Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.01.2006. In der SZ begutachtet der Architekt Eyal Weizman Ariel Sharons Architektur der Ruinen. Hassan Khader dagegen versucht Sharons Masterplan für die Rekonstruktion der Wirklichkeit zu verstehen. In der FAZ erklärt Lars Henrik Gass, was Wissenschaft und Kunst niemals am Kino verstehen werden. Die FR prophezeit japanische Verhältnisse in Deutschland. Und die taz beteuert, dass in Berlin entgegen anderslautender Vermutungen doch Geld verdient wird.

FAZ, 10.01.2006

Seit es die DVD gibt, geht es mit den Kinos bergab. Für Lars Henrik Gass, Leiter der Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen, bedeutet dies mehr als den "Niedergang einer Auswertungsform von Film": "Im Kino kann und will ich mich nicht bilden (im Gegensatz zum Theater oder zum Museum), im Gegenteil; ich will ein anderes Leben sein, ich stelle mich außerhalb der Gesellschaft. Und das werden Wissenschaft und Kunst niemals am Kino verstehen: Kino war etwas anderes als eine Fiktion, etwas anderes als eine Abbildung von Wirklichkeit, als Dokumentation. Wenn der Film nur noch ein bewegtes Bild ist, das ich jederzeit anhalten und ergänzen kann, das mir also zu Diensten ist, dann tritt er in eine neue Ökonomie des Konsums ein, der er sich im Kino gerade dadurch erfolgreich entzogen hatte, dass er mich zwang, ein anderer und Teil eines anderen zu sein, einer fremden, verbotenen und unzugänglichen Zeit zu ähneln, etwas wahrzunehmen, das geeignet ist, mich in höchstem Maße zu gefährden."

Weitere Artikel: Mark Siemons berichtet von verschiedenen Versuchen, dem Konfuzianismus in China zu neuer Blüte zu verhelfen. Die Kommunistische Partei reagiert skeptisch, gerade weil sie selbst versucht, "Konfuzius in den Dienst der Politik zu nehmen, beliebig benutzbar als Instrument zur Hebung der öffentlichen Moral: Das Fundament soll weiter die Kommunistische Partei bilden, nur die aktuelle Ausstaffierung darf konfuzianisch sein." Eberhard Rathgeb gibt bekannt, dass sein Lieblingsmärchen "Rotkäppchen" von den Brüdern Grimm ist. Paul Ingendaay meldet Proteste in Spanien zum neuen Rauchverbot: Javier Marias habe sich in El Pais gar an die Bevormundungen unter Franco erinnert gefühlt. Dirk Schümer schreibt zum Tod des italienischen Decollagisten Mimmo Rotella. Apl. schreibt zum Tod des Zeichners Manfred Bofinger.

Auf der DVD-Seite werden Neueditionen des ersten, abendfüllenden Trickfilms, "Die Abenteuer des Prinzen Achmed" von Lotte Reiniger, des kubanischen Revolutionsklassikers "Soy Cuba" von Mikhail Kalatozov und der sowjetischen Filme von Andrej Tarkowski vorgestellt.

Auf der Medienseite prophezeit Michael Hanfeld Mathias Döpfner eine Niederlage beim Versuch, Springer mit Pro Sieben Sat.1 zu fusionieren. Jürg Altwegg berichtet, wie Paris Match auf das "Albert"-Urteil reagiert: Mit der Veröffentlichung des Urteils "in roten Lettern auf weißem Grund". Die Zeitschrift musste 50.000 Euro an Albert von Monaco bezahlen, weil sie über die Existenz seines unehelichen Sohnes berichtet hatte.

Auf der letzten Seite porträtiert Gundula Werger den Agrarwissenschaftler Stefan Mann, Urenkel von Thomas Mann. Günter Barudio trägt schwungvoll seine Realvision zur Rettung des Erde durch Geowärme vor. Und Gina Thomas spottet über die zwölf Ikonen - darunter Tee, Stonehenge, Alice im Wunderland - mit denen Tony Blair die Debatte um englische Identität beleben will.

Besprochen werden Katharina Wagners Inszenierung von Puccinis Grand-Guignol-Dreier "Il Trittico" an der Deutschen Oper Berlin, eine Ausstellung zu Kriegsverlusten und Neuentwürfen für Leningrad nach dem Zweiten Weltkrieg in der Petersburger Rumjanzew-Villa, die Uraufführung von Fritz Katers Stück "Abalon, one nite in Bangkok" im Kammerspiel des Schauspiels Frankfurt, Stephane Braunschweigs Inszenierung von Pirandellos Stück "Die Nackten kleiden" am Theatre National de Strasbourg und eine Ausstellung über "Die Anfänge der europäischen Druckgraphik" im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg.

Welt, 10.01.2006

Nach Katharina Wagners schlingernden Inszenierung von Puccinis "Trittico" fragt sich Manuel Brug, "ob hier nicht ein Talent allzu schnell PR-trächtig verheizt wird. Aber die Intendanten wollen es so - und sie kann wohl nicht anders". Immerhin: "Diese seit Kindheit im Strudel von familiärem Hass, ambitionierter Begehrlichkeit und speichelleckerischer Bewunderung gestählte, bodenständig junge Frau macht deutliche Fortschritte in der Personenführung.

Im Gespräch mit Michael Pilz antwortet Curtis Jackson alias 50 Cent auf die Frage, wie sich diese beiden Figuren voneinander unterscheiden: "50 Cent ist immer so wahnsinnig aggressiv. Das verlangt HipHop. Der entwickelt sich so rasant, und Kinder sind nur begrenzt aufnahmefähig. Du musst ständig angreifen."

Peter Dittmar schreibt zum Tod des letzten Mitglieds der berüchtigten Viererbande Yao Wenyuans, der mit seinen scharfen Verdikten die chinesische Kulturrevolution ausgelöst hatte. F.W. Bernstein betrauert den Tod seines Zeichner-Kollegen Manfred Bofinger. Hannes Stein berichtet von der juristischen Auseinandersetzung zwischen dem Publizisten Henryk M. Broder und dem KZ-Überlebenden Hajo Meyer. Wieland Freund berichtet von einer literarischen Affäre um die erfundenen Memoiren eines angeblich missbrauchten Jungen aus New York. Und Ulrich Weinzierl verkündet die Eröffnung von Wiens dritter Oper.

TAZ, 10.01.2006

In der Kolumne Berliner Ökonomie hält Gunnar Lützow fest: "Es ist eben nicht so, dass in Berlin überhaupt kein Geld verdient werden würde - fraglich bis fragwürdig ist nur, womit und was dann damit passiert. Aufs Sparkonto kommt es jedenfalls nicht. Die ganzen Leute, die einen mehr oder weniger gratis mit Dienstleistungen, Räumen, Informationen und osteuropäischen Schokoladenspezialitäten versorgen, wollen zumindest symbolisch entschädigt werden. Das, was da also manchmal noch wie ein hauptstädtisch-elefantöses Getöse klingt, ist also eigentlich nur das hunderttausendfache Rauschen eines Ameisenhandels, der sich zwar durch eine Vielzahl von Transaktionen auszeichnet, aber doch über ein sehr geringes Volumen verfügt."

Tobias Moorstedt berichtet von dem Wettbewerb "Design 2005", in dem die New Yorker die schönste Neonreklame ihres Times Squares küren sollen. Tobias Rapp zeigt leichte Ermüdungserscheinungen angesichts der "britischen Hypemaschine", die gerade wieder einmal für die Arctic Monkeys angeworfen wurde. Gerrit Bartels liest neueste Ausgaben der Literaturzeitschriften Bella Triste und Am Erker. Besprochen wird Katharina Wagners Inszenierung von Puccinis Kurzopern "Il Trittico" (die Niklaus Hablützel alles in allem "sehr fleißig, aber auch seltsam altklug" fand).

Und TOM.

FR, 10.01.2006

Die Kulturwissenschaftlerin Claudia Schmölders, der ungarische Schriftsteller György Dalos und der Politikwissenschaftler Otto Kallscheuer diskutieren auf Einladung der FR über den Zustand des Konservatismus. Schmölders kündigt ein Nebeneinander von Fortschritt und Innehalten an, wie in Japan. "Die Frauen bewahren, die Männer machen in Technologie. Die Männer kommen nach Hause, ziehen die Schuhe aus vor der Tür, treten ein und sind im klassischen Japan. Kürzlich sah ich die wundervolle Verfilmung von Jane Austens 'Stolz und Vorurteil': Eine höfliche höfische Gesellschaft. Aber es wird darin deutlich,dass diese ganze Höflichkeit, das Arrangieren von Hochzeiten usw., einem blanken Gelderwerb dient. Die Mutter von fünf Töchtern muss gucken, wie sie alle fünf unter die Haube kriegt. Und wenn das nicht gelingt, dann sitzen eben alle fünf verelendet da. Und dieses Nebeneinander von Höflichkeit, aristokratischen Erbschaften und blanker Geschäftemacherei (wir haben vergessen, wie das einmal war) wird in diesem Film in einer Weise vorgeführt, die mir erscheint wie eine japanische Angelegenheit. Zwei Lebensschienen, die nebeneinander herlaufen, und der Zug läuft auf zwei Schienen. Ich ahne, dass wir das auch so machen könnten."

Einen besseren Regisseur als Peter Kastenmüller hätte sich Sylvia Staude für die Uraufführung von Fritz Katers Stück "abalon, one nite in bangkok" gewünscht. Es bleibt die Hoffnung auf die nächsten Inszenierungen. "Kater mag (männliche) Verlierer, und er schafft ihnen Räume - manchmal in ergreifend zarter Sprache -, in deren Nischen sich ihre Träume verstecken können. Einen 'wizard', Zauberer, erträumt sich Abalon, und in der Bibliothek liest er von tapferen Außerirdischen, die einst die Welt vor einem Drachen (eigentlich: flammenden Meteoriten) retteten. Bei Kastenmüller führt die Abwicklung des Stückes (mit Yuppie-Wohnungsausstattung, Bühne: Michael Graessner, mit flackernden Videobildern, Popmusik, Lichtblitzen) dann doch zu oft schnurstracks in die Vergröberung. Und auch: Langeweile."

Weiteres: In Times mager beobachtet Thomas Medicus, wie das lendenlahme Berlin sich vom Rest der Republik abkoppelt. Und Ulrich Rüdenauer lobt Ryan Adams' Album "29", bei dem ihn so ein "heimeliges" Gefühl überkommt. Besprochen werden außerdem Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Minna Bernays sowie Gustav Seibts Essays "Canaletto im Bahnhofsviertel" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 10.01.2006

Marc Zitzmann schreibt zum 70. Geburtstag von Bernhard Sobel, der 1963 das Theâtre de Gennevilliers bei Paris gründete. "Sobels Repertoire reicht von Aischylos bis Richard Foreman, wobei er ausgetretene Bahnen zugunsten von Raritäten von Isaac Babel, Christopher Marlowe und immer wieder Ostrowski verschmäht hat. Legendär sind sein 'Threepenny Lear' mit Maria Casares in der Hauptrolle und seine Inszenierung von Christian Dietrich Grabbes als unaufführbar geltendem Bühnenepos 'Napoleon oder Die hundert Tage'. Als Theaterdirektor hat er Anfänger wie Patrice Chereau und Stephane Braunschweig gefördert, als Filmer Arbeiten von Chereau, Klaus Michael Grüber und Ariane Mnouchkine verewigt. Sobel ist der letzte Theatermacher seiner Art, der letzte Dinosaurier der 'Banlieue rouge'."

Ansonsten gibt es Besprechungen, und zwar zur Ausstellung mit Rosemarie Trockels Strickbildern, Zeichnungen, Videos und Installationen im Kölner Museum Ludwig, und Büchern, darunter Hafid Bouazzas "böses" Märchen über den Nord-Süd-Konflikt "Paravion" und James Hamilton-Patersos "leichtfüßiger" Roman "Kochen mit Fernet-Branca" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 10.01.2006

Auch die SZ sucht heute in zwei Artikel einen Zugang zu Ariel Scharon. Der in London lehrende israelische Architekt Eyal Weizman betrachtet die von Scharon initiierten Siedlungen und die Mauer im israelischen Grenzland unter fachlichen Gesichtspunkten: "Wenn man bedenkt, dass der zeitgenössische Architekturdiskurs Flexibilität und Vorläufigkeit geradezu zum Fetisch erhoben hat, ist es erstaunlich, dass man Scharon noch nicht den Pritzker-Preis angeboten hat." Überleben werden jedoch weder Siedlungen noch Mauer, so Weizman, dessen Kritik an Scharon mit einer Kritik an der zeitgenössischen Architektur zusammenzufließen scheint: "Die Bauten von heute sind der Schutt von morgen, und so wird man in mehr als einer Hinsicht an Ariel Scharon erinnern als an den Architekten von Ruinen."

Für Hassan Khader (mehr), Herausgeber der palästinensischen Literaturzeitschrift Al Karmel, gehören Bau und Abriss der Siedlungen zu einem "Masterplan für die Rekonstruktion der Wirklichkeit nach ideologischen Erfordernissen. Und wenn es so etwas wie ein Erbe Scharons gibt, dann liegt es zwischen diesen beiden Extremen. Inzwischen sehen die breiten Straßen und die Fertighäuser in Gaza schon aus wie Überreste einer fernen Vergangenheit, die Siedlungen, obwohl erst vor ein paar Monaten verlassen, sind schon Geschichte, deformierte Skelette aus Beton und Schotter. Damit aber werden sie zur Metapher für etwas ganz anderes: für die Reste des Masterplans selbst. Und vielleicht hat ein solches Ende des Masterplans niemand besser beschrieben als Bertolt Brecht, der einmal bemerkte, die schönsten Pläne würden stets ruiniert durch den Kleinmut derjenigen, die sie ausführen, ohne dass der Herrscher etwas dagegen tun könnte."

Weitere Artikel: Johann Schloemann spottet über die britische Filmkritik, die Woody Allens überall sonst gelobten Film "Match Point" nicht mag - vielleicht weil sie "eine ähnliche Erziehung genossen hat wie die verhängnisvolle Familie Hewett in Woody Allens Film". In der "Zwischenzeit" grübelt Harald Eggebrecht über den Sinn von DNA-Vergleichen, die bei Mozarts Schädel keinen Erkenntnisgewinn gebracht haben. Gerhard Persche berichtet über die Eröffnung von Wiens drittem Opernhaus mit der Uraufführung von Thomas Daniel Schlees "Musik für ein Fest"; es dirigierte Placido Domingo. Der Rapper 50 Cent spricht im Interview über seine Filmbiografie, in der er die Hauptrolle spielt, seinen Vater und Eminem, dem er höchsten Respekt zollt: "Eminem hat, wie jeder weiß, inzwischen ein Heidengeld mit mir gemacht - aber wenn es einer verdient hat, dann er." Henning Klüver schreibt zum Tod des Künstlers Mimmo Rotella.

Besprochen werden drei Einakter von Puccini, die Katharina Wagner an der Deutschen Oper Berlin inszenierte, die Uraufführung von Fritz Katers "abalon, one nite in bangkok" am Frankfurter Schauspiel, Nicolas Vaniers Film "Der letzte Trapper", die zwei DVD-Neuigkeiten "Das Ende" von Jean-François Richet und "Die besten Jahre" von Marco Tullio Giordana, und Bücher, darunter Helena Henschens Roman über die Sydow-Morde "Im Schatten eines Verbrechens", Joseph von Westphalens Roman "Die Memoiren meiner Frau" und Klaus Täuberts Biografie des Suchtmediziners, Psychologen und KPD-Gründungsmitgliedes Fritz Fränkel (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).