Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.11.2002. Die Türkei darf nicht in die EU, fordert Hans-Ulrich Wehler in der FAZ. Die NZZ untersucht die Konsumlust junger Japanerinnen. In der FR erklärt die Soziologin Arlie Russell Hochschild, warum Bush Angst vor den Wahlen hat. Die SZ bewundert den musikalischen Regiefuror Peter Konwitschnys.

FAZ, 05.11.2002

Nach den Wahlen in der Türkei, bei der die islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) gewonnen hat, bekräftigt der Historiker Hans-Ulrich Wehler noch einmal im Interview (siehe auch taz vom 10.9.02), warum er gegen die Aufnahme der Türkei in die EU ist: "Wir stehen vor zu vielen Unbekannten, um uns ein solches Experiment politisch leisten zu können. Was wir über den türkischen Islamismus unter Erbakan kennengelernt haben, bis das Militär ihn 1996/97 ausgeschaltet hat, ist nicht gerade ermunternd. Man braucht doch geostrategische Nützlichkeit nicht mit der Mitgliedschaft in einem Staatenverein, der ganz anders geprägt ist als die Türkei, zu honorieren. Die Europäische Union ist kein Samariterverein, die aufs Ungewisse hin zu helfen hat."

Auch Mark Siemons ist in seinem Kommentar der Auffassung, dass die Türken erst noch beweisen müssen, dass sie so etwas wie eine muslimisch geprägte Zivilgesellschaft bilden können, bevor sie in die EU dürfen.

Gerhard R. Rohde schildert einen kleinen Skandal bei der Aufführung von Peter Konwitschnys Inszenierung der "Meistersinger" in Hamburg. Gerade als Sachs zu seinem Schlussappell ("... Habt Acht! Uns dräuen üble Streich: - / zerfällt erst deutsches Volk und Reich, / in falscher wälscher Majestät / kein Fürst bald mehr sein Volk versteht ...") anheben will, wird er unterbrochen: "'Wolfgang, wie kannst du das bloß singen!' Ein Diskurs auf der Bühne beginnt über die Fatalität dieser kunstpatriotischen Suada. Und Wolfgang Schöne, trotz minimaler Indisposition in jedem Moment grandioser Sachs-Sänger-Darsteller, stellt sich der durchaus realistisch plausiblen Diskussion ... So wird ganz 'normal' über die heikle Botschaft gestritten, extremer Bruch des schönen Scheins von Kontinuität einer Opernaufführung. Das Publikum schaltet sich mit der gebotenen Empörung ein, der Skandal ist da, Kunst und Leben vermischen sich."

Weitere Artikel: Werner Spies war bei einem Auftritt von Woody Allen mit seiner New Orleans Jazz Band im Pariser Theatre des Champs-Elysees: "Man muss den Cineasten und Schauspieler im Konzert erleben, hundert Minuten lang, ohne Pause, live und schließlich halb tot, um zu erfahren, wie ungemein Sound und Rhythmik ihn nach und nach in der eigenen Nostalgie vereinsamen lassen." Christoph Albrecht hat den Frankfurter Römerberg-Gesprächen über Osteuropas Westerweiterung zugehört. Joseph Croitoru wirft einen Blick in osteuropäische Zeitschriften, die sich mit der Wiederkehr der Armut beschäftigen.

Auf der letzten Seite beleuchtet der irakische Schriftsteller Hussein Al-Mozany die Rolle der Schiiten im Irak.

Besprochen werden Marc Günthers "dreifach missglückter" Neubeginn am Kölner Schauspiel ("ein im Seichten abgesoffener Shakespeare, eine flüssige Uraufführung, lieb- und belanglos, und eine überflüssige Ausgrabung", schreibt Andreas Rossmann.), eine Ausstellung mit Werken von Louis Soutter im Kunstmuseum Basel, Greg Jordans Film "Army Go Home", eine Ausstellung über den literarischen Einfall in der Berner Landesbibliothek und eine Aufführung von Benjamin Brittens "The Turn of the Screw" in der Inszenierung von Christian Schade in Frankfurt.

Schließlich sei noch auf die neue Literaturbeilage der FAZ hingewiesen, die mit einem Essay von Jonathan Franzen über "Mr. Difficult" William Gaddis aufmacht. Der Essay ist nicht! in dem Band "Anleitung zum Einsamsein" abgedruckt, wie heute morgen von uns fälschlich behauptet!!

TAZ, 05.11.2002

Monika Rinck beschreibt die Möglichkeiten des Gelderwerbs durch Teilnahme an den Ausschreibungen von Literatur-Preisen, darunter auch ihren kurzzeitigen Selbstversuch einer Teilnahme am "Frau-Ava-Literaturwettbewerb": "Der Frau-Ava-Literaturwettbewerb richtet sich nur an Frauen (das ist gut, weil ich eine bin und es die Konkurrenz halbiert), die sich auf 'innovative Weise in Sprache und Form mit Themen im Spannungsfeld von Spiritualität, Religion und Politik auseinander setzen'. Das Preisgeld von 10.000 Euro kann allerdings nicht bar ausgezahlt werden, sondern besteht in einer Statuette und einer voll finanzierten Lesereise durch die kleinen Höllen Oberösterreichs."

Weitere Artikel: Thomas Winkler erzählt die Geschichte der Wiederentdeckung von Suicide, einer "der einflussreichsten und zugleich erfolglosesten Bands aller Zeiten". Jan Engelmann stellt Ozzy Osbourne vor den Spiegel der Diskursanalyse bzw. schließt die MTV-Serie über dessen Familienleben mit Zitaten aus neu erschienenen Büchern von Michel Foucault und Udo Göttlich kurz.

Besprochen werden Bücher, darunter ein Roman des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal, David Foster Wallaces fiktive Protokolle aus dem ganz normalen (männlichen) Panikalltag und Kurzgeschichten des verstorbenen amerikanischen Schriftstellers John Fante. (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier TOM.

NZZ, 05.11.2002

Die Konsumlust vor allem der jungen Japanerinnen hat Urs Schoettli unter die Lupe genommen. Vor dem Hintergrund der japanischen Wirtschaftskrise boomt die Modebranche. "Die europäischen Luxusmarken erhalten einen grossen Teil ihres Appeals daraus, dass sie der japanischen Ästhetik mit ihrer Betonung von zurückhaltender Eleganz in geradezu idealer Weise entsprechen. Doch das Glück, das die Handtasche mit dem richtigen Markenzeichen zu verschaffen vermag, reicht viel weiter. Es lässt sich Stilbewusstsein und Kaufkraft zur Schau stellen, und gleichzeitig verschafft die allgemeine Anerkennung einer Luxusmarke Sicherheit. Man kann ja, wenn man das Label von Yves Saint Laurent oder Armani trägt, unter seinesgleichen nicht fehlgehen. So selbstbewusst modern sich die eleganten Singles in ihrer äußeren Erscheinung geben mögen, in ihrer Seele sind sie letztlich den Werten ihrer Elterngeneration treu geblieben und wissen wie diese, was sich gehört."

Aus Anlass einer Ausstellung der gesammelten Werke des Museu d'Art Contemporani de Barcelona denkt Markus Jakob über dessen Entwicklung in den sieben Jahren seit der Gründung nach. Dass sich das - einst als Totgeburt geschmähte - Museum inzwischen zum international meistbeachteten Ausstellungszentrum entwickelt hat, liegt wohl daran, dass es weniger spektakuläre, dafür aber überraschende Ausstellungen anbietet und aus seinen Schwächen Stärken gemacht hat. Zu verdanken ist dieser Erfolg daher dem Museumsleiter Manuel Borja-Villel, wenn es einfach seine Linie zeichnet "in die Wirrsal der jüngeren Kunstgeschichte, als Beitrag zu einer polyzentrischen Vision des "Art Contemporani".

Außerdem meldet die NZZ, dass Vladimir Ashkenazy neuer Musikdirektor des NHK Symphony Orchestra in Tokio wird.

Besprochen werden die Aufführung von Wagners "Meistersingern" in Hamburg, zwei deutsche Literaturzeitschriften, zwei Architekturausstellungen in Lausanne und Genf, die Ausstellung der Entwürfe für eine Besucherzentrum des Nationalparks Engadin und Bücher wie Hubert Markls Essays oder Edward Goreys Erläuterungen der Schriftstellerei.

FR, 05.11.2002

Arlie Russell Hochschild, Soziologin an der Universität Berkeley, schildert die Einschwörung der Amerikaner auf ein "einziges großes Gefühlsschema" nach dem 11. September - "Trauer, Wut, Angriff auf den Irak". Einwände wolle Bush nicht hören, Angst habe er nur vor den nächsten Wahlen. Doch "die Mehrzahl der Amerikaner, sagen die Umfragen, räumen der Wirtschaftslage höhere Priorität ein als dem Irak-Krieg." Deshalb folgert sie: "Es könnte sein, dass Bushs Regierung die Saat ihrer eigenen Zerstörung sät. Seine Wirtschaftspolitik wird weit mehr Leute treffen als unterstützen, so dass eben jene soziale Verwundbarkeit entsteht, die die Wähler Bushs Kidnapping der amerikanischen Angst anzweifeln und bekämpfen lassen könnte."

Weitere Artikel: Christian Broecking resümiert das JazzFest 2002 in Berlin, das diesmal ohne "Big Names" auskommen musste, dafür aber von einer "sympathischen No-Kommerz-Attitüde" geprägt gewesen sei. Daniel Kothenschulte beschreibt, wie sich auf der Kölner "Kunstfilmbiennale" im Museum Ludwig der Film seinen Platz im musealen Kontext mühsam zurück erobern musste. Und "gro" denkt in der Kolumne Times Mager über die "Lähmung der Zunge" bezüglich des Tschetschenien-Konflikts nach dem Moskauer Geiseldrama nach.

Besprochen werden Benjamin Brittens "The Turn of the Screw" an der Oper Frankfurt, eine Inszenierung von Wagners "Meistersingern" an der Hamburgischen Staatsoper und Franz Wittenbrinks Liederabend "Mütter" im Schauspielhaus Düsseldorf.

SZ, 05.11.2002

Wolfgang Schreiber ist begeistert vom musikalischen Regiefuror, mit dem Peter Konwitschny die "Meistersinger" inszeniert hat. "Der Eklat ist da, als auf Sachsens ehrliche Bemerkung 'Was deutsch und echt wüßt keiner mehr' die Meister anfangen, zu debattieren, laut zu protestieren ('Warum singst Du das?') - Abbruch, der Dirigent bringt das Orchester zum Schweigen. Stimmengewirr, Publikum im Saal wird wütend. Konwitschnys Wagner: momentweise Sprechtheater, Randale um 'das Deutsche', Appell, darüber zu reden. Der Coup ist: Konwitschny inszeniert Wagner und zeigt den Wirkungsgeschichtskonflikt um ihn, das chauvinistisch missbrauchte 'Deutschtum' der Oper."

Weitere Artikel: Fritz Göttler fragt sich anlässlich der Londoner Gala-Premiere des zweiten Harry-Potter-Films, wie Regisseur Chris Columbus mit dem "Gesetz der Serie" zurecht kommt. Tiziana Zugarao-Merimi stimmt auf die Konzerttournee von Funny van Dannen ein. Markus Mayer berichtet vom 5. Europäischen Jazzfest auf Schloss Elmau. Alexander Kissler stellt die Ausstellung "Deß einen Todt, deß andern Brod" und die dazu gehörige Tagung einer "einzigartigen Forschungsstelle" in Marburg vor, die sich seit 25 Jahren mit Leichenpredigten zwischen 1550 und 1750 beschäftigt. Und Sabine Leucht besuchte ein Tanz-Symposium in Tutzing.

In Glossen und Kommentaren geht es bei Thomas Becker um den Online-Journalisten, "jhei" nimmt sich des Theaters um den diesjährigen Turner-Preis an, "schöd" enthüllt einigermaßen voraussetzungsbedürftige "nackerte Tatsachen" aus dem "Wiener Leben", und Harald Eggebrecht verhandelt am Beispiel eines Familientreffens von Gaddafi und Berlusconi Funktion und Sinn von Initiationsgeschenken. Friedrich Niewöhner erzählt schließlich eine dieser Tage offenbar unvermeidliche weitere Siegfried-Unseld-Anekdote (Thomas Bernhard war auch dabei).

Besprochen werden eine "Siegfried"-Inszenierung von Regisseur David Alden und Dirigent Zubin Mehta, die Reinhard J. Brembeck gegen undankbares "Buhgeheul" in München verteidigt. Ein Lob gibt es für den Film "Blue Moon" von Andrea Maria Dusl, außerdem wird eine Publikation und eine Ausstellung im Berliner Medizinhistorischen Museum zum Thema "Der Zeitungsausschnitt in den Wissenschaften" vorgestellt. Besprochen werden auch Bücher, darunter ein Wörterbuch der antiken Philosophie und ein Lesebuch über 750 Jahre Literatur in Brandenburg (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).