kein Auge reicht" mit Fotografien von Fritz Tiedemann in der Berlinischen Galerie, und Bücher, darunter David Benioffs Roman "Stadt der Diebe" und eine Theo-Lingen-Biografie (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 12.01.2009

Die in Chicago lehrende Philosophin Martha Nussbaum, die demnächst den mit 100.000 Euro dotierten A.SK Social Science Award des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung bekommt, hält ein flammendes Plädoyer für den Multikulturalismus in den USA und Europa: "Ich denke, dass die Gewissensfreiheit aller es erfordert, den Bürgern breiten Raum zu gewähren, um ihre Gewissenspflichten zu erfüllen, selbst wenn dafür Ausnahmen von Gesetzen nötig sind, die eigentlich für alle gelten. Nur was nach Gesetz im zwingenden Interesse des Staates ist, sollte diesen Raum beschränken können. Ich denke darüber hinaus, dass die Gewissensfreiheit mit jeder Form institutionalisierter Religion unvereinbar ist, und mag diese auch noch so freundlich und unscheinbar sein. Gewissensfreiheit würde eben nicht für alle gelten, wenn eine Regierung eine einzige rechte Lehre verkündet, wenn sie behauptet, dass ausgerechnet diese eine und nicht irgendeine andere religiöse Einstellung uns als Nation definiert." Nussbaum hat ein ganzes Buch über das Thema geschrieben, hier die Besprechung aus der New York Times.

Weitere Artikel: Slavenka Drakulic kritisiert den Fatalismus, mit dem die Kroaten die ausbleibenden Gaslieferungen aus Russland und der Ukraine ertragen. Stephan Speicher verfolgte eine Berliner Diskussion über das Humboldt-Forum. Andrian Kreye gratuliert dem Soullabel Motown zum Fünfzigsten. Lothar Müller verfolgte eine Berliner Heiner-Müller-Gedenklesung. Jeanne Rubner resümiert französische Debatten über Barack Obama - vor allem stellen sich die Franzosen die Frage, ob ein schwarzer Präsident auch bei ihnen möglich wäre. In den "Nachrichten aus dem Netz" greift Niklas Hoffmann die amerikanische Debatte um die Zukunft der Zeitungen (und insbesondere der New York Times) auf.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Kunstsammlungen Auguste Rodins und Sigmund Freuds in Paris, ein neues Violakonzert von Frank Michael Beyer in München, eine Reihe neuer DVDs, ein "Hamlet" in der Regie Volker Löschs in Stuttgart und Bücher, darunter Thomas L. Friedmans neues Buch mit dem bescheidenen Titel "Was zu tun ist - Eine Agenda für das 21. Jahrhundert".

Auf Seite 2 fordert Joschka Fischer: "Europa und Amerika müssen endlich eine Antwort auf die Herausforderung durch Moskau finden."