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Keine reine Kunst

Über Bilder, Bände und Sites Von Thierry Chervel
17.12.2016. Michael Schmidt, Pragmatiker und Charismatiker zugleich, und seine Werkstatt für Photographie werden gleich in drei Ausstellungen gewürdigt. Sie werden das Bild der deutschen Fotografiegeschichte auf Dauer verändern.
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Es ist der Katalog zu einer epochalen Ausstellung, die das Bild der deutschen Fotografiegeschichte auf Dauer verändern wird. Eigentlich sind es sogar drei Ausstellungen. Die Berliner Ausstellung widmet sich der Kreuzberger "Werkstatt für Photographie" und ihren Beziehungen zu Amerika. Die Essener Ausstellung stellt die Rebellengeneration nach dem Tod Otto Steinerts, die mit den Berliner Fotografen in engem Kontakt stand, in den Mittelpunkt. Und das Sprengel-Museum zeichnet in der Ausstellung "Und plötzlich diese Weite" die Rezeption amerikanischer Fotografie in Deutschland nach. (Sehr schön erzählt Brigitte Werneburg in ihrer taz-Kritik die Geschichte und Beziehungen der "Werkstatt".)

Auch in Berlin hängen die amerikanischen Fotografen neben den deutschen, also William Eggleston, Larry Clark, Stephen Shore oder Diane Arbus neben Michael Schmidt, Ulrich Görlich oder Hildegard Ochse. Nicht dass deren Namen unbekannt wären - Kennern sind sie alle geläufig. Und doch ist die Asymmetrie zwischen den amerikanischen Giganten und den deutschen Rebellen in der Rezeption gewaltig.

Schon Michael Schmidt dürfte in einer Publikumsumfrage nach wichtigen künstlerischen Nachkriegsfotografen in Deutschland weit weniger Treffer erhalten als die Bechers oder ihre Schüler Andreas Gursky, Thomas Struth und so weiter. Die anderen Fotografen dieser Ausstellungen, auch die DDR-Fotografen, mit denen sie als erste Kontakt aufnahmen, werden durch diese Ausstellung hoffentlich endlich von einem breiteren Publikum wahrgenommen. Hat denn die grandiose Gundula Schulze Eldowy wirklich den Ruhm, der ihr gebührt?

Das alles ist Michael Schmidt zu verdanken, der erst nach seinem Tod im Jahr 2014 langsam ins Bewusssein der Allgemeinheit aufsteigt - eine geplante Retrospektive in der Nationalgalerie im Jahr 2020 wird seinen Status endgültig festigen. Kuratieren wird sie Thomas Weski, selbst einst Schüler der Schmidtschen Werkstatt und einer der Kuratoren der aktuellen Ausstellung.

Schmidt fasziniert mich durch den für Künstler höchst seltenen Gegensatz von höchstem Anspruch und absolutem Mangel an Prätention. Seine Fotos sind kleinformatig, grau in grau und lösen auf den ersten Blick jene Ernüchterung aus, die ein Laienfotograf empfindet, wenn er Abzüge von Fotos in Empfang nimmt, die er so viel grandioser gesehen hatte, als die Maschinerie sie am Ende ausspuckt.

Ziemlich schnell erkennt man, dass dieser Effekt sich bei Schmidt absoluter Konzentration auf seinen Gegenstand bei protestantisch rigidem Verzicht auf Schönung, Arrangement oder Dramatisierung verdankte. Seine Fotografie ist "wahr".

Mir sind in dem Katalog drei Zitate aufgefallen, die diesen Radikalismus des Unspektakulären, den empfindliche Menschen früh erkannten, umreißen. Karl Pawek schrieb in einem der ersten Fotobücher Schmidts in heute seltsam altmodisch wirkender Prosa: "Wir haben ein Kunst- oder Geist-Erlebnis vor seinen Bildern - aber er verweist uns dabei auf die kunstlose Wirklichkeit und rühmt in keiner Weise seine 'kreative Subjektivität'." Aber der Satz trifft zu: Für Schmidt ist die Fotografie im emphatischen Sinn ein Instrument der Abbildung, aber er ist nicht objektivistisch, sondern sucht so etwas wie eine Kommunikation mit dem Gegenstand, den er abbildet. Er ist nicht zwanghaft objektivistisch wie die Bechers , und nicht rasend subjektivistisch wie die gleichzeitigen japanischen Fotografen. Klaus Honnef überträgt es in einem kleinen Grußwort für den Katalog auf alle Fotografen der Werkstatt: "Sie verschmolzen den Objektivitätsanspruch der Fotografie mit einer dezidiert subjektiven Haltung."

Von Schmidt wird im Katalog eine längere programmatische Aussage zitiert, in der sich seine seltsame feierliche Nüchternheit manifestiert:

"Wir bemühen uns, dem Schüler zu helfen, seine Persönlichkeit zu erkennen beziehungsweise zu finden. Wir gehen aber davon aus, dass jeder Schüler sich im Laufe der Zeit seiner Persönlichkeit bewusst wird und dieses neugewonnene Bewusstsein vielschichtig einsetzen und verwerten kann; egal, ob er als Photograph oder auf einem anderen Gebiet arbeitet. Der Mensch als Persönlichkeit ist für uns das Wesentliche, durch ihn erst kann Photographie entstehen und niemals umgekehrt. Viele Photographen gehen den falschen Weg und setzen das Medium an die wichtigste Stelle in ihrem Leben. Sie lassen sich von einer Sache beherrschen, anstatt sie zu verstehen. Verständnis erreicht man aber nur, indem man sich selbst erkennen lernt. Deshalb ist 'Selbsterkenntnis' für uns ein Schwergewicht unserer Arbeit, ohne dabei in gruppentherapeutisches 'Psychologisieren' abzugleiten. Wir bemühen uns gemeinsam mit dem Schüler, anhand seiner Arbeit herauszufinden, ob diese ehrlich ist, oder ob die Ehrlichkeit nur aufgesetzt ist, um Unaufrichtigkeit und falschen Ehrgeiz zu verbergen. Das ist unseres Erachtens ein Hauptproblem vieler Photographen."

Es wird in dem Katalog und in der Ausstellung kaum auf die 68er-Zeit rekurriert. Aber ich denke, Schmidt und die Fotografen seiner Werkstatt, die er zur Selbstentdeckung anleitete, waren Leute, die "danach" kamen. Schmidt gründete die "Werkstatt für Photographie" 1976 als eine Abteilung der Kreuzberger Volkshochschule. Neben der erstaunten Beobachtung, dass das damals einfach so möglich war, dass Geld, wenn auch nicht viel, zur Verfügung stand, fällt Schmidts extrem pragmatischer und dezidiert volkserzieherischer Impuls auf: Alle durften in der Werkstatt mitmachen - es gab auch extra Kurse für Rentner. Darin liegt sicher ein Erbe von 68, aber ebenso von sozialdemokratischer Bildungspolitik, die bis in die zwanziger Jahre zurückreichte.

Es ist wieder diese Spannung, die Schmidt auszuzeichnen schient - zwischen Pragmatismus und Vision. Denn Schmidt hatte neben seinem Oeuvre nicht nur die Kraft, eine ganze Generation neuer Fotografen auf den Weg zu bringen, sondern erkannte auch als einer der allerersten die Bedeutung der neuen amerikanischen Fotografie. Mit der Vermittlung des Amerikahauses holte er William Eggleston, Lewis Baltz und viele andere, heute weltweit gefeierte Fotografen zu ihren ersten europäischen Ausstellungen in die bescheidenen Räume der Volkshochschule. Auch Robert Frank gab hier einen Workshop.

Schmidts Zitat sagt aber auch etwas über die gesellschaftlich-politische Situation damals: Es fällt darin das Fehlen jeglicher politischen Begriffsschablone auf. Die "großen Gesänge", die noch ein paar Jahr zuvor durch die Gegend dröhnten, waren plötzlich verstummt. West-Berlin war still in dieser Zeit zwischen 1968 und den Einstürzenden Neubauten. In der Literatur sprach man damals - oft mit gerümpfter Nase - von einer "neuen Innerlichkeit". Nicht dass bei Schmidt irgendetwas von Romantisierung des Ich zu spüren ist: Aber es gibt bei ihm eine neue Konzentration auf den eigenen Blick, die er mit den gleichzeitigen amerikanischen Fotografen teilt, und er scheut sich nicht, ein Wort in den Mund zu nehmen, das in den bald in Mode kommenden postmodernistischen und Popdiskursen völlig außer Gebrauch gerät: Ehrlichkeit, gar Selbsterkenntnis.

Ehrlichkeit, bis hin zum Struppigen, ist vielleicht, was die ausgestellten Fotografen verbindet: Schon Egglestons Dye-Transfer-Verfahren, das seinen Bildern diese glamouröse Farbigkeit gibt, wäre den deutschen Fotografen zuviel. Schmidts Bilder sind sorgfältig komponiert - aber wie gesagt: klein, grau, unspektakulär. Berlin-Wedding. Nicht "Rhein II". Daneben förderte er aber auch Künstler wie Gosbart Adler mit seinen wunderbar punkigen Tagebuchskizzen in Farbe. Das hier ist "arme Kunst". Und viele dieser Künstler sind wahrscheinlich bis heute arm. Nichts würde hier deplazierter wirken als die überwältigenden Großformate der Becher-Schüler, die neben Nauman und Richter und in den Foyers der UBS hängen wollen, nicht in Fotoausstellungen. Dass es diese Spannung bis heute gibt, zeigt, dass Fotografie nach wie vor keine reine Kunst ist.

Ich frage mich, ob nicht zumindest für Schmidt - aber vielleicht auch für einige der anderen Fotografen? - das Buch die eigentliche Form ist, seine Fotografie zu denken. Was mir an dem grandiosen Katalog - der eine ganze Periode der deutschen Fotogeschichte revidiert und eine ganze Generation endlich ins Licht stellt - darum fehlt, ist eine Bibliografie ihrer Bücher.

Thierry Chervel

Werkstatt für Photographie 1976-1986 - C/O Berlin, Museum Folkwang Essen, Sprengel Museum Hannover - Katalog, hrsg. von Florian Ebner, Felix Hoffmann, Inka Schube und Thomas Weski. Berlin/Essen 2016/17. Texte von Florian Ebner, Felix Hoffmann, Inka Schube, Thomas Weski, Ute Eskildsen, Carolin Förster, Christine Frisinghelli, Virginia Heckert, Klaus Honnef & Jörg Ludwig. 24 x 27 cm. 392 S. mit 225 (150 farb.) teils ganz- bzw. doppelseit. Abb., Kurzbiografien, gebunden. ISBN 9783960980421. (Bestellen bei buecher.de)