Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.06.2005. Die Reaktionen auf die Friedenspreisentscheidung für Orhan Pamuk sind unterschiedlich: Die FAZ freut sich für den Literaten, möchte den Autor aber nicht als Befürworter eines EU-Beitritts der Türkei verstanden wissen. Die FR versteht Pamuks Kritik an der Türkei als Anbiederung an Europa. Die taz fürchtet, dass die Entscheidung in der Türkei nicht auf ungeteilte Begeisterung stößt. Außerdem bringt die Zeit ein Manifest für einen relevanten Realismus in der Literatur. Und der Tagesspiegel wirft einen Blick auf die Kulturpolitik einer künftigen CDU-Regierung.

Zeit, 23.06.2005

Im Literaturteil veröffentlichen die Schriftsteller Martin R. Dean, Thomas Hettche, Matthias Politycki und Michael Schindhelm ein Manifest des Relevanten Realismus, mit dem eine "neue Mitte" konstituiert werden soll. "Was also ist die Haltung des Relevanten Realismus? Stilistisch gesprochen: eine Gratwanderung zwischen dem, was als Erzählen aus der Mitte erlebten Lebens heraus seit je einzig angemessen, und dem, was von der einstigen Avantgarde als Kunstfertigkeit übrig geblieben ist. Moralisch gesprochen: die beständige Sichtung unsrer untergehenden Welt und das Ringen um neue Utopien. Vielleicht sollten wir uns dabei mit dem Gedanken anfreunden, wir ewig Linksliberalen, dass wir am Ende wertkonservativ denken müssen, um des grassierenden kulturellen Kannibalismus Herr zu werden. Auch der Schriftsteller unserer Generation wäre damit wieder an einem Ort, den er jahrzehntelang aus guten Gründen gemieden hat und den er jetzt nicht länger meiden darf: im Brennpunkt des gesellschaftlichen Diskurses, dort, wo es nicht nur zu sichten und stilistisch zu gestalten gilt, sondern auch Partei zu ergreifen. Was wir jetzt vor allem brauchen, ist: Unduldsamkeit."

Darauf antworten gleich vier Schriftsteller - Juli Zeh, Hans Ulrich Treichel, Andreas Maier und Uwe Tellkamp -, die mit diesem Manifest gar nichts anfangen können. Wir zitieren Uwe Tellkamp: "Werte Kollegen vom Relevanten Realismus! Wir müssen gute Bücher schreiben und schlechte vermeiden. The rest is irrelevant."

Weitere Artikel: In der Reihe über die Zukunft des Kapitalismus schlägt Camille de Toledo, Spross einer Großindustriellenfamilie, der sein Erbe ausschlug, vor, den Kapitalismus nicht mehr als ungerecht zu kritisieren, sondern als hässlich: "Könnte man sich nicht vorstellen, dass die Obszönität, die Unanständigkeit der Weltwirtschaft und das Verlangen, worauf sie gründet, als ästhetisch nicht mehr erträglich bewusst werden?" Der CDU-Politiker Norbert Lammert antwortet auf Jens Jessens Vorwurf, die CDU wisse im Gegensatz zur SPD nichts mit Intellektuellen und Künstlern anzufangen: "Ob die SPD tatsächlich ein 'eigenes Kulturmilieu' hat, mögen andere entscheiden. Die CDU hat es jedenfalls nicht und muss sich dafür auch gewiss nicht entschuldigen. Wir denken selbst." Christian Schüle weiß auch nach einem Treffen mit SWR-Intendant Peter Voss nicht, ob der Mann ein "rückgratloser Kulturzerstörer" ist oder ein als agent provocateur verkleideter Advokat der Hochkultur. Claus Spahn schreibt den Nachruf auf den Dirigenten Carlo Maria Giulini.

Im Aufmacher schreibt Peter Kümmel über das Festival Theater der Welt in Stuttgart, dessen eingeladene Inszenierungen vor allem eins zeigen: die "Erdrückten, an ihrer Einsamkeit Erstickenden, Abrutschenden". Thomas Assheuer empfiehlt die Lektüre von Peter Handkes Milosevic-Verteidigung in Literaturen: "Wer bislang Zweifel am Strafgerichtshof hegte, der lese Handkes Elaborat. Schlagartig wird ihm klar, welcher Fortschritt mit ihm verbunden ist." Hanno Rauterberg missfällt sowohl das neue Zentrum Paul Klee in Bern als auch die Eröffnungsausstellung. Sibylle Berg zieht sich vor der Sinnlosigkeit des Lebens mit Keksen ins Bett zurück. Auch Woody Allen erklärt im Interview über seinen neuen Film alles was wir aus dem Leben herausholen können sei "ein bisschen Spaß und Würde". In der Reihe 50 Filmklassiker schreibt Anke Leweke über Nagisa Oshimas "Im Reich der Sinne".

Besprochen werden die CD "Klassik unter Sternen", Herman Dünes CD "Jackson Heights", ein Hörbuch über einen Schwarmfisch-Fänger und Ry Cooders Album "Chavez Ravine".

Im Dossier beschreibt Wolfgang Büscher ("Berlin - Moskau") die dritte Gründung Kaliningrads in 750 Jahren. Im Politikteil erklärt Ute Frevert in einem Essay, wie europäische Identität entsteht - durch gemeinsamen Geschichtsunterricht. Oskar Negt erklärt im Interview Oskar Lafontaine zur "tragischen Figur". Und im Leben futtert sich Wolfram Siebeck weiter durch die Restaurants auf der Guardian-Liste: Diesmal besucht er das Restaurant von Jamie Oliver.

FR, 23.06.2005

Nicht ganz so euphorisch wie ihre Kollegen begegnet Hilal Sezgin der Entscheidung, Orhan Pamuk den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zuzuerkennen. Zwar könne man ohne Übertreibung sagen, "dass Pamuk der postmoderne Erzähler der Türkei ist. Seine Romane stecken voller Bilder, Allegorien, geistreicher Mehrdeutigkeiten - schwärmen seine Liebhaber. Vollgestopft, befinden seine Verächter. Pamuks Sprache ist bis ins Letzte durchdacht, kunstfertig und raffiniert - oder künstlich und aufgeblasen, je nach Geschmack." Die ihm zugeschriebene Dissidentenrolle jedoch sieht sie skeptisch und zitiert den in Paris lebenden Schriftsteller Nedim Gürsel, der Sezgin zufolge zu einer Gruppe linker Intellektueller gehört, die Pamuks Äußerungen zur Kurden- und Armenienfrage als plumpen opportunistischen Versuch auslegen, bei den Europäern Punkte zu sammeln. Unter leichter Abwandlung eines türkischen Sprichworts habe Gürsel gesagt, "Kollege Pamuk habe, um den Nobelpreis zu erhalten, 'bereits alles unternommen, außer sich nackt auszuziehen'".

"Da ist sie wieder, die peinvolle Kombination aus Schwärmerei und Aversion", stöhnt Ina Hartwig über den Beitrag von Peter Handke in der neuen Ausgabe der Zeitschrift Literaturen, den sie "zum x-ten Mal Handkes Obsession namens 'Gerechtigkeit für Serbien'" reanimieren sieht (Hier unser Resümee aus der Magazinrundschau, hier der Kommentar aus der FAZ).

Weiteres: Franz Anton Cramer feiert das Leipziger Theater- und Kunstfestival Westend 05 . Harry Nutt widmet die Kolumne Times Mager der endgültigen Entscheidung des Bundesgerichtshofs gegen Maxim Billers Roman "Esra". In der Beilage FR-Plus gibt Hannelore Schlaffer einen Überblick über Tendenzen der Mode im zwanzigsten Jahrhundert, vom Reformkleid zum T-Shirt.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Bildern des jungen polnischen Malers Rafal Bujnowski im Düsseldorfer Kunstverein, Woody Allens "fulminante" Tragikomödie "Melinda und Melinda", Norman Jewisons Politthriller über die Jagd auf einen alten Kriegsverbrecher "The Statement" und Irene von Albertis, Miriam Dehnes und Esther Gronenborns Rene-Pollesch-Film "Die Stadt als Beute".

NZZ, 23.06.2005

Die NZZ druckt eine gestern von Iso Camartin zur Eröffnung der diesjährigen Tage der deutschsprachigen Literatur gehaltene Rede. Camartin sorgt sich um den Stil in der Literatur: "Künstler dürfen die Werk-Stilfrage nicht zur persönlichen Lifestyle-Frage verludern lassen. Es gibt heute in Dutzenden von Büchern die gleiche trostlose Befindlichkeitsprosa anzutreffen, die Verleger und Lektoren offenbar für den authentischen Ausdruck unserer Zeit halten, deren gemeinsames Merkmal aber nur der epidemisch sich verbreitende Stilmangel ist, und das heißt: der Verzicht auf jene Omnipräsenz des gestaltenden Stilwillens, mit dem allein der Inhalt, aber so eben auch jeder Inhalt zu retten ist. Wir wollen unverwechselbare und nicht beliebig austauschbare Stimmen hören. Diese dürfen rau und herb, laut und schrill, sanft und weich sein. Nur konsequent müssen sie sein, erkennbar und glaubwürdig, gerade wenn sie uns mitteilen, dass es das Glaubwürdige und für die Erkenntnis Verlässliche gar nicht gibt."

Die NZZ Online beglückwünscht den designierten Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Orhan Pamuk und freut sich über die Vergabe des Meister-Eckhart-Preises der Düsseldorfer Identity-Foundation an Ernst Tugendhat.

Besprochen werden eine Neoimpressionismus-Schau im Musee d'Orsay, eine DVD-Serie von Konzertmitschnitten aus vierzig Jahren Jazzfestival Montreux sowie Bücher, darunter Christophe Blains Comic-Serie "Isaak der Pirat", der Briefwechsel von Gretel Adorno und Walter Benjamin und eine Märchensammlung von Bela Balazs (siehe unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 23.06.2005

"'Eine hervorragende Entscheidung'", zitiert Jürgen Gottschilch auf der Tagesthemenseite den hocherfreuten Direktor des Zentrums für Türkeistudien, Faruk Sen. "Er hatte gerade erfahren, dass Orhan Pamuk als diesjähriger Preisträger für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels nominiert ist. 'Das ist ein kritischer Preis', sagte Sen weiter, 'das wird Wellen schlagen'. Gestern war davon in der Türkei zwar noch nichts zu bemerken. Doch Sen hat zweifellos Recht, wenn er meint, dass die Auszeichnung für Orhan Pamuk in seinem Heimatland nicht auf ungeteilte Begeisterung stoßen wird. Die türkischen Nationalisten werden die Verleihung, vor allem nach der Kontroverse um die vom Bundestag letzte Woche verabschiedete Armenien-Resolution, als Lohn für einen Nestbeschmutzer werten."

Tobias Rapp zeichnet auf der Tagesthemenseite noch einmal nach, warum sich Orhan Pamuk nationalistische Kreise in der Türkei zu Feinden gemacht hat: "Knapp fünf Monate ist es her, dass Pamuk so nachhaltig des Vaterlandsverrats bezichtigt wurde, dass er sich gezwungen sah, für eine Weile unterzutauchen. Dabei hatte Pamuks großer Roman 'Schnee', als er Anfang 2002 in der Türkei erschien, vor allem deshalb für Aufsehen gesorgt, weil sich hier einer der bekanntesten Schriftsteller des Landes von seinen historischen Sujets ab- und der Gegenwart zugewandt hatte. Es brauchte die Übersetzung ins Deutsche und ein Interview mit dem Schweizer Tages-Anzeiger, um aus dieser Hinwendung einen Skandal zu machen. 'Man hat hier 30.000 Kurden umgebracht. Und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich, das zu erwähnen', sagte Pamuk damals. Anzeigen wegen Landesverrats waren die Folge, in einem anatolischen Landkreis wurden Pamuks Bücher aus den Bibliotheken entfernt."

Auf der Meinungsseite sieht Jürgen Busche bei einem Kanzlerinnenwechsel in Deutschland neue Zeiten anbrechen, denn: "In den wilden Jahren, von denen heute alte Menschen wüste Dinge unter der Chiffre 68 erzählen, hatten bei den Hauptakteuren die Frauen nichts zu sagen, Mädchen schon gar nicht. Die durften tun, was Angela Merkel in den 70ern tat: Kirsch-Cola bei Universitätspartys im Institut verkaufen, Theaterkarten besorgen. Es war eine schöne Zeit. Männer spielten derweil Fußball, wurden Europameister, Weltmeister oder lasen."

Weiteres: Ebenfalls auf der Meinungsseite macht Cristina Nord sich kritische Gedanken über den schrumpfenden Abstand zwischen Filmwerbung und Filmkritik, und in der tazzwei behauptet Klaus Staeck, dass er sich vor keinen Wahlkampfkarren spannen lässt.

Im Kulturteil gibt Veronika Füchtner Lesenswertes über Alfred Döblins Krankschreibungspraxis zu Protokoll, Nicole Hess porträtiert die Regisseure Jean-Pierre und Luc Dardenne, deren jüngster Film "L'Enfant" auf dem heute beginnenden Münchner Filmfest läuft. Besprochen werden Woody Allens neuer Film "Melinda und Melinda" und Esther Gronenborns, Miriam Dehnes und Irene von Albertis Rene-Pollesch-Episodenfilm "Stadt als Beute".

Schließlich Tom.

Tagesspiegel, 23.06.2005

Bernhard Schulz schreibt über "die CDU und die Bundeskulturpolitik". Nachdem er zunächst kräftig über Namen für das Amt eines Kulturstaatsministers oder gar Kulturministers spekuliert hat - denn dass die Kultur auch unter einer konservativen Regierung in der Zuständigkeit des Bundes bleiben wird, ist für ihn klar - kommt er auf inhaltliche Fragen zu sprechen: "Nun halten derlei Personalspekulationen zwar den Berliner Betrieb in Atem. Doch inhaltlich ist damit nichts gesagt. Da nämlich warten drei dicke Probleme auf eine schwarze oder schwarz-gelbe Kulturpolitik, die schon Rot-Grün auch nicht im Ansatz hat lösen können. Es sind dies erstens das Föderalismusproblem, also die Frage des Verhältnisses von Bundes- und Länderzuständigkeiten; zweitens - damit verbunden - die Rolle des Bundes in seiner Hauptstadt Berlin; und drittens die Gestaltung der auswärtigen Kulturpolitik." Dass beispielsweise die Goethe-Institute der Kontrolle des Außenministeriums unter Joschka Fischer unterliegen, so Schulz, hätte auch die derzeit amtierende Kulturstaatsministerin Christina Weiss als Fehler erkannt.

FAZ, 23.06.2005

Hubert Spiegel begrüßt die Friedenspreisentscheidung für Orhan Pamuk und lobt die literarischen Qualitäten und den politischen Mut des Autors, aber er möchte den Preis trotz einer entsprechenden Passage in der Begründung nicht als Plädoyer für einen EU-Beitritt der Türkei verstehen: "In keinem seiner fünf bislang auf deutsch erschienenen Romane - von 'Die weiße Festung' und 'Das schwarze Buch' über 'Das neue Leben' und 'Rot ist mein Name' bis zu 'Schnee' - hat Orhan Pamuk der Versuchung nachgegeben, die selten eindeutigen, oft entmutigenden und stets widersprüchlichen Verhältnisse, die in seiner Heimat und ihrem Verhältnis zu Europa herrschen, zu vereinfachen oder gar zu idealisieren."

Hans. D. Barbier und Frank Schirrmacher interviewen auf einer ganzen Seite den Trierer Bischof mit dem passenden Namen Reinhard Marx zur katholischen Soziallehre, Hartz IV und demografischen Verwerfungen der nahen Zukunft - und Marx kommt gleich eingangs zu der überraschenden Einsicht: "Die großen Linien der christlichen Verkündigung sind richtig und bestätigen sich." (Nun hätten wir gern noch Auskunft über die Abweichungen im Detail.)

Weitere Artikel: In der Leitglosse weist "bat." nach, dass die alten Ägypter entgegen den Behauptungen schwarzer Aktivisten in den USA, die gegen eine Tut-Anch-Amun-Ausstellung in Hollywood protestieren, nicht schwarz waren. Christian Geyer berichtet von der Verleihung der theologischen Ehrendoktorwürde an den Staatstheoretiker Ernst Wolfgang Böckenförde in Tübingen. Gemeldet wird, dass verschiedene Akademien für Sprache und Dichtung gegen die Reform der Rechtschreibung protestieren. In der Reihe "Wir vom politischen Archiv" stellt Maria Keipert einen Vertrag aus dem Jahr 1874 vor, der deutsche Archäologen zu Ausgrabungen in Griechenland befugte. Christian Welzbacher flaniert über die vom Gartengestalter Adriaan Geuze ausgerichtete Architekturbiennale in Rotterdam.

Auf der Kinoseite resümiert Hanns-Jörg Rother das Jewish Film Festival in Berlin. Und Andreas Kilb hat sich eine Science-Fiction-Ausstellung in Turin angesehen. Außerdem wird eine Liste mit den hundert berühmtesten Filmzitaten vorgestellt.

Auf der Medienseite meldet Jürg Altwegg, dass die einzige französische Journalistin im Irak Anne-Sophie Le Mauff nun von den irakischen Behörden ausgewiesen wird - die französische Regierung leugnet, Druck ausgeübt zu haben. Heinrich Wefing berichtet, dass sich das National Public Radio aus den USA um eine Frequenz in Berlin bewirbt.

Auf der letzten Seite deckt Stefan Stirnemann auf, dass die Rechtschreibreform ihren Ursprung in der Schweiz habe, wo sich die Reformbestrebungen bis ins Jahr 1947 zurückverfolgen lassen. Andreas Rossmann spekuliert über die Frage, ober der Bauunternehmer Hans Grothe seine hochwertige Kunstsammlung, die er zur Zeit ans Kunstmuseum Bonn verliehen hat, verkaufen will. Und Gina Thomas stellt den designierten Leiter der Stuttgarter Staatsgalerie, Sean Rainbird, vor, der sich bisher in London um deutsche Kunst des 20. Jahrhunderts verdient machte.

Besprechungen gelten George Taboris Stück "Jubiläum" in eigener Inszenierung am Berliner Ensemble, Nigel Coles Film "So was wie Liebe", Händels Oratorium "Jephta" als Oper in Bonn und zwei neuen Comics über Auschwitz.

SZ, 23.06.2005

"Die oft radikale Modernisierung der Türkei im zwanzigsten Jahrhundert war auch eine Technik des Vergessens", sagt der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk, der in diesem Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhält, in einem Gespräch mit Nathan Shachar Carmona und Thomas Steinfeld. "Und das Wissen um viele angenehme, schöne, kluge, ja auch ruhmreiche Dinge und Ereignisse aus der türkischen Vergangenheit ging dabei verloren. Der Humanismus des osmanischen Reiches, seine Toleranz, aber auch etwa der Sufismus sind dem säkularen Programm der Modernität geopfert worden. Und so ist eine Leere entstanden, und nicht nur das: ein Unvermögen des Landes, mit sich selbst umzugehen. Auf diese Leere reagieren etwa auch die radikalen Islamisten. Und es ist nicht die moderne westliche Kultur, die diese Leere füllen kann."

"Mit Orhan Pamuk wird am 23. Oktober ein Türke an das Rednerpult in der Paulskirche treten, dem Europa gut zuhören sollte, gerade weil er ihm nicht nach dem Munde reden wird", kommentiert Lothar Müller die Vergabe des diesjährigen Friedenspreises an den türkischen Schriftsteller. "Orhan Pamuk ist ein Kind der städtischen, vom technologischen Fortschritt wie von der westlichen Kultur geprägten Türkei. Aber wer in seine Bücher hineinschaut, bemerkt sogleich, dass in ihnen das Unbehagen der modernen Türkei an sich selbst rumort."

Der Plan, künftig Millionäre mehr Steuern zahlen zu lassen, hat den Schriftsteller Georg Klein zu einer kleinen Philosophie des Geldes inspiriert: "Wo bitteschön, bei welcher Zahl, fragt das Geld gutgelaunt, beginnt dieser böse Reichtum? Eine berechtigte Frage. Denn wir leben ja nicht in einer Weltgegend, wo man den Reichen an seiner Leibesfülle und den Armen an seiner Magerkeit erkennen kann."

Weiteres: Christiane Schlötzer fasst (positive) türkische Reaktionen auf den Friedenspreis zusammen. Franziska Augstein hat zugehört, wie sich Peter Sloterdijk und Alain Finkielkraut im Münchner Literaturhaus anlässlich seines 100. Geburtstag über Jean-Paul Sartre "in einer mitreißenden Darbietung" unterhalten haben. Thomas Steinfeld ist der Ansicht, dass Maxim Billers Roman "Esra" aus gutem Grund verboten bleibt. Gottfried Knapp erklärt, warum das Neue Museum Nürnberg in Zukunft auf die Sammlung des Kölner Galeristen Rolf Ricke verzichten muss.

Besprochen werden Woody Allens neuer Film "Melinda und Melinda" (dazu gibt es ein Interview mit Allen), eine Retrospektive mit Filmen aus Brasilien im Österreichische Filmmuseum Wien, Norman Jewisons Film "The Statement", Kathinka Feistls Film "Bin ich sexy?", eine Ausstellung mit dem fotografischen Werk des Schauspielers und Regisseurs Bernhard Wicki in der Münchner Pinakothek der Moderne, George Taboris Inszenierung seines Stückes "Jubiläum" am Berliner Ensemble ("nicht verstörend, sondern fast schon selig: gefühlig, man muss es leider sagen, bis an die Grenze zum Kitsch", findet Christine Dössel), Laurie Anderson und Fabio Morabito auf dem Berliner Poesiefestival und Bücher, darunter Bettina Gundermanns Roman "Lysander" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).