Heute in den Feuilletons

Mindestens ein Tag im sogenannten Spalier

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.12.2009. Die Zeit erzählt die haarsträubende Geschichte des einstigen Doyens der Musikwissenschaft Hans-Heinrich Eggebrecht - Jahre nach seinem Tod stellt sich heraus, dass er an der Ermordung von 14.000 Juden auf der Krim beteiligt war. In der Welt fordert Peter Sloterdijk eine Homöotechnik. Ars technica deckt die Kungeleien der Regierung Obama mit den Verwerterindustrien auf. In der NZZ ruft Brigitte Kronauer die Natur an. Die FAZ fragt: Wie antisemitisch ist Godard?

Welt, 17.12.2009

Die Welt druckt Peter Sloterdijks Kopenhagener Rede, die wortreich durch die Klimaproblematik mäandert. Nachdem er kurz davor war, "Frugalität für alle" zu fordern, macht der Philosoph doch noch Hoffnung auf ein Weiter so mit erneuerter Technik: "Vor einiger Zeit wurde der Vorschlag gemacht, zwischen Heterotechnik und Homöotechnik zu unterscheiden - wobei die Erste auf Prozeduren der Naturvergewaltigung und der Naturüberlistung beruht, die Zweite auf Prozeduren der Naturnachahmung und der Fortführung natürlicher Produktionsprinzipien auf artifizieller Ebene. Durch die Umrüstung der Technosphäre auf homöotechnische und biomimetische Standards würde mit der Zeit ein völlig anderes Bild vom Zusammenspiel zwischen Umwelt und Technik entstehen. Wir würden erfahren, was der Erdkörper kann, sobald die Menschen im Umgang mit ihm von Ausbeutung auf Koproduktion umstellen."

Im Feuilleton annonciert Michael Pilz die Rückkehr des Weihnachts-Albums. Johnny Erling berichtet von der Verleihung des chinesischen Romanpreises an Martin Walser. Eckhard Fuhr freut sich über mehr Geld für die Bundeskultur und ängstigt sich über weniger Geld für die Kultur der Kommunen. Für Peter Zander ist die neue Fernseh-Sissi, die zu Weihnachten ausgestrahlt wird, nicht besser als Rosamunde Pilcher. Auf der Kinoseite stellt Rüdiger Sturm einen Mangel an Actionstars im aktuellen Hollywoodkino fest. Besprochen wird die Verfilmung von Maurice Sendaks Buch "Wo die wilden Kerle wohnen" (mehr hier), zu der der Regisseur Spike Jonze auch interviewt wird.

Noch eine gute Meldung: Auf der Wirtschaftsseite wird über einen drastischen Einbruch bei Champagnerpreisen berichtet.

Aus den Blogs, 17.12.2009

US-Vizepräsident Joe Biden hat vorgestern zu einem Runden Tisch über Copyright-Fragen eingeladen, berichtet Nate Anderson auf Ars technica. Mit dabei: Topleute aus Justiz und Regierung, das FBI, der Secret Service und die Topmanager aus der Film-, Verlags- und Musikindustrie. Anderson zitiert Gigi Sohn von Public Knowledge, der seine Enttäuschung über die einseitige Einladungspolitik zum Ausdruck bringt: "Obwohl das Treffen mit Vizepräsident Biden vorgab, 'alle Interessengruppen zusammenzubringen um darüber zu diskutieren, wie Piraterei in diesem rapide sich verändernden technologischen Zeitalter bekämpft werden kann', waren einige Interessengruppen offenbar nicht dabei. Keine Konsumenten oder Vertreter öffentlicher Interessen, keine Technologiefirmen oder Internet Provider stehen auf der Gästeliste. Niemand, der den Wunsch nach drakonischer Regierungspolitik im Namen jener privilegierten Interessengruppen in Frage stellt, für die das Treffen abgehalten wurde, steht auf der Gästeliste."

Spiegel Online, 17.12.2009

Im Privatfernsehen gibt es Sender, die Werbung haben und für die Zuschauer kostenlos sind, und Pay-TV-Sender, für die man zahlen muss, wo die Filme aber ohne Unterbrechung laufn. Nur Springer und sein Hamburger Abenblatt wollen drei Sachen auf einmal: Geld vom Leser, Geld von Werbekunden und jammern über die Gratismentalität im Netz, schreibt Christian Stöcker: "Den aktuellen Aufmacher der Seite am Mittwochmittag umrahmen Anzeigen für Kochtöpfe und Parfum, zusätzlich zwei Kästchen mit Google-Anzeigen. Und das, obwohl Springer-Chef Döpfner dem Suchmaschinenkonzern vorwirft, er habe eine Marktmacht erreicht, 'gegen die sich Rockefeller wie ein harmloser Kioskbesitzer' ausnehmen würde."
Stichwörter: Geld, Pay-TV, Parfums, Parfüm

Perlentaucher, 17.12.2009

Einige Blogs haben bereits darüber berichtet: So richtig zahlbar ist das Hamburger Abendblatt eigentlich nicht: Es "fährt eine Doppelstrategie: Der Leser soll zahlen, bei Google aber möchte man trotzdem vorkommen", schreibt Peer Skrzypek im Perlentaucher. Der Programmierer erklärt, wie Google sehen kann, was der Nutzer nicht sehen soll.
Stichwörter: Blogs, Google

NZZ, 17.12.2009

In einer recht emphatischen Anrufung der Natur plädiert die Schriftstellerin Brigitte Kronauer für mehr Willen zu Überwältigung: "Erinnern wir uns, und sei es nur, um unseren Verlustschmerz zu vertiefen! Erinnern wir uns, ohne den Vorwurf eines Rückfalls in antiaufklärerische Naturschwärmerei zu fürchten! Erinnern wir uns an die frühen Herbstdämmerungen der Kindheit, an die geheimnisvolle Eintrübung einer eben noch bekannten Welt, die plötzlich mit unvorhergesehenen Winkeln und Falten lockte, die uns umfing und schreckte durch andere Rufe, anderen Hall, durch fremde Gerüche und schaurig-süße Berührungen, so dass wir uns selbst Momente lang fremd wurden, so verengte und weitete es sich in uns."

Weiteres: Mona Naggar berichtet, dass in Ägypten Magdy al-Shafees Comic "Metro" verboten wurde, angeblich weil er gegen die guten Sitten verstößt, vielleicht aber auch wegen solcher Sätze wir: "Was uns kleine Leute davon abhält, aus der Falle der Großen herauszukommen, ist unsere Angst." Peter Urban-Halle erzählt von Arild Batzers dänischem Kleinstverlag, der mehr Nobelpreisträger versammelt als die meisten Großverlage.

Auf der Kinoseite unterhält sich Sarah Elena Schwerzmann mit Regisseur Spike Jonze über seine Verfilmung von "Wo die wilden Kerle wohnen". Auf "ungebremste Fabulierlust" erkennt Christoph Egger bei James Camerons 3D-Spektakel "Avatar"

Besprochen werden Ulrich Horstmanns Buch "Die Aufgabe der Literatur" und Charif Majdalanis Roman "Ein Palast auf Reisen" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Freitag, 17.12.2009

Andreas Oppermann unterhält sich mit dem deutsch-jüdischen, in der Nazizeit nach Holland emigrierten Autor Hans Keilson, der auf die Frage, wie der Tagesablauf eines Hundertjährigen aussieht, antwortet: "Ich fühle mich in vielen Dingen gehandicapt. Meine Augen. Ich sitze zu lang und laufe nicht genug... Und das obwohl ich staatlich geprüfter Sportlehrer bin."

Für die "Nahaufnahme" auf Seite 3 hat Annett Gröschner die kasachische Hauptstadt Astana besucht. Robert Misik plädiert gegen das Weihnachtsfest. Im Feuilletonaufmacher stellt Sabine Kebir muslimische Feministinnen vor.

TAZ, 17.12.2009

Sven von Reden hat an Spike Jonzes Verfilmung von Maurice Sendaks Bilderbuchklassiker "Wo die wilden Kerle wohnen" besonders gefallen, dass er weit entfernt von jedweder "Kinder an die Macht-Romantik" sei und zeige, wie "verdammt anstrengend" Neunjährige sein können: "Das Einzigartige an ihm ist, wie er die anarchische Energie eines hyperaktiven Neunjährigen im Kinosaal physisch erlebbar macht - daher konnten die Monster auch nur von riesigen Puppen dargestellt werden und nicht virtuell im Computer entstehen. Den Film völlig aus der Perspektive von Max zu erzählen, erlaubt, an der befreienden Verantwortungslosigkeit teilzuhaben, die nur Kindern erlaubt ist."

Außerdem: Benjamin Weber porträtiert das Label Grönland Records, wo Herbert Grönemeyer Nachwuchskünstler aufbaut und vergessene Perlen veröffentlicht.

Besprochen werden Arbeiten des russischen Fotografen Andrej Krementschouk im Kunstverein Recklinghausen, Guy Maddins autobiografisch motivierter Stummfilm "Brand Upon the Brain!" über seine Horrorkindheit und Martin Provosts Filmbiografie "Seraphine" über die naive Malerin Seraphine Louis.

Und Tom.

Berliner Zeitung, 17.12.2009

Die häufig in Deutschland weilende amerikanische Politologin und Publizistin Marcia Pally antwortet im Interview mit Jens Balzer auf die Frage, wo sie lieber leben würde, wenn sie ein türkischer Koch wäre, in Berlin oder New York: "In Manhattan. Aber nicht wegen der frischeren Zutaten, sondern wegen der besseren Integrationsmöglichkeiten, die mir als türkischem Koch die Gesellschaft bietet. Mag sein, dass mit der amerikanischen Wirtschaft eine Menge nicht stimmt - und das nicht erst seit 2008 -, aber sie ist viel durchlässiger und flexibler als etwa das deutsche System, sie bietet viel mehr Möglichkeiten für Immigranten, Fuß zu fassen."

FR, 17.12.2009

Harry Oberländer springt seinem Freund, dem Lyriker Werner Söllner beiseite, der bekannte hatte, für die Securitate gearbeitet zu haben. In einem Offenen Brief an Richard Wagner schreibt er: "Ich habe Ihrem Gespräch mit dem Spiegel die Aussage entnommen: 'Wir wollen ihn ja nicht hängen sehen.' Nun kommt es mir so vor, dass Sie nach dem Artikel von Hubert Spiegel in der FAZ, den er nach einem sechsstündigen Gespräch mit Söllner geschrieben hat, dennoch vorsichtshalber schon mal einen Strick drehen. Ich werfe Ihnen dabei nicht vor, dass Sie Details nachlegen, die natürlich im Interesse der rückhaltlosen Aufklärung sind. Ich bin aber zunächst nur imstande zu erkennen, dass es sich bei dem gesamten Vorgang nicht um eine Kleinigkeit handelt, zu der man auch mit Rücksicht auf die Ängste eines Zwanzigjährigen 'Schwamm drüber' sagen darf."

Weiteres: Harry Nutt meldet, dass der polnische Historiker Tomasz Szarota den Beirat der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung verlässt: "Szarotas Verzicht könnte eine weitere Delegitimierung des Stiftungsanspruchs nach sich ziehgen, einen Beitrag zur Versöhnung ... zu leisten." In Times mager widmet sich Sylvia Staude dem Umstand, dass Barack Obama der erste amerikanische Präsident mit einer promovierten Mutter ist. Ihre Doktorarbeit über "Dörfliches Gewerbe in Indoneisen" hat die Duke University jetzt veröffentlicht. Sebastian Moll berichtet von einer heftig diskutierten Studie über die guten Beziehungen amerikanischer Universitäten zu Nazi-Deutschland. Jörg Platzh würdigt die wohl letzte Ausgabe von Kindlers Literatur Lexikon. Robert Kaltenbrunner blickt auf das Bauhaus-Jubiläumsjahr zurück.

Besprochen werden Martin Provosts Künstlerin-Porträt "Seraphine", ein Auftritt Rocko Schamonis im Mousonturm und Frank Schirrmachers Bestseller "Payback" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 17.12.2009

Für die Publizistin Hilal Sezgin belegen aktuelle Umfragezahlen, dass die Deutschen (und die Europäer) nicht aus aufklärerischen Gründen islamkritisch sind, sondern dass in der Islamkritik nur ihre Fremdenfeindlichkeit maskiert auftritt. "Zu allem Überfluss erleben wir, wie das Pew Research Center in Washington im Jahr 2008 herausgefunden hat, gleichzeitig ein Wiedererstarken des Antisemitismus. 52 Prozent der Spanier, 50 Prozent der Deutschen und 38 Prozent der Franzosen wurde eine ablehnende Haltung gegenüber dem Islam attestiert; eine Ablehnung des Judentums zeigten 46 Prozent der Spanier, 25 Prozent der Deutschen und 20 Prozent der Franzosen. Beide Zahlen seien in den letzten Jahren gestiegen, und es gebe eine deutliche Kongruenz: Wer sich negativ über das Judentum äußere, tue dies auch in Bezug auf den Islam." (Kann es sein, dass der Antisemitismus zu einem Großteil aus der muslimischen Bevölkerung kommt?)

Weitere Artikel: Als "lernfähig" hat sich für Till Briegleb die Stadt Hamburg erwiesen, lobt er den Rückkauf des Hamburger Gängeviertels, auf das sich Investoren schon Hoffnungen gemacht hatten. Alex Rühle berichtet vom wieder einmal bevorstehenden Verkauf der Medien-Supermarktkette Fnac. Johannes Boie schildert den Versuch des Filmverleihs Senator, den Schweizer Filehoster Rapidshare zur Löschung des von Senator vertriebenen Films "Der Vorleser" von seinen Servern zu zwingen. Manfred Schwarz unternimmt zum 100. Todestag des mächtigen Königs Leopold II. einen "Streifzug" durch Brüssel. Egberth Tholl porträtiert den Komponisten und Dirigenten Stanislaw Skrowaczewski. Auf der Kinoseite erinnert Fritz Göttler daran, dass vor siebzig Jahren die Klassiker "Vom Winde verweht" und "Der Zauberer von Oz" in die Kinos kamen. Rainer Gansera berichtet vom Filmfestival in Marrakesch. Auf der Medienseite gratuliert Michael Moorstedt der Fernsehserie "Die Simpsons" zum Zwanzigjährigen.

Besprochen werden Spike Jonzes Verfilmung von Maurice Sendaks Kinderbuchklassiker "Wo die wilden Kerle wohnen" (mehr), Alain Gsponers Verfilmung von Martin Suters Roman "Lila, lila" und Bücher, darunter Anne Wiazemskys unter dem Titel "Jeune Fille" (hier eine Leseprobe) veröffentlichte Erinnerungen an ihre Arbeit mit Robert Bresson (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 17.12.2009

Jean-Luc Godard wurde in Le Monde von dem Filmkritiker Jean-Luc Douin Antisemitismus vorgeworfen, berichtet Jürg Altwegg. Douin hatte in den Memoiren des Regisseurs Alain Fleischer einen Satz Godards gelesen, den Fleischer aus dem Gedächtnis zitiert: "Die Selbstmordattentate der Palästinenser mit dem Ziel, einen palästinensischen Staat zu bekommen, gleichen letztlich dem, was die Juden taten, als sie sich wie Schafe in die Gaskammern führen und ausmerzen ließen, sie opferten sich für die Existenz Israels."

Weitere Artikel: Michael Hanfeld berichtet - unter der Überschrift "Die totale Gebühr" -, dass über den zukünftigen Modus der Rundfunkgebühr noch nicht entschieden ist, kann aber das eine versichern: "Wie es auch kommt, eines ist gewiss: Weniger zahlen wird niemand." Regina Mönch vermeldet, dass der polnische Vertreter Tomasz Szarota den wissenschaftlichen Beraterkreis der Stiftung für Flucht, Vertreibung, Versöhnung nach dessen konstituiernden Sitzung verlassen hat. In der Glosse geht es um kölsch sprechende Navis. In der Serie zu Besten Lagen in Städten berichtet heute Paul Ingendaay von Luxuswohnungen am Madrider Retiro-Park. Auf der Kinoseite unterhält sich Rüdiger Suchsland mit dem Kameramann Ed Lachman.

Besprochen werden ein Bernd-Begemann-Konzert in Frankfurt, Alicia Keys' neues Album "The Element of Freedom", Cass McCombs' (Myspace-Seite) Album "Catacombs", Spike Jonzes Verfilmung des Kinderbuchklassikers "Wo die wilden Kerle wohnen" (mehr) und Bücher, darunter Anne Enrights Erzählungsband "Alles was du wünschst" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 17.12.2009

Hans Heinrich Eggebrecht (1919-1999), neben Carl Dahlhaus der einflussreichste Musikwissenschaftler in der alten Bundesrepublik, war im Zweiten Weltkrieg auf der Krim an Massenerschießungen von Juden beteiligt, berichtet der Musikwissenschaftler und Historiker Boris von Haken. Eggebrecht war damals bei der Feldgendarmerie, deren beide Kompanien 1941 "vollzählig antraten", um die 14.000 Juden auf der Krim zu exekutieren. "Es kam weder zu Befehlsverweigerungen noch zu Krankmeldungen. Die Feldgendarmen wurden bei diesem Massenmord an verschiedenen Stellen eingesetzt, sie bewachten das Zusammentreiben und Verladen der Opfer in der Stadt, organisierten die Lkw-Fahrten und bildeten Absperrketten an der Hinrichtungsstätte. Hans Heinrich Eggebrecht stand dabei an mindesten einem Tag im sogenannten Spalier, durch das die Opfer unmittelbar vor ihrer Ermordung getrieben wurden. Dies geschah unter extrem gewalttätigen Umständen: Mit Peitschen und Eisenstangen wurde auf die Juden eingeschlagen, die Feldgendarmerie setzte auch Schäferhunde ein. Wer zu fliehen versuchte oder Widerstand leistete, wurde noch im Spalier getötet." Mehr darüber kann man aus Hakens im Frühjahr 2010 erscheinenden Buch "Holocaust und Musikwissenschaft" erfahren.

"Dass die Enthüllung erst jetzt kommt, hat auch zu tun mit der späten Aufarbeitung der Fachgeschichte", schreibt Volker Hagedorn, der die Bücher Eggebrechts noch einmal liest.

Späte Aufarbeitung auch in den Theaterwissenschaften. Peter Kümmel hat aus der Autobiografie des Theaterkritikers Henning Rischbieter, Mitherausgeber von Theater heute, erfahren, dass dessen 1988 verstorbener Kollege Siegfried Melchinger in der Nazizeit antisemitische Texte geschrieben hat. Zum Beispiel 1938, nach dem Novemberpogrom, über Elisabeth Bergner: "Die sinnlose Überschätzung ihrer Schauspielerei ist ein Symptom der jüdischen Herrschaft. Hier hatte in der Tat das tonangebende Systemjudentum sein Idol gefunden." Ritschbieter habe davon "Anfang der neunziger Jahre" erfahren, so Kümmel. Warum er dann noch mal zehn Jahre gewartet hat, das zu erzählen, erfahren wir nicht.

Weitere Artikel: Thomas Assheuer schüttelt den Kopf über den "Aufklärungsfundamentalismus liberaler Intellektueller". In der Leitglosse meint Florian Illies nach einem Blick auf den Spiegel-Titel dieser Woche: "Erfolg und Glanz sind in Deutschland nur im Präteritum erträglich." Ulrich Ladurner hat in Kabul vier Afghanen getroffen, die versuchen in ihrem zerstörten Land Kunst zu machen: den Puppenspieler Otman, den Filmvorführer Eng Lafif, der versucht das Archiv von Afghan films zu retten, den Musikwissenschaftler Doktor Samast, der eine Musikschule gründen will, und den Filmregisseur Mehdi Zafari. Dass Werner Söllner für die Securitate gearbeitet hat, hätte man eigentlich längst wissen können, meint Hans-Peter Kunisch: "Es hätte gereicht, seine Gedichte genauer zu lesen, um stutzig zu werden." In der Reihe "Klassenkampf von oben", sieht Boris Groys eine prächtige Zweckgemeinschaft zwischen Armen und Reichen: erstere werden vom Staat subventioniert, um dann die billigen Massenprodukte letzterer zu kaufen. Katja Nicodemus hat sich mit Jane Campion über deren Keats-Film "Bright Star" unterhalten. Marie Schmidt spielt Bäuerin in Farmville, einem Computerspiel bei Facebooks. Wolfgang Büscher besucht das Schlossbergmuseum in Chemnitz. Stefan Koldehoff lässt sich von dem New Yorker Kunsthändler Nanne Dekking kurz erklären, warum die Reichen jetzt eher Rembrandt kaufen statt einen jungen Künstler. Michael Naumann bewundert eine "bescheidene und anmutige Herta Müller" bei der Nobelpreisverleihung in Stockholm.

Besprochen werden Fatih Akins Film "Soul Kitchen" ("gutes Kinohandwerk sieht anders aus", meint Thomas E. Schmidt) und Bücher, darunter Alan Pauls Roman "Die Vergangenheit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).