Im Kino

Essen oder Zahnarzt?

Die Filmkolumne. Von Thekla Dannenberg, Thomas Groh
30.06.2021. Chloé Zhao erzählt in "Nomadland" von den Arbeitsnomaden Amerikas, die von ihrer mickrigen Rente nicht leben könnte und in ihren Wohnmobilen umherziehen. Hauptdarstellerin Frances McDormand ist großartig, aber auch irritierend als einzige professionelle Schauspielerin des Films. Paul W.S. Anderson huldigt mit "Monster Hunter" erneut dem Actiontrash mit einer schlagkräftigen Milla Jovovich, einem wütenden Tony Jaa und einer handvoll gemeinen Riesenspinnen.


Es gibt viele Filme, die mit Verspätung in die Kinos kommen, doch bei Chloé Zhaos "Nomadland" hat es sich besonders lang angefühlt. Denn auch wenn das öffentliche Kulturleben während der Pandemie lahm lag, wurde der Film mit Preisen überschüttet, vom Goldenen Löwen in Venedig bis zu den drei Oscars. Mit den Auszeichnungen für den Film der 39-jährigen in China geborenen Regisseurin gibt sich Hollywood, das sich über Jahrzehnte nicht um das Kino außerhalb seines eigenen Horizonts gescherte hatte, auf der Höhe der Zeit: politisch, kritisch, divers.

"Nomadland" basiert auf Jessica Bruders gleichnamiger Reportage und zeigt eine Seite des amerikanischen Westens, in der die Beschwörung der großen Mythen kaum über die niederschmetternde Tristesse hinwegtäuschen kann: Die Welt der heutigen Arbeitsnomaden, die von ihrer mickrigen Rente nicht leben könnte und in ihren Wohnmobilen umherziehen, auf der Suche nach einer Gelegenheit, Geld zu verdienen oder auf der Flucht vor unmöglichen Entscheidungen. Essen oder Zahnarzt? Kleidung oder Benzin?

Die fantastische Frances McDormand spielt eine vom Leben erschöpfte Frau, Fern, die erst ihren Mann, dann ihr Haus in Nevada verloren hat. Ein Gipswerk hat in Empire nicht nur seine Fabrik geschlossen, sondern gleich den ganzen Ort: Mit der Entlassung mussten die Menschen auch aus ihren Wohnungen auszuziehen, nach einem halben Jahr hatte Empire nicht mal mehr eine Postleitzahl.

Fern schließt mit ihrem alten Leben ab. Was sie in Zukunft brauchen wird, passt in einen Karton, selbst vom geerbten Geschirr reicht alles einmal: Teller, Tasse, Besteck. Sie macht sich mit ihrem Van auf zu einem großen Logistikzentrum von Amazon, wo sich Amerikas Arbeitsnomaden besonders gern treffen, obwohl es im Winter furchtbar kalt und dunkel ist im Nirgendwo von Kansas. Doch vor Thanksgiving heuert der Konzern bevorzugt ältere Leute an und zahlt sogar den Stellplatz für die Wohnmobile. "CamperForce" nennt Amazon seine Saisonarbeiter und hat für sie gute Ratschläge parat, bevor sie in Zehn-Stunden-Schichten durch die Lagerhallen hetzen und fünfzig Pfund schwere Pakete hieven: Nicht in neuen Schuhe arbeiten! Immer eine positive Einstellung bewahren!



Einmal versammeln sich die Camper zum Rubber-Tramp-Rendevouz am Lagerfeuer, präsentieren ihre Tattoos oder die praktischen Vorrichtungen ihrer Vans. Dabei sinnieren sie auch darüber, ob sie eigentlich ein gutes Leben führen. "Wir sind die Arbeitspferde, die von der Gesellschaft ausgemustert wurden", sagt einer bitter. Die krebskranke Swankie ist dagegen auf eine Reise der Heilung, sie will sich wieder mit der Natur und echter Gemeinschaft verbinden, Elche in Idaho gesehen zu haben, hat sie für alles entschädigt. Linda May wiederum hat mit zwölf Jahren angefangen zu arbeiten, mehrere Kinder großgezogen, doch die Sozialversicherung würde ihr nur eine Rente von 375 Dollar im Monat zahlen. Sie kann sich weder eine Wohnung noch ein Leben ohne Arbeit leisten. Mit Linda wird Fern weiterziehen, wenn Amazon sie alle nach Silvester rausschmeißt. Dann werden sie auf einem Campingplatz in den Badlands putzen oder in einem Wall Drug in South Dakota Donuts verkaufen, bis sie zur Rübenernte nach Nebraska weiterziehen können. Unterwegs nehmen sie noch David mit.

Es ist ein trauriges, einsames Leben: ankommen und weiterziehen. Die Bilder, die Chloé Zhao für dieses Dasein findet, spiegeln die Unbehaustheit wider: Sie bleiben auf Distanz und dunkel, ohne zusätzliche Beleuchtung, und bevor man sich mit einer Szene vertraut gemacht hat, schneidet sie abrupt zur nächsten. In dieser Welt scheint die Sonne immer unterzugehen.

McDormand ist die einzige professionelle Schauspielerin unter den Nomaden und fast schon zu groß für die Rolle. Dass sie mit ihrem Namen dem Film zu Welterfolg und Oscars führte, macht sie sympathisch, schafft aber auch enorme Ungleichgewichte, die dem Film nicht unbedingt gut tun. Alles dreht sich um Fern, um ihre Erschöpfung, ihren Kampf, ihre langen Autofahrten durch die Wüsten. Dabei ist sie die einzige fiktive Figur in diesem Film, die anderen spielen sich selbst: Linda May, die krebskranke Swankie, David und der Rubber-Tramp-Guru Bob Wells ("See you down the road"). Doch den Laien bleiben neben dem Schauspielstar nur kurze Auftritte.

Da Fern das Gegenüber fehlt, bleiben ihre Motive vage. Eine Frau allein hinterm Steuer erklärt sich nicht. Ist sie frei oder auf der Flucht? Mutig oder exzentrisch? Chloé Zhao gewährt ihr eine Entscheidungsfreiheit, die den Menschen in Jessica Bruders Originalreportage nicht zukam. Bei Bruder sind sie von der schieren Not getrieben, "Amerika zu überleben". Bei Zhao fliehen sie auch vor emotionalen Verwicklungen oder suchen Schönheit, Freiheit, Natur. Deutlich abgemildert wird bei ihr auch Bruders harsche Kritik an Amazon, das ein Geschäftsmodell daraus macht, heimatlose Siebzigjährige für sich arbeiten zu lassen.



Zweimal führt Fern ihre Wanderschaft in das, was Sesshafte ein Heim nennen würden: Das erste Mal muss sie zu ihrer Schwester, um sich Geld für die Reparatur ihres Vans zu leihen. Mit seinem properen Garten und den Nachbarn beim Barbecue erscheint dieser Ort wie der Ursprung allen Unheils. Hier trumpfen gewiefte Männer mit Geschäftssinn auf: "Immobilien gehen immer." Beim zweiten Mal begleitet sie ihren Gefährten David nach Hause zu seinem Sohn, der ihn nach Jahren der Entfremdung aufnimmt und auch für Fern Platz schaffen würde. Wenn David zu seinem Sohn zurückfindet und mit ihm vierhändig Klavier zu spielen, ist das eine der wenigen Szenen, in der emotionale, aber auch filmische Intensität aufkommt.

Chloé Zhao steht seit ihrem Debüt für ein aufregendes Independent-Kino, in dem sich Menschen zu verlieren drohen zwischen weiten Landschaften und begrenzten Möglichkeiten. In "Songs My Brother Taught Me" erzählte sie in unverbrauchten Bildern, Szenen und Gesten vom prekären Leben der Oglala Sioux in South Dakota, ohne die Härte und Brutalität zu beschönigen, die das Leben unter Rodeo-Reitern bereithält: "Wenn man ein Pferd zähmen will, darf man es nicht zu lange vor sich hertreiben, sonst bricht man seine Seele", heißt es da: "Eine wilde, freie Seele trägt immer etwas Schlechtes in sich. Das muss man ihr lassen, schließlich muss sie da draußen überleben." Man hätte sich für Chloé Zhao und den amerikanischen Film gewünscht, dass ihr Kino möglichst lang wild und frei bliebe. Doch für Disney hat sie bereits den neuen Film in der Superhelden-Reihe "Avengers" gedreht. "Eternals" kommt im Herbst in die Kinos. Die Zähmung der Chloé Zhao ging schneller als gedacht.

Thekla Dannenberg

Nomadland - Regie: Chloé Zhao. Mit: Frances McDormand, Linda May, Charlene Swankie, David Strathairn und Bob Wells. USA 2020, 108 Minuten.

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Der Regisseur Paul W.S. Anderson ist ein Sonderfall der Cinephilie. Wer nur kurz in seine Filmografie blickt, wird kaum denken, dass hier etwas zu holen ist: Aliens, Weltall, Monster und Gewalt. Und schon 1995 zeigte er mit "Mortal Kombat" wohin die Reise gehen würde: Seitdem plündert Anderson immer wieder Videospiele, um daraus Genrefilme mittlerer Budgetklasse zu drehen. Mit der "Resident Evil"-Reihe, die ebenfalls auf einem Videospiel basiert, hat er sich ein Mikro-Franchise aufgebaut. Bei den Dreharbeiten zum ersten Teil lernte er Milla Jovovich kennen, die beiden wurden ein Paar und bilden seitdem eine Art Mini-Filmstudio, das genügend europäisches Filmgeld zusammenkratzt, um Filme zu produzieren, die es mit den ganz großen Nummern weder aufnehmen können noch wollen, aber hinreichend Spektakel liefern, um sich dennoch fürs Kino zu qualifizieren.

Und in diesem Kino zwischen Genre-Schlock und Marktkalkül soll es etwas zu holen geben? "Kleinode des operationalistischen Pulp-Kinos" nannte Perlentaucher-Kollege Lukas Foerster Paul W.S. Andersons Filme jedenfalls einmal in einem anderen Zusammenhang. Ich selbst hatte 2014 sehr viel Freude an seinem, naja, Historienfilm "Pompei" und erinnere mich dunkel, auch nach seinem von den Fans eher übel beleumundeten "Alien vs. Predator" eher beglückt als enttäuscht den Saal verlassen zu haben. In der Netz-Cinephilie geht Anderson ansonsten als in Sichtweite zu Schlockschmied Uwe Boll arbeitender Hack durch - oder man feiert sein unverblümtes Genrekino im Zusammenhang von "vulgar auteurism", einer cinephilen Bewegung, die auf die ästhetischen Eigenheiten des exzessiven Genrekinos der Gegenwart fokussiert.

"Monster Hunter" - aufs Neue eine Videospielverfilmung, wieder gibt Milla Jovovich (die sich rein äußerlich mit jedem zusätzlichen Jahr mehr an Katherine Hepburn annähert, was für interessante Irritationen sorgt) eine schlagkräftige Heldin - "Monster Hunter" also funktioniert vor diesem Hintergrund gut als Veranschaulichung solcher Konfliktlinien. Insbesondere, weil der Film eine deutliche Bruchstelle aufweist, die das Gute wie das Schlechte an Andersons Filmen in harten Kontrasten nebeneinander stellt.

Eine von Jovovich angeführte Truppe von hemdsärmelig-coolen Soldaten wird beim Einsatz in der Wüste von einer rätselhaften Orkanfront in eine Parallelwelt gezogen. In dieser Welt, die direkt einem Cover billiger Fantasy-Taschenbücher der 70er entnommen zu sein scheint, haben fiese Wüstenwürmer, Riesenspinnen und andere Ungetüme das Sagen und dünnen die Reihen der Soldaten bald soweit aus, bis nur noch Jovovich einigermaßen angeschlagen übrig bleibt. Bald macht sie die Bekanntschaft mit Hunter (Klopperfilm-Legende Tony Jaa), einem Fantasy-Wüsten-Guerilla, der bei "Mad Max" auf den ersten Blick nicht weiter herausstechen würde. Der hat sich in einer Felsnische vor den todbringenden Riesenviechern draußen verschanzt.

Erst geben die beiden sich gut was auf die Backen - leider sehr hektisch geschnitten, wohl auch um die Fallhöhe in den Kompetenzen zwischen Martial-Arts-Meister Jaa und Jovovich zu kaschieren. Letztlich nähern sich die beiden doch an und beschließen, gemeinsame Sache zu machen, um sich von dem Felseneiland im Wüstenmeer aus bis zum rettenden Horizont durchzuschlagen.



Von Ferne erinnert "Monster Hunter" an den Science-Fiction-Standard, den Edgar Burroughs mit "John Carter vom Mars" gesetzt hat: eine "fish out of water"-Geschichte auf einem fremdartigen Planeten, die sich zum Heldenepos mausert. Und in den ersten zwei Dritteln macht Andersons "Aliens"-Wüstenvariante mit Riesenmonstern pulpigen Spaß, insbesondere auch, da es in den Höhlen der Riesenspinnen schön schlammig und böse zugeht.

Wie lange sich Anderson Zeit dafür Zeit nimmt, gemeinsam mit Jovovich diese Welt, ihre Risiken und Mechanismen zu erkunden und wie viel Raum er der sich entfaltenden Beziehung zwischen Jaa und Jovovich, vom Gegner zu soldatisch eingeschworenen Pack, gibt, all das macht viel Freude, und wer Monster im Kino mag (die japanische Toho - ja, die von "Godzilla" -, hat mitproduziert), bekommt ein paar besonders schön gestaltete zu sehen.

Dass Logik dabei nicht die allergrößte Rolle spielt - eine Tafel Schokolade überlebt in der Soldatenhosentasche selbst brennendste Wüstenhitzen und Feuerattacken ohne ans Schmelzen auch nur denken, eine Fantasy-Rüstung für Jovovich lag offenbar irgendwo in der Wüste herum und der Körper erholt sich auch nach schweren Verletzungen binnen eines Tages -, was soll's?

Wüstenexistenzialismus, Monster, Kriegerpathos - sehr eindeutig ist es das, was Anderson an dem Stoff interessiert hat. Leider ist das letzte Drittel des Films krass von der Produktion ("Wir hätten gerne ein auf Fortsetzungen angelegtes Erzähluniversum für ein Franchise!") und dem Lizenzgeber ("Also diese humanoiden Katzenviecher aus unserem Game sollten als Selling Point schon auftauchen") überformt.

Folge: Im letzten Dritten verliert sich der Film im Einerlei. Das simple Setting - "Gefangen in einer Parallelwelt, kommt man von dort wieder weg?" - weitet sich zum kosmischen (allerdings auch nur im Dialog so ausbuchstabierten) Plot. Ron Perlman, den man offenbar noch irgendwie unter Vertrag hatte, wird in einen alten Teppich gesteckt und spielt Zotti das Urvieh (dass er als Bewohner dieser Parallelwelt fließend Englisch spricht, wird auch eher bemüht herbeigebogen). Neue Figuren werden hektisch reingeworfen, das humanoide Katzenvieh ist auch dabei, es soll jetzt ganz viel Plot rein in die Kiste, rumpelpumpel, ein Hin und Her, bei dem man zusehen kann, wie die Interessen, Bedürfnisse und Anmerkungen der oberen Etagen in den Film gepresst und abgehakt werden. Was der Film zuvor an Konzentration aufs Wesentliche und an Liebe fürs Detail zeigte, geht im Zwang zum Franchise sang- und klanglos unter.

Dennoch ist dieses Durcheinander gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Kinokrise interessant zu beobachten: "Monster Hunter" ist einer der - was für ein Wahnsinn! - 28 Filme, mit denen das Kino nach anderthalb Jahren Quasi-Stillstand am 1. Juli nun aber endlich und wirklich zu sich zurückkehren will. Die verzweifelte Franchise-Betriebsamkeit, mit der sich "Monster Hunter" selbst ein Bein stellt, wirkt fast schon wie das wirre Nachbild eines Albtraums, in dem das Prä-Pandemie-Kino steckte und in den es offenbar auch jetzt unbedingt zurückkehren will, ohne dass es wüsste, wie und warum.

Thomas Groh

Monster Hunter - Deutschland, Japan, China, USA 2021 - Regie: Paul W.S. Anderson - Darsteller: Milla Jovovich, Tony Jaa, Ron Perlman, T.I. - Laufzeit: 103 Minuten.