Heute in den Feuilletons

Verweigerte Lautstärke

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.03.2008. De NZZ berichtet vom Berner Wozzeck, wo sich Dirigent und Orchester aus arbeitsmedizinischen Gründen über die höchste mögliche Lautstärke stritten - zum Ärger der Premierengäste. Stefan Niggemeier findet: Man sollte das Thema Gewalt in Tibet nicht mit Bildern aus Nepal illustrieren. Thomas Ostermeiers Ravenhill-Inszenierungen an der Berliner Schaubühne kommen nicht gut an. Die SZ spricht von "Besserwisserei des Subventionslinken". Das Blog Medienlese fühlt sich von Frank Schirrmacher im Tanga nicht angesprochen. In der Welt zeigt sich Zafer Senocak ergriffen von Barack Obamas Rede in Philadelphia.

TAZ, 25.03.2008

Die "neuen Triebökonomien" und der Untergang des Musikgeschäfts werden vom ehemaligen Musikmanager John Niven in dessen Romandebüt "Kill Your Friends" so klar wie noch nie abgehandelt und abgefertigt, berichtet Klaus Walter atemlos. Der Held ist Nivens desillusioniertes Alter Ego. "In seiner demonstrativen Amoralität ist Stelfox ein Wiedergänger von Bret Easton Ellis' 'American Psycho', auch er wird zum Mörder, kommt aber ungestraft davon. In puncto Drastik und Drogen ist Nivens Roman ein Nachfahre von Hunter S. Thompsons 'Fear And Loathing in Las Vegas', dem Flaggschiff des sogenannten Gonzojournalismus. Neu an Nivens Gonzoismus ist die Verbindung von Polytoxikomanie und Pornografie."

Weiteres: Christian Broecking porträtiert den amerikanischen Jazzkomponisten Anthony Braxton, der Vorbilder wie Stockhausen hat und vielleicht deshalb in seiner Heimat als Künstler nahezu unbekannt ist. In der zweiten taz spricht Max Hägler mit Michael Adam, der als schwuler evangelischer Sozialdemokrat jüngster Bürgermeister Deutschlands geworden ist, und das im Bayerischen Wald. Im Medienteil stellt Reinhard Wolff den Radiosender Voice of Tibet vor, der seit zwölf Jahrne aus Tibet und China sendet.

Besprochen werden die Wolfgang-Tillmans-Retrospektive im Hamburger Bahnhof Berlin, eine Schau mit Plakaten des Berliner Grafikbüros Ott + Stein in der Kunstbibliothek in Berlin und Thomas Ostermeiers "erstaunlich spannender" Abend mit neuen Stücken von Martin Crimp und Mark Ravenhill.

Auf der Meinungsseite liefert Klemens Ludwig Hintergründiges zum Dalai Lama und seiner Rücktrittsdohung: "Viel unspektakulärer, aber wirksamer ist ein Prozess, der ihm seit der Flucht besonders am Herzen liegt: die Demokratisierung der tibetischen Gesellschaft. Jahrzehnte stieß er damit auf wenig Resonanz, doch das hat sich geändert, ausgelöst durch eine einsame politische Grundsatzentscheidung seinerseits - den Verzicht auf die Unabhängigkeit. Für die Tibeter ist das eine bittere Entscheidung, doch viele akzeptieren sie aus Respekt vor ihrem Oberhaupt. Eine zunehmende Zahl von Individuen oder Organisationen wie der Tibetische Jugendkongress widersprechen jedoch offen. Sie machen keinen Hehl daraus, dass sie den Dalai Lama nur als religiöses und nicht als politisches Oberhaupt anerkennen."

Und Tom.

Welt, 25.03.2008

Der bekannte italienische Journalist Magdi Allam, leitender Journalist beim Corriere della Sera, ist vom Islam zum Christentum übergetreten. In einem Brief an seinen Chefredakteur, den die Welt übersetzt, schreibt er über seine Taufe: "Besonders dankbar bin ich Papst Benedikt XVI., der mir die Sakramente erteilt hat, um Christ zu werden, Taufe, Firmung und Eucharistie, im Petersdom, während der Ostermesse. Ich habe den schlichtesten und vielsagendsten Namen angenommen, den ein Christ haben kann: Cristiano. Seit gestern heiße ich also 'Magdi Cristiano Allam'." In einem zweiten Artikel porträtiert Martin Zöller den Journalisten, der jetzt unter Personenschutz leben muss.

Im Feuilleton äußert sich Zafer Senocak ergriffen von Barack Obamas Rede in Philadelphia, in der der Kandidat unter anderem über die Rassenbeziehungen in den USA sprach (hier der Text, hier das Video). "Obamas Rede rückt die Amerikabilder zurecht, nicht weil er sie meidet, sondern weil er sie in einen Kontext stellt, der wieder so etwas wie Wirklichkeit zu Tage fördert. Er drückt das Unvollkommene in der amerikanischen Demokratie aus, ohne es gegen die freiheitliche Idee der Gründerväter auszuspielen. Die persönliche Linse macht es möglich. Hier spricht nicht jemand über ein Land, sondern über sich selbst und sein Land. Diese Rede, die bei YouTube millionenfach angeklickt wurde, ist auch an Europa adressiert, an die ganze freie Welt an alle politisch denkenden und handelnden Menschen auf der Welt."

Weitere Artikel: Uwe Wittstock besucht eine Ausstellung mit Büsten aus dem George-Kreis in Mabach. Wolf Lepenies schreibt eine Glosse über die Bemerkungen Regis Debrays zu einem Charles De Gaulle gewidmetem Historial im Pariser Invalidendom. Michael Pilz stellt einige Soulsängerinnen vor, die im Windschatten Amy Winehouses Erfolge feiern. Gerhard Midding erinnert an David Lean, der vor hundert Jahren geboten wurde.

Besprochen werden einige neue DVDs.

FAZ, 25.03.2008

Auf der Seite 1 der FAZ beschwört Andreas Kilb einen Leitartikel lang die künftige Bedeutung des Berliner Stadtschlosses, um im vorletzten Absatz zum Kern der Sache zu kommen: er möchte die Gemäldegalerie dort untergebracht wissen. Dies "würde die deutsche Öffentlichkeit mit einem Großprojekt versöhnen, das den Steuerzahler nach optimistischen Berechnungen eine halbe Milliarde Euro kosten wird".

Friedrich Nietzsches Geburts- und Begräbnisort Röcken droht, dem Braunkohletagebau zum Opfer zu fallen. Matthias Grünzig stellt die Grundsatzfrage: "Was ist wichtiger, der Braunkohleabbau oder der Erhalt der Kulturlandschaften?" In der Glosse berichtet Paul Ingendaay von einem reinigenden Ostermontagserlebnis in der Autowaschstraße. Jürg Altwegg porträtiert den Denker Rene Girard, der nach dem Christentum jetzt auch noch Clausewitz wiederentdeckt hat. Matthias Hannemann hat das Städtchen Bad Arolsen besucht, genauer gesagt: den dort ansässigen Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes. Julia Voss gratuliert dem Künstler Daniel Buren zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite bedauert Jörg Thomann es ganz außerordentlich, dass westliche Medien mit falschen Bildern bzw. Bildunterschriften in Sachen Tibet der chinesischen Regierung berechtigten Grund zur Beschwerde gegeben haben. Auf der Forschung-und-Lehre-Seite referiert Milos Vec die Ergebnisse einer Studie zur Globalisierung von Schönheitsvorstellungen.

Besprochen werden die Ausstellung "Die drei Leben des Stefan Zweig" im Deutschen Historischen Museum in Berlin, die erste szenische Aufführung von Marin Marais' Oper "Alcione" seit 237 Jahren unter der Regie von Philipp Harnoncourt in Wien, Thomas Ostermeiers Schaubühnen-Doppelinszenierung von Mark Ravenhills "Der Schnitt" und Martin Crimps "Die Stadt" (Irene Bazinger hat nichts als "Schnickschnack und Abklatsch" gesehen), Etgar Kerets und Shira Geffens Film "Jellyfish", die CD "Phylactory Factory" von White Hinterland und Arkadi Babtschenkos literarischer Tschetschenien-Bericht "Die Farbe des Krieges" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 25.03.2008

An der Berliner Schaubühne probt Thomas Ostermeier den kapitalismuskritischen Aufstand mit Stücken von Mark Ravenhill und Martin Crimp. Peter Laudenbach schlägt die vierstündige Revolte umgehend nieder. "Ravenhills Überblendung von Angestellten-Tristesse, Polemik gegen ex-linke Politik-Karrieristen der Sorte Blair oder Fischer und einem Folter-Staat ist obszön: Sie erzählt weder etwas über totalitäre Systeme noch über die Funktionsweise westlicher Demokratien. Ravenhills Analyse ist kümmerlich, sie begnügt sich mit der billigen Denunziation. Ostermeier inszeniert das mit der neugierdefreien Besserwisserei des Subventionslinken, der immer schon wusste, dass alle Angestellten arme, geduckte Existenzen, alle Ehemänner impotent und alle Politiker hörige Sklaven des Systems sind. Die simple Figurenzeichnung passt dann doch sehr präzise zur platten Weltsicht."

Weitere Artikel: Die Berliner Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer erklärt, was an einer Moschee laut Koran alles dran sein muss (nicht viel) und was nicht (Minarett), und plädiert für den ungehinderten Bau von muslimischen Gotteshäusern hierzulande. Jens-Christian Rabe mokiert sich über die Egozentrik im deutschen Pop und sucht sich als Beweis einen Song des Duos Ich + Ich aus. Volker Breidecker begrüßt freudig das umgebaute Liebighaus in Frankfurt, dessen Skulpturensammlung jetzt vorteilhaft präsentiert werde. Wolfgang Schreiber schlägt Hans Neuenfels in einer "Zwischenzeit" als Kandidaten für Bayreuth vor. Im Literaturteil resümiert Kaspar Renner eine Augsburger Tagung über das Zitieren.

Besprochen werden Christine Eders "ironische" Inszenierung von Shakespeares "Titus Andronicus" am Theater Bremen, eine "virtuose" Version von Händels "Giulio Cesare" an der Rheinoper Duisburg unter der Regie von Philipp Himmelmann und der musikalischen Leitung von Andreas Stoehr, eine Ausstellung über Marie-Antoinette im Grand Palais in Paris, David Dawsons "ziemlich blasse" Aktualisierung von "Giselle" in der Dresdener Semperoper, Neuerscheinungen auf DVD wie Krzysztof Kieslowskis Filmserie "Dekalog" und Bücher, darunter eine Neuübersetzung von Bruno Schulz' "Zimtläden" und Christiane Kunsts Biografie der Kaiserin "Livia" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 25.03.2008

Marianne Zelger-Vogt lauschte Bergs Oper "Wozzeck" in Bern - bis der Dirigent Roman Brogli-Sacher den Orchestergraben verließ. "Die Ursache waren, wie (Intendant) Adam dem verdutzten Publikum erklärte, Differenzen zwischen Brogli-Sacher und dem Orchester bezüglich der musikalischen Wiedergabe des Werks. Konkret ging es dem Vernehmen nach um unterschiedliche Auffassungen in Bezug auf die von Brogli-Sacher gewünschte, von den Musikern jedoch unter Berufung auf die zulässigen Werte verweigerte Lautstärke."

Weitere Artikel: Thomas David schreibt zum 100. Geburtstag von David Lean. Andrea Köhler berichtet über den Streit in den USA um Nicholson Bakers Buch "Human Smoke" (Baker hätte eine pazifistische Antwort auf Hitler bevorzugt)

Besprochen werden die Ausstellung "Modigliani und seine Zeit" im Madrider Museo Thyssen-Bornemisza und Bücher, darunter Erinnerungen der amerikanischen Schriftstellerin Edith Anderson an die frühe DDR, "Liebe im Exil", und Clemens Meyers Erzählungsband "Die Nacht, die Lichter" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Spiegel Online, 25.03.2008

Stefan Marx stellt einen Bericht über Zwangsehen in Großbritannien vor, die zumeist unter Muslimen arrangiert werden. Die Zahl scheint wesentlich höher als angenommen: "Jetzt herrscht auf der Insel eine rege Diskussion. Es geht um Religion, archaische Familientraditionen und britische Identität. Nahrung erhält die Debatte durch immer neue Statistiken. Die Regierung korrigierte ihre Zahlen über Zwangsehen erst auf 2000, dann auf 3000 Fälle pro Jahr nach oben."
Stichwörter: Zwangsehe

Aus den Blogs, 25.03.2008

Klaus Jarchow denkt im Blog Medienlese über den "Alphajournalisten" Frank Schirrmacher nach, hinter dessen "naturwissenschaftlichem" Feuilleton (zuletzt in der FAZ-Hirnoffensive) er eine neobourgeoise Strategie vermutet: "Wobei er ein maximales Getöse veranstalten muss, um von der Tatsache abzulenken, dass er statt der intellektuellen Toga nur einen flotten Feuilletonisten-Tanga trägt. Und wozu das alles? Der Clou folgt zum Schluss: Um Gebet und Meditation zu fördern!"

Das ist das neueste Signet der Olympischen Spiele in Peking, produziert von Reporter ohne Grenzen (gefunden bei Stefan Niggemeier):



Niggemeier kritisiert in seinem Blog die Illustration von Geschichten über Gewalt in Tibet mit Bildern von Gewalt in Nepal: "Auch die Chinesen haben ein Recht darauf, dass die Medien keine Aufnahmen fälschen, um mithilfe prügelnder nepalesischer Polizisten die für uns nicht sichtbare Brutalität chinesischer Polizisten zeigen zu können. Vor allem aber haben wir ein Recht darauf."

FR, 25.03.2008

Der Philosophen-Politiker Julian Nida-Rümelin sieht die Linkspartei als normale Ausgleichserscheinung der parlamentarischen Demokratie und hält wenig von ihrer Ausgrenzung: "Die Linkspartei ist schneller in der politischen Realität angekommen als damals die Grünen. Ihre Wählerschaft siedelt mehr in der Mitte der Gesellschaft, darunter viele enttäuschte Kleinbürger, Gewerkschaftsaktivisten, sozial Engagierte... Die Existenz dieser fünften parlamentarischen Kraft ist Folge einer politischen Asymmetrie, die nun auf diese Weise austariert wird: Die wirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Eliten haben in Deutschland nun rund zwanzig Jahre für eine massive Rücknahme der Staatstätigkeit, für eine Senkung der Steuer- und Abgabenquote, für Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, für Deregulierung des Arbeitsmarktes und insbesondere für den Abbau sozialer Leistungen plädiert."

Weiteres: "Ein Bach, ein Bosch ist Ostermeier nicht", stellt Tom Mustroph zu Thomas Ostermeiers Theaterabend mit Stücken von Martin Crimp und Mark Ravenhill an der Berliner Schaubühne fest. In der Times mager gibt Judith von Sternburg dem geplanten Birnengarten im Park von Schloss Ribbeck im Brandenburger Havelland ihr Plazet.

Daland Segler geht auf die jetzt veröffentlichte Kritik des ARD-Programmbeirats an Anne Wills Talkshow am Sonntagabend ein.

Besprochen werden ein Konzert der Editors in der Darmstädter Centralstation, ein Konzert der Combo triosence in Frankfurt und eine von Yona Friedman initiierte Ausstellung im Frankfurter Portikus.