Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.06.2005. Die NZZ fragt sich erstaunt, warum die deutsche Presse jeden politischen Machtwechsel im Land gleich zu einem Generationenwechsel hochredet. In der Welt erinnert Andre Glucksmann daran, dass der Hass auf den Westen unteilbar ist. Die taz diagnostiziert ein Schlafmangel-Syndrom in der jüngeren Literatur. In der FAZ wäre sich der türkische Schriftsteller Ahmet Altan gern sicher, dass Orhan Pamuk den Friedenspreis für seine literarischen Qualitäten bekommt und nicht für seinen politischen Mut. In der SZ erklärt Hubert Kleinert, warum es Rot-Grün verdient hat, abgewählt zu werden.

NZZ, 25.06.2005

War doch gar nicht so schlimm mit Rot-Grün, meint Joachim Güntner, leicht besorgt über den hysterischen Tonfall, mit dem die deutsche Presse "das Ende der 'Generationenherrschaft der Achtundsechziger'" verkündet, statt "einfach bloß einen Machtwechsel von einer Parteienkoalition zu einer anderen" zu erwarten. "Glaubt man der Rhetorik des Wechsels, so wird der Unterschied des schwarz-gelben zum rot-grünen Regierungsprogramm allein schon daraus resultieren, dass CDU und FDP die Sehnsucht der Bürger nach solidem politischem Handwerk befriedigen. 'Wir entbürokratisieren, deregulieren, konsolidieren, rufen zu mehr Anstrengung und Flexibilität auf', erklärte der CDU-Hoffnungsträger Christian Wulff (Jahrgang 1960) kürzlich in einem persönlichen Bekenntnis zur 'Generation Reform'. Welche Idee von Gesellschaft ihn dabei leitet, verriet er nicht."

Paul Jandl kommentiert Peter Handkes neuen Essay: "Handkes Blick schweift aus dem Fenster, er sieht einen Grashalm. So ganz falsch ist es nicht, dass der Text in den Literaturen erscheint."

Weitere Artikel: Roman Hollenstein erinnert an die Wallfahrtskirche von Ronchamp, die Le Corbusier vor fünfzig Jahren fertigstellte. Niklaus Peter schreibt zum 100. Todestag des Theologen Franz Overbeck. Besprochen wird die Uraufführung von Hans Zenders Musiktheater "Chief Joseph" in der Staatsoper Berlin.

In der Beilage Literatur und Kunst zeichnet Obi Nwakanma in einem langen, sehr informativen Artikel die letzten fünfzig Jahre in der Geschichte der Literatur Nigerias nach und stellt die jüngste Schriftstellergeneration vor. "Ende der neunziger Jahre zog dann eine ganze Anzahl interessanter Neuerscheinungen Aufmerksamkeit auf sich. So betrat der Lyriker und Erzähler Maik Nwosu mit den Romanen 'Invisible Chapters' (1999) und 'Alpha Song' (2001) gleichzeitig formales Neuland und das Terrain, auf welches sich das zeitgenössische Romanschaffen insgesamt verlagert hat: die Erfahrung der neuen, urbanen Realität, die sich im surrealen Drama eines surrealen Molochs konkretisiert - der nigerianischen Metropole Lagos."

Außerdem: In der Reihe "Das Tier und wir" schreiben diesmal die Schriftstellerin Friederike Kretzen über Spatzen im Bahnhofsbuffet und der Schriftsteller Karl-Heinz Ott über Hähne auf den Philippinen. Besprochen werden Bücher, darunter zwei neue Studien zur Kolonialgeschichte Afrikas, Pierre Vergers Fotoband "Schwarze Götter im Exil" und neue Kafka-Veröffentlichungen (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 25.06.2005

"Der Hass gilt dem gesamten Westen, wenn er den Amerikanern, den Juden oder den Frauen gilt", erinnert Andre Glucksmann und warnt davor, vor diesem antiwestlichen Hass die Augen zu verschließen: "Die Entscheidung über Leben und Sterben der Menschheit war bis zum 11. September 2001 das ausschließliche Privileg der Besitzer der absoluten Waffe... Heute haben die 'Großmächte' das Monopol der Zerstörung verloren. Die Studenten, die den Anschlag von Manhattan planten, wohnten in Hamburg neben anderen Studenten, die sich friedlich auf ihre Prüfungen vorbereiteten. Was macht man, wenn man einer Situation nicht gewachsen ist und sich angesichts einer Gefahr zu schwach fühlt? Man wird ohnmächtig, bemerkte Sartre in seiner Theorie der Emotionen. Angesichts von Manhattan hat ein großer Teil der Menschheit die Augen geschlossen und einen Schlaf fortgesetzt, auf den es kein Recht mehr gibt."

Außerdem: Der irische Schriftsteller Hugo Hamilton erzählt von einer Reise auf die Aran-Inseln ("Das Land veränderte sich. Man hatte gerade den Joghurt entdeckt. Die Männer trugen Schnurrbärte und Vollbärte. Auf einmal war alles elektrisch."). "Nie waren Unduldsame zahmer!", spottet Tilman Krause in seinem "Klartext" über das Manifest der relevanten Realisten. Und der Tsunami-Beauftragte der UNO, Bill Clinton, beschreibt, wie er sich den langfristigen Wiederaufbau der betroffenen Gebiete vorstellt.

TAZ, 25.06.2005

In einem Essay diagnostiziert Maik Söhler beim Rundgang durch neuere Werke der Literatur ein ausgeprägtes Schlafmangel-Syndrom: "Die Literaturgeschichte ist voll von Dichtern, die dem Schlaf schon früh Platz in ihrem Werk eingeräumt haben. Die Bekanntesten unter ihnen sind wohl Marcel Proust mit seinen vielen verschlafenen Passagen in 'Auf der Suche nach der verlorenen Zeit' und Thomas Mann mit 'Süßer Schlaf'. Als diese beiden Großautoren dem Schlaf huldigten, war das 20. Jahrhundert gerade erst ein paar Jahre alt. Nun, da es seit ein paar Jahren vorbei ist, ist vom Schlaf in der Literatur nicht mehr geblieben als sein Mangel. Wenn es stimmt, dass Literatur ein Gradmesser gesellschaftlicher Probleme ist, dann befinden wir uns in unruhigen Zeiten."

Weitere Artikel: Dorothea Hahn berichtet aus Paris von der umstrittenen, aber für die Zeitung beinahe lebenswichtigen Liaison der Liberation mit dem eher rechten Finanzkapitalisten Edouard de Rothschild. Besprochen wird die Uraufführung von Hans Zenders Oper "Chief Joseph".

In der zweiten taz erklärt Robin Alexander die bedenkliche und keineswegs zufällige Nähe der globalisierungskritischen Linken zu rechten Gedanken: "Denn das ist ja die Crux: Auch für den kämpferischsten Linken ist das Kapital, das zu den billigen Löhnen wandert, nicht zu packen. Der Ausländer, der zu den teuren Löhnen wandert, schon." Max Hägler informiert darüber, wie im Internet ein Heiratsmarkt für Katholiken entstanden ist.

Rezensiert werden Theodor W. Adornos unvollständige "Traumprotokolle", John Lee Andersons Berichte aus Bagdad unter dem Titel "Die verwundete Stadt", Jürgen Busches Buch über (vermeintliche) Helden des Ersten Weltkriegs, der hippe Suhrkamp-Band "Gendertronics", Andreas Maiers offensichtlich recht bizarre Auseinandersetzung mit Thomas Bernhard, neue bzw. neu aufgelegte Krimis von Reginald Hill und John Le Carre. (Mehr dazu in der Bücherschau des Tages.)

Für das taz mag berichtet Klaus Hillenbrand vom neu eröffneten Museum der Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem in Jerusalem: "Der Gang führt in den Berg. Nackter Beton der Fußboden, so nackt wie die schief geneigten Wände, die sich an ihren Spitzen treffen und ein winziges Stück Tageslicht in den Stollen hineinlassen. Keine Ausstellungstücke begleiten den Weg. Es ist, als ob es immer tiefer hineinginge in den Berg und in die Finsternis."

Und Tom.

FR, 25.06.2005

Das ist Bildung: Christian Thomas hat Bastian "Schweini" Schweinsteiger und Lukas "Poldi" Podolski jubeln sehen und im wie folgt beschriebenen Verhalten gleich die Moriskentänze von Erasmus Grasser (1450-1526) erkannt: "Das ganze stürmische Talent der Jubelnden hatte die Arme grotesk abgewinkelt, den Leib verdreht und aus einer angedeuteten Kniebeuge (längst berühmt das Klinsmannsche Trainingsprogramm des Kniebeugenwatschelns) heraus das Verhältnis von Spiel- und Standbein heikel ausponderiert. Man darf in einem streng kunsthistorischen Sinne behaupten: Spiel- und Standbein der beiden Techniker im deutschen Team waren in einem frühneuzeitlichen Sinne ausbalanciert."

Weitere Artikel: Oliver G. Hamm macht sich Gedanken zum "Tag der Architektur". In times mager analysiert Peter Michalzik die Begriffe "Prüfstand", "Wahrheit" und "Eigenverantwortung". Im Medien-Teil erinnert Bernd Müllender an das Erscheinen der ersten deutschen Nachkriegszeitung, der "Aachener Nachrichten", am 24. Januar 1945. Im Magazin - hier der Link zum ePaper - gibt es unter anderem einen Artikel über Streit in der EU und einen Bericht ein Friedensschulungszentrum.

Besprochen wird die Uraufführung von Hans Zenders Oper "Chief Joseph".
Stichwörter: Oper, Zender, Hans, Erasmus

Weitere Medien, 25.06.2005

"Muss man zum hundertsten Mal beweisen, dass die jugoslawische Armee in Srebrenica ein furchtbares Massaker unter Zivilisten angerichtet hat?", fragt Claus Christian Malzahn enerviert von Peter Handke, der in seinen Serbien-Texten immer wieder die gleichen Halbwahrheiten und Unwahrheiten lanciert. Eigentlich nicht. "Handkes Text ist banal und weinerlich, und die Ankündigung der Redaktion der Literaturen, hier stehe ein Dichter, der mit seinem 'dritten Blickwinkel' etwas gegen die 'Medienindustrie mit ihrer geballten journalistischen Meinungsmacht' setzen wolle, ist nichts weiter als freche Public Relations aus der Schreibstube der Pseudophilosophie. Die Veröffentlichung seines Textes ist ein kalkulierter Skandal und kulturpolitisch so bedeutend wie der 'Weiße Hai', Teil VII. "

FAZ, 25.06.2005

Der türkische Schriftsteller Ahmet Altan fragt sich, ob Orhan Pamuk den Friedenspreis wegen seiner literarischen Qualitäten oder wegen seines Muts bekommt, unbequeme Wahrheiten wie den Mord an den Armeniern auszusprechen. "Europa erweckt den Eindruck, als messe es Autoren, die außerhalb seines Territoriums leben, mehr an ihrem politischen Mut als an ihrem literarischen Wert. Politischer Mut sammelt mehr Applaus als literarischer Wert. Die Europäer geben ein so seltsames Bild ab, als würden sie, wenn Emile Zola Pakistani wäre, sein 'J'accuse' für wichtiger halten als 'Germinal'."

Weitere Artikel: Heinrich Wefing hat den Abschlussbericht der "Strukturkommission Zukunft Weimarer Klassik" über den miserablen Zustand Weimars gelesen und fordert lautstark mehr Geld und einen "Mentalitätswechsel" bei den Verantwortlichen. F.L. berichtet über die Mannheimer Fototage. G.T. hat einem Artikel im Times Literary Supplement entnommen, dass die Kölner Forscher Michael Gronewald und Robert Daniel ein neues Gedicht von Sappho entdeckt haben. Melanie Mühl porträtiert die Verlegerin Elisabeth Sandmann. Dieter Bartetzko stellt eine vom Mainzer Architekturbüro Schoyerer neugestaltete U-Bahn-Station in Frankfurt am Main vor. Bat. gratuliert dem Architekten Robert Venturi zum Achtzigsten und Hannes Hintermeier dem Schriftsteller Joseph von Westphalen zum Sechzigsten. Kurz gemeldet wird, dass Ingo Metzmacher zum Nachfolger von Kent Nagano beim Deutschen Symphonie-Orchester (DSO) Berlin ernannt wurde.

In der ehemaligen Tiefdruckbeilage sind zwei Reden abgedruckt: Peter von Matt beschrieb vor der Jahresversammlung des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft die Darstellung des Unternehmers in der deutschen Literatur. Felicitas von Lovenberg hielt die Laudatio auf den Schriftsteller Michael Lentz, der den Preis der Literaturhäuser erhalten hat. Auf der Medienseite stellt Karen Krüger den Unternehmer Nicolas Werner vor, der in Berlin mehrere russische Zeitungen herausgibt, darunter den Europa-Express, mit 120.000 Exemplaren und 70.000 Abonnenten "die auflagenstärkste russischsprachige Zeitung Deutschlands".

Besprochen werden die Uraufführung von Hans Zenders Oper "Chief Joseph" in Berlin, die neuen deutschen Filme "Stadt als Beute" und "Bin ich sexy?", Felix Hubys "Schwabenblues - Mei Feld ischt d' Welt", den Erik Gedeon im Wilhelma-Theater in Stuttgart-Bad Cannstatt inszeniert hat, und Dragan Velikics Roman "Lichter der Berührung" (hier eine Leseprobe).

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite geht's um eine CD des Pedal-Steel-Gitarristen Daniel Lanois, das Debüt der deutschen Band "Katze", sowjetische Lieder aus Krieg und Bürgerkrieg in klassischen Aufnahmen des Alexandrow-Ensembles, von Götz Alsmann restaurierte Schlager aus den Fünfzigern, Christian Schmitts Aufnahme von Händels Orgelkonzerten, eine CD des "King Of Latin Soul" Joe Bataan und eine Aufnahme des Mandelring-Quartetts mit Streichquartetten von Brahms und Friedrich Gernsheim, Streichquartett a-Moll op. 31.

In der Frankfurter Anthologie stellt Peter von Matt Friedrich Schillers Gedicht "Der spielende Knabe" vor.

"Spiele, Kind, in der Mutter Schoß! Auf der heiligen Insel
Findet der trübe Gram, findet die Sorge dich nicht,
..."

SZ, 25.06.2005

Im Aufmacher der SZ am Wochenende zieht der einstige Grünen-Politiker und jetzige Professor für Politikwissenschaft Hubert Kleinert eine kritische Bilanz der rot-grünen Jahre: "Rot-Grün spielte nicht den Bremsklotz, sondern die Lokomotive beim Wandel von der Parteien- zur Mediendemokratie. Von der Leipziger Krönungsmesse für den Kanzlerkandidaten Schröder im April 1998 bis zur rot-grünen Wahlkampfführung heute: So viel personalisiertes Inszenierungstheater, so viel Geschiele auf Wirkung, Umfrage- und Popularitätswerte war nie. Und nie so wenig substanzielle öffentliche Debatte jenseits des Talk-Show-Politainments."

Jens Bisky erkennt im Linksbündnis aus WASG und PDS sehr wohl einen politischen Sinn: "Wenn das Land sich ändern muss, wenn das Reformgerede mehr ist als Hysterie, müssen die Verlierer im Parlament vertreten sein. Ein taktischer Linksruck der SPD würde die Konflikte nur auf Zeit kaschieren, Teile der neuen Mitte frustrieren. Zu einer offenen, differenzierten Gesellschaft gehören mehrere kleine Parteien. Wer die Aufgeregten als Normalfall betrachtet, zwingt sie, einer Politik der Gesten eine ehrliche Klientelpolitik folgen zu lassen."

Weitere Artikel: Abgedruckt wird Ulrich Schachts Erzählung "Gudrun und das große Wüten". Benjamin Henrichs hat einen Tag mit dem Schauspieler Henry Hübchen verbracht. Oliver Fuchs erzählt die unendliche Geschichte des lange erwarteten neuen Albums von Guns'n'Roses, dessen baldiges Erscheinen gerade mal wieder angekündigt wurde. Auf die Frage nach seinen Erfolgen nach der Tennis-Karriere antwortet im Gespräch Boris Becker: "Ich habe drei sehr gut gehende Autohäuser. Da sind wir jetzt im elfjährigen Bestehen."

Im Feuilleton deutet Susan Vahabzadeh das bis zum Starttag geltende Kritikverbot für Steven Spielbergs neuen Film "Krieg der Welten" als Ausdruck einer Krise Hollywoods. Zum Ausgleich fürs Ausbleiben der Kritik erinnert Andrian Kreye an Orson Welles' Panik auslösende Radioversion von Wells' "Krieg der Welten". Jens Bisky informiert über die desolate Lage der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen - und die Vorschläge einer Strukturkommission zur Remedur. Neue deutsche Filme auf dem Filmfest München stellt Rainer Gansera vor. Peter Rumpf gratuliert dem Architekten und Postmoderne-Propagandisten Robert Venturi zum 80. Geburtstag. Alexander Gorkow informiert über Streitereien rund um das geplante Berliner "Live 8"-Konzert. Gemeldet wird der Wechsel Ingo Metzmachers zu den Berliner Symphonikern als Nachfolger von Kent Nagano.

Besprochen werden die Ausstellung "Imagination becomes Reality" der Münchner Sammlung Goetz, Ken Burns' Film über den Boxer Jack Johnson "Unforgivable Blackness" und die Berliner Uraufführung von Hans Zenders neuer Oper "Chief Joseph".

Auf der Literaturseite verteidigt Jürgen Busche in einer Replik auf einen Aufsatz von Kurt Flasch den Philosophen Martin Heidegger gegen pauschale Nazismus-Vorwürfe. Abgedruckt wird ein neues Gedicht von Sappho über das Altern - ein Begleitartikel berichtet von der Entdeckung der Papyrusrolle, auf der es sich fand. In einer Meldung ist zu erfahren, dass der renommierte deutsche Wissenschaftsverlag Niemeyer an Thomson Learning aus den USA verkauft wird. Rezensiert wird Anna Gavaldas Roman "Zusammen ist man weniger allein" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).