Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.04.2005. In der NZZ erklärt Florian Coulmas, warum Korea einen Streit mit Japan auf keinen Fall mit den Mitteln des Völkerrechts lösen will. Die FAZ macht sich Sorgen über den dramatischen braindrain des wissenschaftlichen Nachwuchses in China. Alle schreiben liebevolle Nachrufe auf Harald Juhnke, das "Gegenteil von einem anonymen Alkoholiker". Und alle schreiben zum 200. Geburstag Hans Christian Andersens: So war das also mit dem hässlichen Entlein.

NZZ, 02.04.2005

Im Feuilleton erzählt Florian Coulmas (mehr hier) sehr interessant von einem Streit zwischen Korea und Japan um zwei fußballfeldgroße unbewohnte Inseln. Japan machte den Vorschlag, den Fall mit Mitteln des Völkerrechts lösen, und just dies ist für Korea, das einmal mit den Mitteln des Völkerrechts von der Landkarte radiert wurde, ein Graus: "Der vor hundert Jahren geschlossene, vom amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt vermittelte Vertrag von Portsmouth zur Beendigung des Russisch-Japanischen Kriegs machte Korea zum japanischen Protektorat. Roosevelt bekam den Friedensnobelpreis. Korea verlor das Recht, seine außenpolitischen Belange selbst wahrzunehmen."

Weitere Artikel: Uwe Justus Wenzel meditiert in einer Glosse über Leiden und Sterben des Papstes. Andrea Köhler berichtet aus den USA, dass der Streit um die vom Fall Terri Schiavo aufgeworfenen Fragen weitergeht. Richard Merz erinnert an den Tänzer Serge Lifar, der in diesen Tagen hundert Jahre alt würde. Und Joachim Güntner verfasst ein deprimiertes Postskriptum zur Causa Rolf Hochhuth.

Besprochen wird eine Ausstellung über Nachkriegsarchitektur in München.

Literatur und Kunst bringt einen Schwerpunkt zum 200. Geburtstag Hans-Christian Andersens. Klaus Rifbjerg schreibt den großen Geburtstagsartikel. Aldo Keel kommt auf Andersens Schweizer Erfahrungen zurück. Die Kinderbuchautorin Marjaleena Lembcke denkt über "liebessehnsüchtige Prinzessinnen und Seejungfrauen" nach. Und Aldo Keel liest Jens Andersens monumentale Andersen-Biografie.

Außerdem setzt sich Uwe Justus Wenzel ausführlich mit zwei Neuerscheinungen zur Moralphilosphie auseiander. Ulrich Teusch untersucht die Rolle des Theaterintendanten Heinz Tietjen in der Nazizeit. Und Dieter Thomä begibt sich auf Spurensuche in den Kalifornien-Romanen von Frank Norris.

SZ, 02.04.2005

Gleich zwei Nachrufe bekommt Harald Juhnke, das "Gegenteil von einem anonymen Alkoholiker". Willi Winkler präsentiert ihn als Menschen in seinem Widerspruch, der Sucht verfallen, von der Presse immer weiter angestachelt: "So war es ein schönes Wechselspiel: Die Zeitungen schrieben über den Mann, der abstürzte, sich wieder hochrappelte und wieder soff, und der Künstler sah sich beachtet und tat der Presse den Gefallen, sich immer und immer wieder zum Narren zu machen. Juhnke hielt das Aufsehen, das ihm wegen seiner Skandale zufiel, für Beifall und machte gehorsam weiter - bis zum Ende im Heim für Demenzkranke." Im zweiten Artikel lässt Christine Dössel Juhnke Gerechtigkeit als Film- und Theater-Schauspieler widerfahren.

Weitere Artikel: Als genauso ahnungslos und verheerend wie die Rechtschreibreform kritisiert der emeritierte Philosophie-Professor Reinhardt Brandt den Bologna-Prozess zur Umwandlung der Universitätslandschaft. "bch" macht sich Gedanken über Namensgebungen für Läden und Geschäfte von einst - "Rotzlöffel" - bis jetzt: "innoCAD". Eher kurz fällt der Nachruf auf Robert Creeley aus, "einen der wichtigsten amerikanischen Lyriker nach dem Zweiten Weltkriegen" (Gedichte).

Besprochen werden Susanne Biers Film "Zwischen Brüdern", eine Inszenierung von Benjamen Brittens Oper "Albert Herring" an der Komischen Oper in Berlin, Dieter Wedels offenbar katastrophal missglückte Inszenierung von Walter Hasenclevers Komödie "Ein besserer Herr" in Hamburg, die Uraufführung von Steffen Schleiermachers Kammeroper "Kokain" in Bonn, ein Tournee-Auftritt von Kylie Minogue ("ein großartiger Abend, der nicht hätte sein müssen"), eine Frankfurter Ausstellung zur niederländischen Genremalerei des 17. Jahrhunderts, die Ausstellung "Spielen" im Dresdener Hygiene-Museum, eine Aufführung von John Crankos "Romeo und Julia"-Choreografie in München.

Auf der Literaturseite werden rezensiert: Jürgen Braters Porträt der "Generation Käfer", Martina Hefters Roman "Zurück auf Los" (hier eine Leseprobe), eine CD mit Märchen von Hans-Christian Andersen, gelesen von Wolfgang Joop und Paulus Böhmers Gedichtband "Fuchsleuchten" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende zeigt sich die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff ganz bezaubert von den Scherenschnitten des Hans-Christian Andersen und stellt bedauernd fest: "Kaum zu glauben, aber unter den Abertausenden an Kunstbüchern und Katalogen, die hierzulande auf dem Markt sind, gibt es eine empfindliche Lücke: Nach Hans Christian Andersens Zeichnungen, Scherenschnitten und Collagen sucht man vergebens." Thomas Steinfeld widmet Andersen und mehr noch der Zeit, in der er lebte, ein großes Porträt.

Außerdem: Zu Nutz und Frommen des Bayern in der Fremde stellt Sven Siedenberg die wichtigsten Berliner Speis- und Trankstätten vor, die Bayerisches zu bieten haben. Im Interview mit dem Schauspieler und ehemaligen RAF-Mitglied Christof Wackernagel geht es um die "Freiheit" und seine Zeit im Gefängnis: "Eine bewusste Überlebenstechnik war dagegen der Trick mit dem riesigen Arbeitsprogramm: Seinen Tag so vollzupacken mit Lesen, Gitarre-Üben, Malen, Zeitungs-Archivieren, dass man im Knast richtig in Zeitnot gerät. Wann kommt man denn schon dazu, 20 Bände von Karl Kraus' 'Die Fackel' durchzuarbeiten und sich so intensiv mit Walter Benjamin zu befassen?"

TAZ, 02.04.2005

In einer Doppelbiografie porträtiert Christian Walther Helmut Kohl und den am selben Tag geborenen Max Frankel, der - als Max Fränkel - den Nazis entkam und bei der New York Times Karierre machte: "Wenn die Klassenkameraden mit brennenden Fackeln und blutroten Hakenkreuzfahnen marschieren, darf Max nicht dabei sein. Max findet das zum Heulen. Aber Max ist ungeeignet für die HJ, denn Max Fränkel ist Jude. Kurz vor Hitlers Machtübernahme eröffnen seine Eltern - Maria und Jakob - ein Geschäft am Marktplatz von Weißenfels. Helmut hatte weniger Probleme mit der HJ. Doch das dritte Kind einer katholischen Beamtenfamilie bringt es im Jungvolk nur zum Jungenschaftsführer; offenbar liegt seine Leidenschaft eher in der Kaninchenzucht. Um eine Häsin einem prämierten Rammler zuzuführen, nimmt er lange Radtouren auf sich."

Weitere Artikel: In einem großen Interview werden "Wir sind Helden" zum neuen Album, zu Hype und Widerstand, zum Rückzug ins Private und politischem Pop befragt. Katharina Granzin gratuliert mit einem großen Porträt Hans Christian Andersen zum 200. Geburtstag. In der "kleinen Schillerkunde" schreibt Kolja Mensing über den "Verbrecher aus verlorener Ehre". Besprochen werden das neue Album von New Order ("viel Walter-Röhrlhaftes") und der Film "Machuca, mein Freund" (mehr hier).

In der taz zwei informiert Clemens Niedenthal über die Trends von der Automesse Leipzig: "Spartanische Kleinwagen sind die Stars. Sie sind Geschöpfe der Globalisierung, Vehikel der Rezession und vor allem: billig." Melancholisch gedenkt Detlef Kuhlbrodt des Schauspielers und Säufers Harald Juhnke: "Juhnke war: ein großer Junge, der immer geliebt werden möchte; ein merkwürdiger älterer Herr, ein 'alter Sack' (Juhnke), ein der Welt abhanden gekommener Kranker im Heim."

Das taz mag: Aus dem ältesten Bordellgebiet Bangladeschs schickt Kathrin Böhme eine Reportage: "Manju, 35 Jahre, ist eine der eintausendzweihundert weggesperrten Frauen und Mädchen, die im größten und ältesten Bordell Bangladeschs nahe der Kleinstadt Dauladtia leben. Ihr beige-braun gemustertes Sarituch liegt schützend wie eine Decke um Schultern und Haupt. Das offene Lächeln könnte über die Tragik ihrer Lebensgeschichte hinwegtäuschen, wären da nicht ihre Augen, der kritische und zugleich provokante Blick einer verletzten Frau. 'Ich war sechzehn, als mich meine Eltern verheiratet haben. Nach nur drei Jahren Ehe hat mich mein Mann an einen Zuhälter verkauft, für zwanzigtausend Taka, eine immense Summe', das sind heute umgerechnet rund zweihundertsechzig Euro."

Außerdem: Im Dossier berichtet der promovierte Führungskräfte-Coach Christian Schneider über einen Selbstversuch in der Therapieform der "Familienaufstellung". Abgedruckt wird ein Auszug aus dem Buch "Genial dagegen" von Robert Misik.

Besprochen werden Bücher, darunter ein Sammelband zur Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Markus Orths' transsexueller Schelmenroman "Catalina" und in der "crime scene"-Kolumne Leif GW Perssons "Zwischen der Sehnsucht des Sommers und der Kälte des Winters" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

FR, 02.04.2005

Die Autorin Marlene Streeruwitz nähert sich Hans Christian Andersen: "So ist das also. Mit den Möglichkeiten in unserer Kultur. Mit den Möglichkeiten an Metamorphosen. Wir müssen uns mit der Geschichte vom hässlichen jungen Entlein begnügen. Alle anderen Geschichten handeln ja nur von den Passagen in die Genitalität. Erwachsen werden hieß das. Eine Geschlechterrolle aus den mageren Fetzen von Verschweigungen zusammen zu basteln, hieß das. Aus den Leerstellen der Hochkultur und den groben Andeutungen der Unterhaltung den dunklen Raum ausschlagen, in dem frau sich selbst unbekannt das Leben zubringen sollte. Von nun an." Neue Bücher von und über Andersen stellt Thomas Fechner-Smarsly vor.

Den Nachruf auf Harald Juhnke hat Daniel Kothenschulte verfasst - er erinnert sich an einen Auftritt des Entertainers in Leverkusen-Schlebusch Anfang der Neunziger Jahre.

Besprochen werden Rossinis "Il turco in italia", von Christoph Loy an der Hamburger Staatsoper inszeniert, die neue CD von Kettcar und die Ausstellung "making things public" im Karlsruher ZKM.

Das - falls der Browser mitspielt - als e-paper lesbare Magazin widmet sich den Themen Hochzeit und Ehe und auf dem Titel sehen wir Charles und Camilla.

FAZ, 02.04.2005

Trotz mannigfacher Initiativen mit hübschen Namen wie "Projekt 211" oder "Projekt 985" gelingt es der chinesischen Führung nicht, den braindrain von Studenten gen Westen aufzuhalten, berichtet Zhou Derong im Aufmacher: "Der wichtigste Grund dafür ist natürlich die Politik, die bei zwei der drei Aderlässe in den vergangenen drei Jahrzehnten die entscheidende Rolle gespielt hat. 1978, als sich China öffnete, verließen viele das Land für immer, wegen der grausamen Erfahrungen während der Kulturrevolution. Elf Jahre später war es die Niederschlagung des Studentenprotests: Das Gros der chinesischen Studenten, die Peking in den Westen geschickt hatte, ist danach dort geblieben. Der dritte Aderlass kam mit der Globalisierung, und zwar in Gestalt der multinationalen Firmen. Da erst wachte Peking auf, das wegen der Ereignisse von 1989 zuvor ein sehr schlechtes Verhältnis zu seinen Auslandsstudenten gehabt hatte."

Weitere Artikel: Hans-Dieter Seidel schreibt zum Tod von Harald Juhnke. Eberhard Rathgeb kommentiert in der Leitglosse die umstrittene Reise von Renate Künast in der Flugbereitschaft der Regierung zu einem Vortrag beim Politikberater Hunzinger. In ihren Gesprächen für die DVD-Serie "Hundert Jahre Deutschland" unterhalten sich Stefan Aust und Frank Schirrmacher mit Marcel Reich-Ranicki über seine Zeit im Warschauer Ghetto. Jordan Mejias berichtet über politische Auseinandersetzungen zwischen Pro-Palästinensern und Pro-Israelis an der Columbia University. Jürg Altwegg liest Schweizer Zeitschriften, die sich mit dem Thema der Kulturförderung in der Schweiz auseinandersetzen (2,3 Milliarden Franken geben Bund und Kantone für Kultur jährlich aus).

In der ehemaligen Tiefdruckbeilage schreibt Tilman Spreckelsen zum 200. Geburtstag Hans-Christian Andersens. Und Andreas Hauser betrachtet Andrea Mantegnas Bilder in der Camera degli Sposi im Palazzo Ducale von Mantua.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um Gospelplatten des Blind Boys of Alabama, um Aufnahmen von Rachmaninow-Klavierkonzerten mit Lang Lang und Nikolai Lugansky und um den Folksänger Richard Bruckner. Und Hannes Hintermeier stellt fest, dass die meisten Aufnahmen Neuer Musik in Deutschland in Kooperation mit den öffentlich-rechtlichen Sendern entstehen und dass der Vorschlag von Sparmeistern, nur noch "vorhandene Tonträger" zur Vermittlung von Neuer Musik einzusetzen einem Stopp der Musikgeschichte gleichkäme.

Auf der Medienseite berichtet Nina Rehfeld sehr interessant über Online-Strategien amerikanischer Zeitungen - an zahlbare Inhalte glauben immer weniger Institute, die Online-Werbung ist zugleich die am stärksten wachsende Einnahmequelle, kannibalisiert aber wiederum die Einnahmen aus der Printwerbung. Und doch sind Experten davon überzeugt, dass die Zukunft der Zeitungen im Internet liegt. Rehfeld zitiert Bob Cauthorn, den Online-Chef des San Francisco Chronicle: "'Keine Zeitung in den USA ist internetbewusst', sagt Cauthorn. 'Und wissen Sie, warum nicht? Weil bisher kein Zeitungsverlag klug genug war, einen Online-Experten zum Herausgeber zu machen.'"

Auf der Literaturseite bespricht Heinz Ludwig Arnold Urs Faes' neuen Roman "Als hätte die Stille Türen" und Kurt Flasch liest Curzio Malapartes Roman "Kaputt". Weitere Besprechungen gelten einer großen Chagall-Retrospektive in Moskau ("eine bedeutende, gut abgestimmte Schau", resümiert Werner Spies), der Horrorfilm "The Ring 2", eine Choreografie Alexej Ratmanskis nach Schostakowitsch in Moskau und der indische Film "Geschichte eines ungezogenen Mädchens" von Buddhadeb Dasgupta.

In der Frankfurter Anthologie liest Hartwig Schultz Clemens Brentanos Gedicht "Nicht alle wissen so wie du zu schauen" nach Caspar David Friedrich.