Heute in den Feuilletons

Zurückweisung, Kritik und Bedenken

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.09.2010. Die FAZ kritisiert Wolfgang Benz und sein Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung und nennt Benz' Nachfolgerin: Stefanie Schüler-Springorum. Warum haben gerade Linke eine so altmodische Vorstellung von Öffentlichkeit?, fragt Carta. Die Welt porträtiert die japanische Architektin Kazuyo Sejima. Und die FR stellt den uruguayischen Autor und Abenteurer Horacio Quirogas vor.

Welt, 29.09.2010

Britta Nagel porträtiert die seit der Biennale in Venedig geradezu kultisch verehrte Architektin Kazuyo Sejima, die ihre Arbeit so erklärt: "'Ich denke beim Entwerfen zuerst daran, wie die Menschen sich im Raum fühlen. Sie sollen sich wohlfühlen, und dazu gehört für mich, dass sie nicht abgeschottet sind, sondern sowohl mit der Welt draußen als mit den Menschen im Inneren verbunden.'"

Weiteres: Jacques Schuster denkt über Yoav Shamirs Film "Defamation" nach, der versucht, den Antisemitismus von heute zu ergründen, zumindest in den westlichen Ländern. Schwer euphorisiert schwärmt Joachim Bessing vom Konzert des isländischen Musiker Johann Johannson und der Wirkung von MDMA, der offenbar dazugehörenden "Königin der Substanzen". Hanns-Georg Rodek schreibt zum Tod von Old Rose Gloria Stuart.

In einem Interview auf den vorderen Seiten spricht Flemming Rose, Kulturredakteur der dänischen Zeitung Jyllands-Posten und Initiator der Mohammed-Karikaturen, über Meinungsfreiheit und Respekt: "Es gab einige Muslime, die meinten, ihre persönlichen Grenzen sollten die Grenzen für alle sein, und das hat nichts mit Respekt, sondern mit Unterdrückung zu tun." Und auf der Forumsseite befasst sich Matthias Küntzel mit den zweifelhaften Geschäften der Europäisch-Iranischen Handelsbank.

Aus den Blogs, 29.09.2010

Via Rivva: Das Blog Allfacebook präsentiert folgenden Vergleich der wöchentlichen Nutzungszeiten von Google und Facebook bei amerikanischen Nutzern:



Es sind ja heutzutage Linke, die für Sitte-Kopftuch-Religion eintreten. Robin Meyer-Lucht stellt auf Carta fest, dass Linke auch beim Thema Öffentlichkeit heute ausgesprochen konservativ sind. SPD- und PDS-nahe Organisationen veranstalten am Wochenende eine Tagung über "Öffentlichkeit und Demokratie". Das Internet wird eine Rolle spielen, aber der Mitorganisator Dieter Rucht sieht sie eher skeptisch: "Das Internet ist wichtig, aber es wird von den meisten Internetaktivisten überschätzt. Häufig werden die Potenziale des Netzes mit der realen Nutzung verwechselt. Es ist zudem kein gutes Medium, um neue Leute für ein politisches Thema zu interessieren oder gar zu mobilisieren."

Via Mioskito: So wird Steve Jobs' neues Eigenheim aussehen, enthüllt Gzimodo.

Marcel Weiß wertet den Verkauf von Techcrunch an AOL (wir meldeten ihn gestern morgen) in Neunetz eher als Niederlage des Techcrunch-Gründers Michael Arrington: "Trotz oder gerade wegen hoher Ambitionen scheint Michael Arrington sich mit TechCrunch die letzten fünf Jahre verausgabt zu haben, ohne (beziehungsweise nur teilweise) zu erreichen, was er wollte: Ein anerkannter Medienmogul der neuen Medienwelt zu werden. Widersacher Nick Denton war in der gleichen Zeit mit seinem Gawker-Blognetzwerk sehr viel erfolgreicher." Und hier die Version von Michael Arinngton: "Why We Sold TechCrunch To AOL, And Where We Go From Here."

Adrian Chen meldet bei Gawker, dass der kanadische Blogger Hossein Derakhshan im Iran zu 19 1/2 Jahren Gefängis verurteilt wurde. Wegen "Kollaboration mit feindlichen Staaten" und der "Gründung unmoralischer Webseiten".

Weitere Medien, 29.09.2010

Der BDI fürchete in einem Papier, dass die von den Presseverlegern geforderten Leistungsschutzrechte Milliarden kosten könnten. Gegen diese Behauptung wehren sich die Verleger jetzt, meldet Lutz Knappmann in der Financial Times: "Der mächtige Unternehmerverband ist wichtig im politischen Prozess, das wissen auch die Verleger. Sie reagieren gereizt: Die Behauptungen des BDI seien 'völlig überzogen'. 'Von Milliarden haben wir nie gesprochen.'"

TAZ, 29.09.2010

Besprochen werden Bühnenfassungen von Uwe Tellkamps Roman "Der Turm" in Dresden und Ulrich Peltzers Roman "Teil der Lösung" in Stuttgart, die Ausstellung über Zwangsarbeiter im NS-Regime im Jüdischen Museum Berlin und Rafael Seligmanns Autobiografie "Deutschland wird dir gefallen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 29.09.2010

Verärgert reagiert Roman Hollenstein auf die Ankündigung der UBS, den Architekten Le Corbusier aus ihrer Imagekampagne zu streichen. Corbusiers Anbiederung an Vichy sei unbestritten, aber nicht neu. Und: "Ob er damals wirklich ein 'rabiater Antisemit' war, wie der Architekturhistoriker Pierre Frey in der Weltwoche behauptete, muss noch genauer erforscht werden."

Weiteres: Marc Zitzmann hat seine Sommergeschichte fertig und erzählt von Ausstellungen im leeren Paris, unter anderem von der diese Woche zu Ende gehenden "Fleuve Congo" im Musee du Quai Branly. Roman Bucheli hat die Ausstellung über Else Lasker-Schülers bildende Kunst im Jüdischen Museum Frankfurt besucht. Werner Bloch berichtet über die virtuelle Rekonstruktion der vor 1100 Jahren gegründeten und ehemals größten Abteikirche der Christenheit in Cluny.

Besprochen werden Samuel D. Kassows Buch "Ringelblums Vermächtnis", Ernst Cassirers "Vorlesungen und Vorträge zu philosophischen Problemen der Wissenschaften" und Judith Zanders Debüt "Dinge, die wir heute sagten" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 29.09.2010

Lennart Laberenz stellt den uruguayischen Autor Horacio Quirogas (1878-1937) vor, einen Glücksucher, wie sie "sich noch heute an den Ufern von Parana, Amazonas oder Orinoco herumtreiben: etwas verschrobene Romantiker, die versuchen, praktische Tätigkeiten mit der Suche nach einem Paradies zu kombinieren. Horacio Quiroga gelingt es offensichtlich weder als Friedensrichter noch als Beauftragter des Bürgeramtes, den Überblick zu behalten - zum Missvergnügen der Obrigkeit notiert er Hochzeiten, Geburten und Sterbefälle auf Papierfetzen und sammelt diese in einer Keksdose. Die Musik von Richard Wagner hört er mit Begeisterung. Er baut seine Dschungel-Wohnstätte in eine Schiffswerft um, erkundet auf selbst gebauten Booten die Gewässer. Und er schreibt und schreibt - Novellen, Kurzgeschichten, Filmkritiken. Ende der 20er Jahre ist er auf dem Höhepunkt seines Ruhms."

Weitere Artikel: Arno Widmann und David Oliveira besuchen auf ihrer Reise durch Deutschland einen Gastwirt in Langensendelbach. Eine der acht Villen auf dem deutschen Botschaftsgelände in Istanbul soll nun doch für den Künstleraustausch umgebaut und genutzt werden, berichtet Harry Nutt: der Unterausschuss Auswärtige Kulturpolitik habe dies dem Auswärtigen Amt per Beschluss zu verstehen gegeben.

Besprochen werden die Aufführung von Volker Löschs "Hänsel und Gretel gehn Mümmelmannsberg" am Schauspielhaus Hamburg, ein Konzert von Chilly Gonzales in Frankfurt, erste Inszenierungen unter der Intendanz von Anselm Weber in Bochum, eine Bühnenversion von Robert Schneiders Roman "Schlafes Bruder" am Schauspiel Frankfurt und eine CD-Box mit Rocksongs zum Vietnamkrieg.

FAZ, 29.09.2010

Auf den Geisteswissenschaftenseiten würdigt Martin Eich die Arbeit Wolfgang Benz' und seines Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, die nach Eich zuletzt in die Kritik geriet. Zwar habe man sich dort in jüngster Zeit intensiv mit "Islamophobie" auseinandergesetzt, aber aktuelle Formen des Antisemitismus, etwa nach der Kaperung der Mavi Marmara, seien gar nicht wahrgenommen worden: "In Deutschland kam es seinerzeit, weitgehend unbemerkt, zum vielleicht stärksten antisemitischen Ausbruch seit 1945: Auf Hunderten von Facebook-Profilen verbreiteten nahezu gleichzeitig vorwiegend Migranten aus islamischen Ländern eindeutige Botschaften, lobten Hitler und die Rassenpolitik der Nationalsozialisten. Nicht unter Pseudonym, sondern im eigenen Namen. Zu all dem schwieg das Berliner Zentrum." Nebenbei erfährt man in dem Artikel, dass mit Stefanie Schüler-Springorum (mehr hier) nun auch eine Nachfolgerin für Benz berufen wurde.

Für das Feuilleton verfolgte Hubert Spiegel eine Jenaer Tagung über die Securitate unter Rumäniendeutschen und zitiert Richard Wagner über Oskar Pastior: "Unzählige Male, so sagt er im Gespräch, habe man beisammen gesessen und gemeinsam mit Herta Müller über die Securitate gesprochen, immer und immer wieder: 'Aber Oskar hat niemals ein Wort über seine Zeit als IM gesagt, keine Silbe. Das kann ich ihm nicht so einfach verzeihen.'"

Weitere Artikel: Andreas Kilb fürchtet wegen der Einflugschneise des künftigen Flughafens Berlin-Brandenburg um das Kulturerbe der Schlösser und Seen um Potsdam (und außerdem wohnen hier prominente Medienleute!) Andrea Diener überlegt sich, was der Hartz 4-Empfänger für 5 Euro alles leisten kann. Mark Siemons meldet, dass der kritische Wissenschaftspublizist Fang Zhouzi in Peking zusammengeschlagen wurde.

Auf der Medienseite sagt Michael Hanfeld weiteren Knatsch bei Wikileaks an - außerdem hat sich Wikipedia-Gründer Jimmy Wales zu Wort gemeldet, der über die Namensähnlichkeit der Dienste gar nicht froh ist. Und Joseph Croitoru berichtet, dass sich der iranische Präsident Achmadinedschad in seinen Äußerungen über den 11. September an die Verschwörungstheorien des französischen Autors Thierry Meyssan anlehnte, den der Propagandasender Press TV jüngst interviewte.

Besprochen werden Apichatpong Weerasethakuls neuer Film "Uncle Boonmee" ("Die Dinge wechseln sich ab bei ihm, ohne dass man immer ganz genau rekapitulieren könnte, wie man vom einen zum anderen, von hier nach dort gekommen ist. Die Verbindungslinien verlaufen bei ihm immer eher unterbewusst und lassen offen, wie viel eins mit dem anderen zu tun hat", schreibt Michael Althen), neue Stuttgarter Inszenierungen und Bücher, darunter Mario Livios Essay "Ist Gott ein Mathematiker?" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr)

SZ, 29.09.2010

Johannes Boie berichtet aus Los Angeles über den Film "The Social Network" über Facebook und stellt fest, dass Amerikaner sich über angebliche Unehrlichkeiten Mark Zuckerbergs aufregen, während Deutsche nur an Datenschutz denken: "Technik, Innovation und Entwicklung sind im Facebook-Fall Produkte aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Zurückweisung, Kritik und Bedenken der deutsche Beitrag dazu." (In der Huffington Post verreißt Jeff Jarvis den von amerikanischen Kritikern ziemlich gut besprochenen Film interessanterweise als "anti-geek movie. It is the story that those who resist the change society is undergoing want to see.")

Weitere Artikel: Musikkritiker Reinhard J. Brembeck beobachtet, dass Kinder- und Volksliederbücher wieder Konjunktur haben - ehrgeizige Eltern tragen durch das Anstimmen dieser Lieder dazu bei, dass sich bei ihren Kindern ein Gehirn entwickelt. Catrin Lorch unterhält sich mit der Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev, der Leiterin der in zwei Jahren stattfindenden Documenta 13. Alexander Kissler berichtet über die Verleihung des Guardini-Preises der Katholischen Akademie an Tomas Halik. Hans Koch resümiert die Europäischen Literaturtage in Spitz an der Donau.

Auf der Medienseite berichtet Hans-Jürgen Jakobs, dass ausgerechnet Thomas Middelhoff dem Bertelsmann-.Konzern zum 175. gratulierte - und zwar in einem Artikel des Handelsblatts. Der Mann, der gerade auch Karstadt herabgewirtschaftet hat, scheint in dem Unternehm trotzdem eher peinliche Erinnerungen wachzurufen.

Besprochen werden Apichatpong Weerasethakuls neuer Film "Uncle Boonmee" (mehr hier), erste Inszenierungen des Frankfurter Schauspiels in dieser Saison, Katie Mitchells "Fräulein Julie" an der Berliner Schaubühne und Bücher, darunter eine Biografie über den Psychologen William Stern, den "Mann, der den Intelligenzquotienten erfand" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).