Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.08.2004. Im Tagesspiegel fordert Wolfgang Becker mehr Wahnsinn im deutschen Film, so wie bei "French Connection" zum Beispiel. Die NZZ fängt Flocken von Pappelsamen im Handke-Land. Die FAZ probiert japanisches Knoblauch-Eis. Die FR findet in ihrer Eigenschaft als Frankfurter Zeitung die Münchner Hochhaus-Debatte beispiellos.

Tagesspiegel, 03.08.2004

Christiane Peitz unterhält sich nett mit Wolfgang Becker, Dani Levy, Tom Tykwer und Stefan Arndt über ihre Firma X-Filme, die die ersten zehn Jahre wacker durchgehalten hat. Für die nächsten zehn Jahre wünscht sich Wolfgang Becker deshalb "etwas mehr Wahnsinn", "für den gesamten deutschen Film. Ein bisschen Hollywood der Siebziger, als Coppola im Urwald 'Apocalypse Now' drehte und den Schluss noch nicht wusste oder William Friedkin seine Verfolgungsjagd aus 'French Connection' ohne Drehgenehmigung inszenierte, so dass die Unfälle alle echt waren. Der deutsche Film ist unglaublich schwerfällig! Am Set sind 100 Meter LKWs geparkt, und wenn man die Szene aus der anderen Richtung filmen will, sagt der Aufnahmeleiter: Kannste vergessen, es dauert Stunden, bis die Autos umgeparkt sind."

TAZ, 03.08.2004

Sebastian Hammelehle porträtiert Frank Schulz (mehr hier), der sich den Ruf als "Schriftsteller der Generation von 1978" erschrieben habe und nach anfänglicher Erfolglosigkeit heute über eine "ungemein treue Fangemeinde" verfüge. "Unbeabsichtigt scheint Frank Schulz also geschafft zu haben, was Autoren wie Reinhard Mohr oder Matthias Politycki mit viel Getöse versucht haben: Bücher zu schreiben, in denen sich die so genannten 78er wiederfinden - diejenigen, die zu jung waren für 1968 und zu alt für Punk".

Weiteres: Dirk Knipphals kommentiert die Suche des "Kursbuchs" nach einem neuen Verlag als Chance für einen "inszenierten Neubeginn". Helmut Höge hat sich in Berlins "PC-Bezirk" Prenzlauer Berg im "sozialen Kosmos Internetcafe" umgesehen. Jonathan Fischer stellt Kanye West (mehr) vor, der bisher ein gefragter HipHop-Produzent war und mit seinem Debütalbum "The College Dropout" nun als Rapper "eine neue Ära einleiten" könnte. Und in tazzwei durchlebt Bernhard "Ding Dong" Pötter in einer Berliner "Ding Dong" Meldestelle den "Ding Dong" Vorhof zur Hölle (doch, doch, lesen Sie nur selbst). Klaus Raab rechnet unter der einleuchtenden Überschrift "Wozu der Lärm?" dortselbst mit der erzkonservativen Fangemeinde der Heavy-Metal-Szene ab .

Besprochen wird schließlich das Berliner Konzert von Woody Allen.

Und hier TOM.

FR, 03.08.2004

Oliver Herwig erläutert Berechtigung und Wahnsinn der "beispiellosen Hochhausdebatte", die derzeit in München tobt. "Über nichts können sich die Münchner so erregen wie über neue Spitzen am Himmel. Dieses Mal haben sie allen Grund dazu. Wie Akupunkturnadeln sollten die Türme den Norden beleben. Statt aber die Seele der Bayern zu massieren, bleiben sie Fremde über der Stadt. Anders als in Frankfurt, wo eine Reihe von teilweise schwachen Hochhäusern zu einer ausdrucksstarken Silhouette zusammenfindet, sind die Münchner Riesen über die ganze Stadt verstreut und somit stets präsent."

Harry Nutt wertet die Krise um das "vorübergehend herrenlose Kursbuch" als ein "weiteres Indiz einer Krise der kulturellen Güterproduktion". "Intellektuelle Kontinuität und die Entdeckung und Pflege von gesellschaftlichen Ungleichzeitigkeiten sind kaum mehr nachgefragte Güter und dürfen selbst dort nicht auf Artenschutz rechnen, wo unzeitgemäße Medien wie Bücher auf relativ erfolgreiche Weise produziert werden."

In Times mager interpretiert Christian Schlüter das päpstliche Gender-Papier als Abwehrversuch der "Erosion der Wertefundaments" in den eigenen Reihen. Und schließlich lesen wir noch eine weitere Besprechung des Berliner Konzerts von Woody Allen.

SZ, 03.08.2004

Ab heute gibt es die SZ nur noch als kostenpflichtiges E-paper zu lesen, wofür Abonnenten im Monat nur schlappe drei Euro mehr zahlen müssen, die anderen 20 Euro.

Thomas Urban informiert über die Argumentationsmuster und Frontverläufe in der neu entfachten polnischen Debatte um die Vertreibung und das Täter-Opfer-Verhältnis. So sei "einer der Gründe für die heftigen Reaktionen im nationalen Lager im Bestreben zu suchen, den Mythos vom Volk der Helden und Opfer zu verteidigen. Das Bild vom deutschen Erbfeind wird kultiviert, den Deutschen sogar unterstellt, über die EU-Osterweiterung das Lebensraumprojekt der Nazis verwirklichen zu wollen ..."

Weitere Artikel: Johannes Willms berichtet über die nicht unerheblichen Anstrengungen, den ehemaligen "Bauch von Paris" wieder zu einem lebendigen Zentrum zu machen. Derzeit jedenfalls, so die Bildunterschrift, könne es das Hallenviertel als "antiauratischer Ort wahrscheinlich sogar mit dem Potsdamer Platz aufnehmen". Vier Architekten - Rem Koolhaas, Jean Nouvel, Winy Maas und David Mangin - hat die Stadt gebeten, Entwürfe für eine Neubebauung vorzulegen. Das Ergebnis sehen Sie hier. In der Serie über den christlichen Charakter Europas klagt der Theologe Hubert Windisch über die "Verzagtheit" der Christen in Deutschland und denkt über den Sinn des Kirchendienstes nach, der zunehmend in der Gefahr stünde, "banal und substanzlos und furchtsam" zu werden.

Jürgen Berger bilanziert das 58. Theaterfestival in Avignon und machte dort als Höhepunkt Patrick Pineaus "Peer Gynt" aus. Joachim Kaiser zeigt sich nach einer Woche Herrenchiemsee-Festspiele ganz beseelt ("Identität überzeugend gefunden"). Florian Welle resümiert eine Tagung der Schwabenakademie Irsee über den Mikrokosmos Bahnhof. In der "Zwischenzeit" liest Claus Heinrich Meyer im WK I-Tagebuch eines "empfindsamen Kavalleristen", und "zri" staunt über den neuesten Ebay-Hype: Wasser aus Loch Ness.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Arbeiten von Vanessa Beecroft in der Kunsthalle Bielefeld, der Film "Dickie Roberts: Kinderstar" von Sam Weisman, ein Konzert der Japan-Surf-Punk-Band "The 5,6,7,8" (mehr hier und hier) und Bücher, darunter Volker Brauns Prosaband "Das unbesetzte Gebiet", eine Studie über Constantinus II. und die Anfänge des Staatskirchentums, sowie zwei Neuauflagen: von Ernst Friedrichs "epochalem Dokument des militanten Pazifismus" "Krieg dem Kriege" und der Pädagogikklassiker "Psychologie im Klassenzimmer" von Rudolf Dreikurs (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 03.08.2004

Martin Meyer widmet Peter Handkes neuem Roman eine lyrische Besprechung. Unter anderem erkennt Meyer hier das "Gegenbild zu den Libretti des Meisters vom Bodensee". Und er zeigt sich fasziniert von Handkes Beschreibungskunst: "Also etwa Landschaft. Das Gebiet der großen Ebene bei Paris; darin aber Klüfte und Täler, Wälder, Büsche, unberührt von jedem verfügenden Griff. Oder Blütenstaub; Flocken von Pappelsamen; das Gelb an den Ginsterruten. Oder eine Rosskastanie, aus deren Wipfel einmal mit jähem Geschrei und flatternd ein Rabe emporbricht. Das ist Handke-Land, wie es heute kein anderer Autor zu erfassen und zu schreiben vermag, ein Tableau, in den Motiven und Einzelheiten gelockert, moderne und bis zum Erschrecken genaue Romantik."

Hans Dieter Sauer begleitete die Ausgrabungen zur Varus-Schlacht bei Kalkriese. Angelika Timm stellt Initiativen zur Wiederbelebung des Jiddischen in Israel vor. Gabriele Schor bespricht eine Ausstellung der Künstlerin Charline von Heyl in der Wiener Secession (mehr hier). Susanne Ostwald hat die Liebeskomödie "Love's Brother" (mehr) gesehen. Es wird gemeldet, dass Rowohlt das "Kursbuch" nicht mehr verlegen will. Und es gibt einen Vorabdruck aus Christian Hallers (mehr hier) Roman "Das schwarze Eisen" zu lesen.

Weitere Buchrezensionen befassen sich mit dem Familienroman "Heimkehr bei Nacht" vom Loida Maritza Peretz sowie Markus Werners Roman "Am Hang" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 03.08.2004

"tak." besucht für die Leitglosse ein Eismuseum in Tokio, das regionale Erfindungen der Eismacherkunst präsentiert: "'Isson - Ippin - Undo' heißt die amtliche Parole: ein Dorf, eine Spezialität, Aufschwung. Und so zeigt das Eismuseum in Tokio dreihundert Sorten, die dem einheimischen Geschmack schmeicheln. Alle kann man im Internet bestellen. Da kommt aus der Provinz Nagoya das Bandnudelsuppen-Eis, aus einer anderen Ecke das Eis nach Art der gebratenen Auberginen. Eis von grünem Tee war immer schon beliebt. Aber Maroni-Eis und Süßkartoffel-Eis sind neuer. Ob das Knoblauch-Eis sich durchsetzen wird?"

Weitere Artikel: Geschichtsselige FAZ: Drei Artikel erliegen noch mal der Magie der (wenn auch ziemlich krummen) runden Zahl. Eberhard Rathgeb begibt sich auf den Tag genau neunzig Jahre nach dem 2. August 1914 auf den Münchner Odeonsplatz, wo sich seinerzeit auch Hitler in der kriegsbegeisterten Masse einfand - wie ein welthistorischer Schnappschuss seines späteren Leibfotografen Heinrich Hoffmann belegt. Heinrich Wefing besucht Berliner Stätten und versucht, sich die Atmosphäre vor 90 Jahren zu vergegenwärtigen. Andreas Platthaus unternimmt den gleichen Versuch in Wien. Thomas Hettche empfiehlt Cormac McCarthys (mehr hier) Roman "All die schönen Pferde" als sein Lieblingsbuch. Matthias Grünzig fürchtet, dass die Stadt Gotha durch Vernachlässigung ihrer vielen Baudenkmäler auch alle Zukunftschancen verspielt. F. L. schreibt zum Tod der Fotografin Ellen Auerbach.

Auf der Medienseite stellt Matthias Funk Gabriel Garcia Marquez' "Fundacion Nuevo Periodismo Iberoamericano" vor, in der Hunderte von Journalisten weitergebildet wurden. Birgit Svensson besucht die Zeitungsbörse von Bagdad, wo ganze Zeitungsstöße an Straßenverkäufer versteigert werden - nebenbei erfahren wir, dass es in Bagdad inzwischen über dreißig Zeitungen gibt. Und Esther Kilchmann stellt den Fluter vor, ein von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördertes Jugendmagazin im Internet.

Auf der letzten Seite trifft Andreas Rosenfelder einige ungarische Emigranten, die sich über die internationale Verkennung ihrer nationalen Genies beklagen und über die Aufnahme in die EU dennoch freuen. Andreas Rossmann würdigt das Musik- und Literaturfestival "Wege durch das Land", das die Schönheiten Nordrhein-Westfalens ins Licht setzt. Und Dietmar Dath porträtiert den stramm konservativen Charismatiker William F. Buckley, der gerade seine Autobiografie veröffentlicht hat.

Besprochen werden Sidi Larbi Cherkaouis Choreografie "Tempus Fugit" beim Wiener Festival "Impuls Tanz" (die laut Wiebke Hüster "zum Besten (zählt), was in dieser Kunst augenblicklich zu sehen ist"), eine Mapplethorpe-Ausstellung in Berlin und ein Konzert mit Woody Allen in Berlin.