Intervention

Dringend benötigt

Von Richard Herzinger
19.01.2024. Der neue polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat als seine Priorität die verstärkte Unterstützung der Ukraine genannt und greift damit nicht zu hoch. Dass es mit seinen Warnungen vor dem Ausmaß der russischen Aggression recht behalten hat und heute eine der Hauptbastionen gegen sie bildet, hat Polens Stellenwert in der EU erheblich erhöht. Um ihn auszubauen, bräuchte es aber die Unterstützung der inländischen Opposition statt deren Obstruktion.
Der Regierungswechsel in Polen hat unterstrichen, dass dem Land in Europa zunehmend eine Schlüsselrolle zukommt. Mit der Abwahl der PiS-Regierung hat die polnische Nation ihren ungebrochenen Freiheitswillen demonstriert und exemplarisch gezeigt, wie der Abbau von Rechtsstaatlichkeit und die Regression in ein autoritäres Herrschaftssystem durch demokratische Mobilisierung gestoppt werden können. Polen hat damit Maßstäbe für ganz Europa gesetzt, wie die liberale Demokratie dem wachsendem Druck autoritärer Kräfte widerstehen kann.

Doch die Erneuerung der liberalen Demokratie in Polen bewegt sich auf einer äußerst fragilen Grundlage. Um die bisherige Regierung abzulösen, musste der neue Ministerpräsident und vormalige EU-Ratspräsident Donald Tusk eine breite Koalition schmieden, die von Mitte-Rechts bis weit nach links reicht. Ob sie jenseits ihrer gemeinsamen Gegnerschaft zur PiS genügend Übereinstimmung für eine erfolgreiche Regierungspolitik entwickeln kann, muss sich noch herausstellen.

Dass es zudem Tusk in seiner ersten Amtsperiode als Ministerpräsident 2007 bis 2014 nicht gelungen ist, den ländlichen, stark katholisch-traditionell geprägten Sektor der Bevölkerung ausreichend am wachsenden Wohlstand des Landes teilhaben zu lassen, und dass es Teile seiner Administration damals ihrerseits mit der Rechtstaatlichkeit nicht immer ganz genau genommen haben, erhöht nicht das Vertrauen, dass die Dinge dieses Mal besser laufen werden.

Bei dem Versuch, die Einschränkungen der Rechtsstaatlichkeit der vergangenen Jahre und die weitgehende politische Gleichschaltung der öffentlich-rechtlichen Medien rückgängig zu machen, sieht sich die neue Regierung jedenfalls sofort mit massivstem Widerstand des rechtsnationalen Lagers konfrontiert, das ihr jegliche Legitimität abspricht. Der PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski denunziert Tusk regelmäßig als "deutschen Agenten" und seine Gegner als nicht der polnischen Nation angehörig, da sie den Interessen fremder, feindlicher Mächte dienten. Zu diesen aber zählen er und seine Anhänger keineswegs nur Russland, das Polen mit Krieg bedroht, sondern auch westeuropäische Partner wie Frankreich, vor allem aber den von Kaczynski so bezeichneten "deutschen Imperialismus".

Die Abwahl der PiS hat die Polarisierung der polnischen Gesellschaft somit noch weiter ins Extrem hasserfüllter Feindseligkeit getrieben. Angesichts der akuten Bedrohung des Landes wie des ganzen Kontinents durch die russische Vernichtungsmacht ist das ein höchst beunruhigender Zustand - nicht nur für Polen selbst, sondern für das gesamte freie Europa. Denn von der potenziellen Selbstzerfleischung einer der wichtigsten europäischen Demokratien kann nur der Kreml profitieren.

Besonders fatal ist dieser Umstand angesichts der Tatsache, dass in Polen lagerübergreifend ein Konsens herrscht, der die verfeindeten Blöcke eigentlich zusammenführen müsste: die Überzeugung, dass Europa, wie der Westen insgesamt, wesentlich härter und entschlossener gegen den Aggressor Russland vorgehen müsste. Unmittelbar nach seiner Wahl zum Regierungschef hat Tusk als eine seiner obersten Prioritäten die verstärkte Unterstützung der Ukraine genannt und angekündigt, Druck auf die westlichen Partner auszuüben, ihre Militärhilfe für das von Russland überfallene Land unverzüglich massiv aufzustocken.

Damit, Polen diese Aufgabe zuzuweisen, greift Tusk durchaus nicht zu hoch. Dass es mit seinen Warnungen vor dem Ausmaß der russischen Aggression recht behalten hat und heute eine der militärischen und politischen Hauptbastionen gegen Russlands Expansionspolitik bildet, hat Polens Stellenwert in der EU erheblich erhöht. Um ihn auszubauen, bräuchte es aber die Unterstützung der inländischen Opposition statt deren Obstruktion.

Schon seit langem zeigt sich Polen als aufstrebende potenzielle Führungsmacht in Europa. Mit einem durchgängigen Wirtschaftswachstum seit Beginn der 1990er Jahre, das selbst der Corona-Krise standgehalten hat, ist Polen zum Musterbeispiel dafür geworden, welche immensen Entwicklungsmöglichkeiten die Mitgliedschaft in der EU bietet. Umso schwerer verständlich ist das tief sitzende Ressentiment in etwa der Hälfte der polnischen Gesellschaft gegen die vermeintlich unterdrückerische Übermacht in Brüssel. Historisch lässt sich die Angst, von übermächtigen imperialen Strukturen der eigenen Souveränität beraubt zu werden, nur allzu gut nachvollziehen. Und auch dass Polen wie Osteuropa insgesamt von den westeuropäischen EU-Führungsmächten über die Jahre hinweg mit einer gewissen Herablassung behandelt wurde, entspricht leider der Wahrheit. Doch gerade aufgrund seiner Mitgliedschaft in der EU ist Polen inzwischen längst nicht mehr bloßer Spielball der "Großen".

Vielmehr findet sich das Land heute in einer historisch ungewohnten Rolle wieder. Es ist jetzt stark genug, um selbst eine maßgeblich gestaltende Position im freien Europa zu spielen. Doch es ist, als kultiviere der polnische Nationalkonservatismus künstlich das Selbstbild Polens als ewiges Opfer fremder Machenschaften, um sich dieser supranationalen Verantwortung entziehen zu können. Aus dem Misstrauen gegenüber allen Seiten hat Polen jahrhundertelang seine nationale Identität bezogen. Mit der Tatsache aber, dass das Land nun nicht mehr Objekt, sondern Subjekt der internationalen Politik mit wachsender Bedeutung ist, muss sich das polnische kollektive Bewusstsein wohl erst noch vertraut machen.

Dass sich Polen bei der Entwicklung seiner Potenziale tendenziell selbst im Wege steht, ist ein Unglück nicht nur das Land selbst, sondern für ganz Europa. Denn Polens elementarer Freiheitsgeist und seine Entschlossenheit, die russische Aggression mit allen notwendigen Mitteln zurück zu schlagen, wird in einem Europa, in dem sich zunehmend "Kriegsmüdigkeit" und Indifferenz gegenüber dem Schicksal der Ukraine breit machen, dringend benötigt.

"Noch ist Polen nicht verloren", heißt es in der polnischen Nationalhymne. Heute kann man sagen: Noch ist die Demokratie in Europa nicht verloren. Doch zu bewahren ist sie nur mit einem starken, selbstbewussten, die europäische Politik aktiv mitgestaltenden und fest in den Werten der rechtsstaatlichen pluralistischen Demokratie verankerten Polen.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.
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