Heute in den Feuilletons

Urwaldexpedition des Geistes

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.09.2008. Die NZZ wirft mit Napoleon einen Blick auf das Dekollete von Madame de Stael. In der Welt geißelt Uwe Tellkamp die Bevorzugung des Temperierten in der Kunst. In der FR warnt der Althistoriker Christoph Ulf vor dem Missbrauch Homers. Die taz gratuliert sich zum Dreißigsten. Die FAZ ist heute gay and gray. Die SZ feiert Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Kafkas "Prozess". Die Berliner Zeitung reist nach Omsk.

NZZ, 27.09.2008

In Literatur und Kunst beschäftigen sich zwei große Artikel mit Napoleon und dem Kongress in Erfurt 1808. Manfred Koch widmet sich der Napoleon-Feindin Madame de Stael, die kurz zuvor in Wien gegen den Kaiser intrigiert hatte - kein Wunder, nach der Anekdote, die Koch erzählt: "Die äußerlich oft als 'unschön' bezeichnete Frau - sie neigte zu Fülligkeit, hatte einen ungewöhnlich dunklen Teint und aufgeworfene Lippen - war eine Venus des Wortes: Wenige Sätze genügten, um Männer auch physisch von ihr abhängig zu machen. Napoleon gehörte allerdings nicht dazu. Bei ihrer letzten persönlichen Begegnung 1801 soll er laut einer Anekdote nur einen Blick in ihr Decollete geworfen haben, um dann zu sagen: 'Sie haben gewiss Ihre Kinder selbst gestillt.'"

Außerdem: Adolf Muschg schreibt über das Treffen Goethes und Napoleons in Erfurt. Daneben stellt Roman Bucheli Gustav Seibts Buch zum Thema vor.

Ein zweiter Themenschwerpunkt sind die Kunstbiennalen in Asien: Samuel Herzog besuchte die Kunstbiennale von Gwangju in Südkorea - "In jedem Sinne des Wortes einen schwierigen Stand hat die Kunst im Rahmen des Daein Traditional Market in Downtown Gwangju. Neben dem bösen Grinsen eines toten Rochens oder dem so erschreckend allwissend wirkenden Gesicht eines toten Schweins haben Künstler wahrlich schlechte Karten."

Herzog war auch bei der Pusan-Biennale in Südkorea. Sabine B. Vogel schreibt über die Taipeh-Biennale für zeitgenössische Kunst. Philipp Meier resümiert die Biennale von Schanghai. Und Marianne Burki schreibt über die Guangzhou-Triennale: "lässt sich durchaus mit einer chinesischen Massage vergleichen".

In den Bildansichten betrachtet Navid Kermani Caravaggios Bild "Judith enthauptet Holofernes".

Im Feuilleton informiert Joachim Güntner die Schweizer über die Enthüllung des Georg-Elser-Denkmals in Berlin und die überfällige Anerkennung des Hitler-Attentäters durch deutsche Politiker. Aldo Keel berichtet über die Reaktionen in Finnland auf das Schulmassaker von Kauhajoki. Die Frage, "Was ist schweizerisch?" beantwortet heute der Banker Philipp Hildebrand.

Besprochen werden die Ausstellung "Rivoluzione - Italienische Moderne von Segantini bis Balla" im Kunsthaus Zürich, ein Tanzabend mit Juliette Binoche in London, Sebastian Nüblings Inszenierung von Simon Stephens' Stück "Pornografie" am Theater Basel und Bücher, darunter die Neuübersetzung von Jane Austens "Northanger Abbey" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 27.09.2008

In der Rede, die Uwe Tellkamp zum Erhalt des Uwe-Johnson-Preises hielt, feuert der Autor, der mit "Der Turm" auf der Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises steht, in der Literarischen Welt eine Salve gegen das Lauwarme ab. "Ich sehe heute die Bevorzugung des Temperierten, der mittleren Preislagen, es heißt, der Künstler soll nicht 'zu weit gehen' - aber wohin denn sonst als zu weit 'soll' der Künstler gehen, will er diesen Namen verdienen? Kunst heißt nicht hübsch und nett sein, glatt und bestsellertauglich, auch rezensententauglich inzwischen, indem man die 'do's and dont's' nicht vergisst und weiß, was man 'darf und was nicht'. Kunst, der ich diesen Namen gebe, heißt Erweiterung der Grenzen, Polar- und Urwaldexpedition des Geistes, heißt Weltschöpfertum und prometheische Anmaßung des Gottspielens, heißt Größenwahn und Widerstand."

Desweiteren wettert Andre Glucksmann gegen Russland, Putin und die europäische Schreckstarre gegenüber beiden. "Wird Europa mit dem Gas Selbstmord verüben?" Elmar Krekeler besucht den Schriftsteller Steffen Kopetzky. Besprochen werden unter anderem zwei Biografien zu Wilhelm II. und ein Buch über den brutalen Alltag im Mittelalter: "Henker, Huren, Handelsherren" von Kay Peter Jankrift.

Im Feuilleton spricht Michael Loesl in einem Interview, dass online schon vor vier Tagen erschien, mit den letzten beiden Vierteln der Rockband Queen, Brian May und Roger Taylor, über späte Doktorarbeiten und das neue Album "The Cosmos Rocks". Besprochen werden eine Schau mit Porträts von Henri Matisse in der Staatsgalerie Stuttgart und zwei Ausstellungen in Marbach und Stuttgart über den Schriftsteller W.G. Sebald.

FR, 27.09.2008

Der österreichische Althistoriker Christoph Ulf warnt angesichts neuer Autorschaftsdebatten davor, Homer politisch zu missbrauchen: "Was im 18. und 19. Jahrhundert Deutschland war, ist heute Europa. Über das Konzept des wesenhaften Anfangs wird Homer als Gründervater Europas präsentiert. War es - in der kleindeutschen Lösung - vergleichsweise einfach, Deutschland abzugrenzen, so fällt das für Europa eindeutig schwerer. Für Geographen ist es ein selbstverständlicher Satz geworden, dass Räume nicht sind, sondern sie gemacht werden, dass sie soziale Konstrukte sind. So wanderten die Grenzen Europas je nach politischer Konjunktur von den baltischen Staaten über den Ural bis an den Jenissei. Eine Berufung auf den Anfang schafft keine Klarheit, weil auch in der Antike Europa sehr unterschiedlich konstruiert wurde."

Weitere Artikel: Sven Hanuschek unterhält sich sich mit Alfred Anderschs Tochter Anette Korolnik-Andersch und ihrem Mann Marcel Korolnik über die einst von W.G. Sebald aufgebrachten, nun wieder aufgewärmten Vorwürfe des vielfachen recht unehrenhaften Opportunismus ihres Vaters im Dritten Reich und danach. Die beiden haben nun einen Band herausgegeben, in dem Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, das alles ihrer Meinung nach ohne jede Lust an der Skandalisierung "hervorragend auseinanderfädelt". Marcia Pally erklärt in ihrer Amerika-Kolumne, warum der Kapitalismus durch und durch Glaubenssache ist. In einer Times Mager denkt Judith von Sternburg über einen Labour-Vorstoß nach, künftig auch KatholikInnen und überhaupt Frauen für die Thronfolge zuzulassen. Sylvia Staude gratuliert den Münchner Tatort-Kommissaren Batic und Leitmayr zum fünfzigsten Fall.

Besprochen werden eine Darmstädter Aufführung von Vladimir Sorokins Theaterstück "Hochzeitsreise", die Ausstellung "Im Namen der Freiheit, Verfassung und Verfassungswirklichkeit in Deutschland" im Deutschen Historischen Museum, die New Yorker MoMa-Ausstellung "Kirchner and the Berlin Street" und Paul Scheffers Migrations-Studie "Die Eingewanderten" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 27.09.2008

Dirk Pilz begibt sich hinter den Ural und meldet sich aus dem vom Ölgeld wachgeküssten Sibirien. "Omsk wird es noch lange schwer haben, aus dem Provinzstatus herauszukommen. Doch die Stadt boomt. Die Waffenindustrie, das Öl, die Zolleinnahmen als Grenzstadt zu Kasachstan bringen Geld in die Staatskasse. Die gut zwanzig Universitäten und Hochschulen sind begehrt, die Gemäldegalerie aus dem 19. Jahrhundert, benannt nach dem russischen Symbolisten Michail Alexandrowitsch Wrubel, ist piekfein renoviert und das Dostojewskij-Museum kann sich auch sehen lassen. Vier Jahre schmorte Dostojewskij in Omsk in der Verbannung und erlebte hier seinen ersten epileptischen Anfall. Die Omsker sind dennoch stolz auf den Aufenthalt des Weltruhmdichters. Außerdem ist Jaromir Jagr wieder da. Der tschechische Eishockey-Weltstar kehrte von den New York Rangers zurück zu Avantgard Omsk, wo er sich vor sieben Jahren schon einmal in die Fanherzen gespielt hat."

TAZ, 27.09.2008

Die taz gibt's aus Anlass des 30. Geburtstags des Blatts gleich doppelt, die reguläre Ausgabe verzichtet freilich auf den Kulturteil. In einem riesig großen Mantelteil (hier die Online-Übersicht) gratuliert die Zeitung sich selbst und schildert die Welt, wie sie sie sah, in dreißig Ereignissen. So hat sich Hanna Gersmann mit dem emeritierten Professor Bernhard Ulrich, der als erster wichtiger Warner vor dem "Waldsterben" gilt, zum Waldspaziergang getroffen. Im Gespräch mit Andreas Fanizadeh erinnert sich der Punk-Musiker Rocko Schamoni an die wilden Zeiten in Lütjenburg und Hamburg und weiß sehr wohl, dass sie vorbei sind: "Vielleicht sind aber auch wir als Zeitwarte unserer Generation schon halb abgetaucht ins Erwachsensein und ins Establishment. Dass andere, die erst 20 sind und ein heißes, geiles Ding am Laufen haben, von dem wir nichts wissen, über uns sagen: Na ja, das sind alte Typen, war mal geil, ist aber komplett vorbei, in zehn Jahren blüht unsere Rose auf, das ist wohl die Wahrheit."

Auf drei Jahrzehnte westdeutsche Sozialisation blickt Dirk Knipphals mit Sven Regener und seiner Herr-Lehmann-Trilogie zurück und begreift diese Zeit beinahe emphatisch als Epoche, in der sich Frieden mit diesem Staat machen ließ: "Dagegen wurde in den Neunzigern klar, dass es sich in diesem Land inzwischen immerhin ganz gut leben ließ. Es gibt weiterhin Probleme, klar. Aber die Debatte um das Holocaustmahnmal machte klar, dass diese Gesellschaft sich nicht mehr um Schuldfragen herumdrücken wollte und dass die Erinnerung an die Shoah zum deutschen Selbstverständnis gehört. Die Verhüllung des Reichstags und dann die transparente Kuppel auf ihm sind gute Symbole dafür, dass wir nicht mehr in einem Obrigkeitsstaat leben."

Mathias Bröckers schreibt über seine Erstbegegnung mit Google, weiß aber auch noch, dass die taz mal Vorreiter der Digitalisierung war. Wiederabgedruckt wird Christian Semlers zwei Tage nach den Attentaten veröffentlichter Kommentar zum 11. September. Und Richard Nöbel, seit 1979 bei der taz, beginnt seinen Rückblick so: "Natürlich weiß ich über die letzten dreißig Jahre nichts zu sagen, nichts, was Licht ins Dunkel brächte."

FAZ, 27.09.2008

Carolin Pirich porträtiert den schwulen Theo Kempf, der in München die Gruppe "Gay and Gray" gegründet hat, nachdem er festgestellt hatte, dass die Bars im Glockenbachviertel nichts mehr für ihn waren. "Als Theo Kempf in diese Bars ging, brannte ihm der Rauch in den Augen. Es war eng, die Musik laut. Er fühlte sich nicht wohl, irgendwann blieb er weg. Er hatte so lange gebraucht, um sich einzugestehen, dass er schwul ist, nun musste er einsehen, dass er darüber alt geworden war. Es war wie ein zweites Outing. Und diesmal wollte er es richtig machen."

Weitere Artikel: Regina Mönch beschreibt die skandalösen Vorgänge in Münster um den Islamwissenschaftler Muhammad Sven Kalisch, der Lehrer für den Religionsunterricht ausbilden sollte: Weil Kalisch erklärt hat, für die historische Existenz Mohammeds gebe es keine wissenschaftlichen Beweise, soll er jetzt nicht mehr ausbilden dürfen. Der Orientalist Tilman Nagel hat daraufhin zusammen mit anderen Wissenschaftlern einen Solidaritätsaufruf für Kalisch initiiert. Gesine Hindemith ist begeistert von den frühen Tagebüchern Simone de Beauvoirs, die gerade in Frankreich erschienen sind: "Hier kann man philosophische Denkarbeit selbst beobachten, ohne diskursive Erhöhung." Konstanze Crüwell schreibt zum Siebzigsten des Aktionskünstlers Günter Brus.

Besprochen werden Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Kafkas "Prozess" in den Münchner Kammerspielen, die Murakami-Ausstellung im Frankfurter Museum für Moderne Kunst und Bücher, darunter Lydia Davis' Erzählband "Fast keine Erinnerungn" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite geht's unter anderem um CDs von John Mellencamp und den Fleet Foxes sowie Einspielungen der "weltlich-sinnlichen" Sonaten von Padre Antonio Soler.

Für Bilder und Zeiten besucht Julia Spinola den Pianisten Alfred Brendel, der sich gerade von der Konzertbühne verabschiedet hat. Dirk Schümer erinnert anlässlich der Finanzkrise an klassische Börsenkräche wie den holländischen Tulpenskandal im 17. Jahrhundert. Tobias Rüther sucht in Frankfurt nach einer gesunden Rosskastanie. Der englische Schriftsteller Martin Amis charakterisiert im Interview seine Generation der "Baby Boomer" so: "Wir sind ein silberner Tsunami, eine Horde hässlicher Immigranten, die sich im öffentlichen Dienst breitmachen und überall sonst."

In der Frankfurter Anthologie stellt Wulf Segebrecht ein Gedicht von Hölderlin vor:

"An die jungen Dichter

Lieben Brüder! es reift unsere Kunst vielleicht,
Da, dem Jünglinge gleich, lange sie schon gegärt,
Bald zur Stille der Schönheit;
Seid nur fromm, wie der Grieche war!
..."

SZ, 27.09.2008

Mit angehaltenem Atem hat Christopher Schmidt Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Kafkas "Prozess" an den Münchner Kammerspielen verfolgt. Zu sehen sind ein Josef K. und sieben Widersacher als Doppelgänger. Ein völlig überzeugender Einfall, findet Schmidt: "Die Zersplitterung der Identität erlaubt es ihm, mit der ureigenen Formensprache des Theaters einen Reichtum an Bezügen herzustellen, statt diese umständlich erklären zu müssen, und damit szenischen Mehrwert zu erzielen. Dabei ist sowohl die Choreographie der Bewegungen und Abläufe als auch das Arrangement der Texte, dessen Instrumente die Spieler gleichsam sind, von so ausgeklügelter Raffinesse und Komplexität, die Bildfindungen sind von so betörender Skurrilität und Poesie, dass Kriegenburgs Regiebuch eigentlich einer dickleibigen Orchesterpartitur gleichen und ein Robert Wilson vor Neid erblassen müsste."

Weitere Artikel: Unter Stichworten wie "Staat", "Realität", "Neoliberalismus" und "Gier" denken der Ökonom Hendrik Enderlein, die Finanzwissenschaftler Jürgen G. Backhaus und Hersh Shefrin, die Soziologen Andreas Langenohl und Bob Jessop, der Theologe Friedrich Wilhelm Graf und der Attac-Sprecher Pedram Shahyar auf zwei ganzen Seiten über die Finanzkrise nach. Peter Burghardt schildert die Schikanen, die sich Nicaraguas Präsident Daniel Ortega gegen seinen einstigen Mitstreiter und heutigen scharfen Kritiker, den Schriftsteller Ernesto Cardenal einfallen lässt. Über eine Studie, die belegt, dass viele der rauchenden Hollywoodstars der klassischen Zeit in Diensten der Zigarettenindustrie standen, informiert Susan Vahabzadeh. Helmut Schödel gratuliert dem Aktionskünstler Günter Brus zum Siebzigsten.

Besprochen werden ein Konzert des br-Orchester unter Mariss Jansons mit Musik von Jörg Widmann und Beethoven und Bücher, darunter Julien Greens "Erinnerungen an glückliche Tage" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende schildert Rebecca Casati, wie London zwischen Modewoche und Bankenkrach in eine ungewisse Zukunft steuert. Benjamin Henrichs ist unlängst nach Bayern gezogen und sieht sich um in der neuen Heimat, die am Sonntag die Revolution zu erleben droht. Else Buschheuer porträtiert Peter Fox, einen der Sänger von Seeed. Auf der Historien-Seite geht es um das Verschwinden der jüdischen New Yorker Küche. Abgedruckt wird in Welterstveröffentlichung das erste Kapitel "Der Einzug" von Elizabeth Bowens durch Tod der Autorin 1973 unvollendet gebliebenem letztem Roman. Im Interview spricht Alexander Gorkow mit Bette Middler über "Amerika" und Las Vegas, wo sie als Nachfolgerin von Celine Dion regelmäßig im Caesar's Palace auftritt: "Hurra, Las Vegas ist wieder dabei, sich meinem insgesamt vulgären Niveau anzupassen."