Magazinrundschau

Mit schönen Umlauts im Namen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
24.12.2019. Wir Perlentaucher haben uns plötzlich Sorgen gemacht: Was ist, wenn sich unsere Leserinnen zu Weihnachten langweilen? Oder den missbilligenden Blicken böser Verwandter entfliehen wollen? Also haben wir alle Magazinrundschauen des Jahres 2019 durchkämmt, auf der Suche nach all den Geschichten über Leute, die es noch schwerer haben. Und es hat sie gegeben! Philip Roth zum Beispiel, der den Nobelpreis verdient hatte. Die Roboter, die unsere Arbeit übernehmen sollen. Die wenigen Polizisten in Alaska. Der Philosoph Eugene Thacker auf der Suche nach dem Nichtmenschlichen. Und auch diesem Nichtmenschlichen, ob es vor der Tür steht oder nicht, wünschen wir nochmals frohes Fest!

Jahresrückblick, 23.12.2019


Schöne neue Welt

Jill Lepore überlegt, ob Roboter uns wirklich die Jobs streitig machen: Die Angst, dass neue Technologien Arbeitsplätze vernichten, ist so alt wie die Angst vor Einwanderern, meint sie. Aber diesmal ist es anders, sagen Wissenschaftler wie Martin Ford in seinem Buch 'Rise of the Robots' von 2015. Diesmal gibt es Grund zur Sorge. (New Yorker)

Der Technikhistoriker und Erbauer von Baumhäusern und Kajaks George Dyson denkt über die Zukunft der Datenverarbeitung nach, die seiner Meinung nach analog ist: Schon jetzt setzen "unsere größten und erfolgreichsten Unternehmen zunehmend auf analoge Berechnung bei ihrer Infiltration und Kontrolle der Welt.  ... Plangesteuerte endliche Prozessoren, die endlichen Code ausführen, bilden großformatige, nicht deterministische, nicht endliche metazoische Organismen, die in der realen Welt herumlaufen. Die resultierenden hybriden analogen/digitalen Systeme behandeln Bitströme kollektiv, so wie der Elektronenfluss in einer Vakuumröhre behandelt wird, und nicht einzeln, da die Bits durch die den Fluss erzeugenden Geräte behandelt wird. Bits sind die neuen Elektronen. Das Analoge ist zurück, und es liegt in seiner Natur, die Kontrolle zu übernehmen." (Medium)

Die großen IT-Konzerne schlüpfen immer unverhohlener ins Bett mit Regierungen, deren Überwachungsbegehrlichkeiten sie befriedigen. David Samuels großer Essay untersucht das von Chinas gegenwärtigem Social-Scoring-System bis hin zu aktuellen Entwicklungen im Westen. (Wired)


In weiter Ferne so nah

Die New York Times hat in diesem Jahr mehrfach und immer mit materiellen Beweisen in der Hand über die chinesischen Verbrechen an den Uiguren berichtet. Hier ein großes Dossier, das beweist, dass die Einrichtung der "Umerziehungslager" für die muslimische Minderheit auf höchste Initiative zurückgeht. (NYT)

Sarah A. Topol erzählt die ergreifende Geschichte des jungen Lehrers Futhu, der als Angehöriger der Minderheit der Rohingya aus seiner Heimat Myanmar, wo er schwer misshandelt wurde, nach Bangladesch flüchten musste: "Auf eines war ich nicht vorbereitet: den Genozid des Verstandes. Ein Volk kann Massenmord überleben, die Überlebenden können neu anfangen. Aber was geschieht, wenn einem Volk seine Identität genommen wird und es immer wieder ausgelöscht wird, wenn ihm über Generationen immer wieder eingebläut wird, dass es nicht existiert, und sogar die Schlausten aufgeben zu denken, zu schreiben und zu lehren?" (NYT)

Travis Jeppesen besucht Pjöngjang und stellt fest, dass der Schwarzmarkt blüht und das traditionelle Klassensystem Nordkoreas sich aufzulösen beginnt. (NYT)

Monte Reel stürzt sich für eine Reportage in den Markt für Vanilleschoten in Madagaskar und lernt dabei einiges über den globalen Kapitalismus: "Das Geschäft ist grausam, menschlich, komisch, tragisch, genial und absolut verrückt, oft alles zur gleichen Zeit." (Bloomberg)

Jiayang Fan hat Hongkong besucht und stellt fest, dass die andauernden Proteste gegen Peking ein ganz neues Selbstbewusstsein hervorgebracht haben, politisch, aber auch künstlerisch und kulturell: "Früher war die Stadt angesichts der allgegenwärtigen Touristen und Geschäftsleute distanziert und höflich wie ein Hotelconcierge. Jetzt schwingt sie im Takt eines Straßenmusikers, der jedem seine Musik vorspielen will." (New Yorker)

Der Schriftsteller William T. Vollmann ist auf den Spuren Herman Melvilles nach Französisch-Polynesien gereist, um mit eigenen Augen die Welt zu sehen, die Melville zu "Moby Dick" inspiriert hatte. Hier der Anfang seines langen Reiseberichts: "Dies ist die Geschichte eines Mannes, der aus verzweifelter Enge floh, auf einer Planke in polynesische Traumländer gewirbelt wurde, zurück in die 'Zivilisation' segelte und dann - da sein Genie vorhersehbar unentschädigt blieb - das Universum in einem kleinen Raum bereisen musste." (Smithsonian Magazine)

Verbunden mit einer Hommage an ihre Großmutter schickt Diana Stone Eindrücke aus Simbabwe, wo die Frustrationen wieder einmal überkochen. Ein Jahr nach Emmerson Mnangagwas Putsch gegen den greisen Robert Mugabe ist die Währung zusammengebrochen, es gibt kein Benzin mehr, das Bier ist auf eine Dose pro Woche rationiert und immer wieder wird das Internet abgeschaltet: "Simbabwe muss nicht arm sein, das macht einen so fertig." (LRB)

Wenn es um ihren eigenen Kontinent geht, können sich die europäischen Länder auf nichts einigen, aber wenn es darum geht, die afrikanischen Staaten für ihre Flüchtlingspolitik einzuspannen, stehen sie zusammen wie ein Mann, bemerkt Thomas Meaney sarkastisch nach der Lektüre von Stephen Smiths Buch "The Scramble for Europe: Young Africa on Its Way to the Old Continent" und skizziert etwas kursorisch, aber erschreckend genug das hoch militarisierte Grenzregime, das die EU mit Hilfe ihrer Rüstungskonzerne und ihrer Armeen in Mali und Niger aufziehen. (LRB)

Düstere Karibik: Die spanische Tageszeitung El País und das mittelamerikanische Internetjournalismusprojekt El Faro haben sich zusammengetan für eine großangelegte mehrteilige Reportage über die seit Neuestem ins Blickfeld geratende Südgrenze Mexikos. Durch die jüngst getroffene Vereinbarung zwischen den USA und Mexiko könnte die von Donald Trump geplante große Mauer hier ihre eigentliche, entscheidende Verwirklichung erfahren. (El Pais)

Es gibt die Drogenepidemie in Amerika. Aber es gibt noch eine andere Epidemie: Die Selbstmorde weißer Männer in Staaten wie Montana, Alaska, Wyoming, New Mexiko, Idaho und Utah. Stephen Rodrick geht in einer aufregenden Reportage  für den Rolling Stone den Ursachen nach. (Rolling Stone)

Und nochmal das Gleiche: In Alaska ist die Selbstmordrate höher als irgendwo sonst in den Vereinigten Staaten, Alkohol ist ein riesiges Problem und die Raten für sexuelle Gewalt liegen dreimal höher als im Landesdurchschnitt - außer an der Westküste Alaskas, da sind sie nochmal doppelt so hoch. Kyle Hopkins erforscht  in Propublica die Ursachen. Der Artikel ist Teil eines umfassenden Projekts, das Propublica zusammen mit der Anchorage Daily News betreibt und das zeigt, wie gemeinnütziger Journalismus funktionieren kann. (Propublica)


Ideen

Horror und Philosophie - für Eugene Thacker fast schon ein match made in heaven, wie der Philosoph im Gespräch erklärt: Insbesondere der kosmische Horror, für den der Name H.P. Lovecraft steht, und der die ganze Andersartigkeit des Nichtmenschlichen, die Unerfahrbarkeit des Kosmos und dessen Gleichgültigkeit gegenüber der Menschheit sowie deren Insignifikanz im kosmischen Maßstab umfasst, ist für Thacker von zentralem Interesse: Anders als bei Kants erlösender Vernunft - was man nicht wissen kann, lässt sich eben nicht wissen - steht hier ein allgemeines Erschaudern im Angesicht des Erhabenen. Aber was heißt das für das Anthropozän - jener Epoche der Menschheitsgeschichte also, in der die Menschen die Natur im Guten wie im Schlechten unterworfen haben? (032c)

Ohne erkennbaren Anlass, aber sehr einleuchtend führt Patrick Wilcken durch das strukturalistische Denken des Anthropologen Claude Lévi-Strauss, erklärt seine Theorien zum Mythos, zur sinnlichen Abstraktion und zum Totemismus. Von den ersten Versuchen des 20. Jahrhunderts, Totem und Tabu rational zu erklären, hielt Lévi-Strauss nicht viel: "Totemismus als Institution zu betrachten, hielt Lévi-Strauss für eine Illusion. Stattdessen betrachtete er ihn als einen Aspekt und ein Mittel des logischen Denkens." (TLS)

"Ich frage mich, ob es irgendwo in der Welt einen besseren Essayisten gibt", schreibt Paul Berman in seiner Hommage auf den großartigen, komplizierten, manchmal berserkerhaften Alain Finkielkraut. Nun ja, Berman kann ihm das Wasser reichen - und sein Text ist überdies ein sehr kundiges Psychogramm nicht Finkielkrauts, sondern auch Frankreichs. (Tablet)


Die Künste

Elizabeth Winkler hat sensationelle Nachrichten - Shakespeare war eine Frau! In der neuen Ausgabe des Magazins sammelt Winkler Indizien und nennt einen Namen: Emilia Bassano. (Atlantic)

Der Pophistoriker Simon Reynolds führt uns durch die Geschichte der Conceptronica, einem jüngeren Phänomen elektronischer Musik an der Schnittschnelle zwischen Pop, Diskurs und audiovisueller Kunst - oder kurz: ein Audioerlebnis mit einer ziemlich komplexen ästhetischen Textur. "Diese konzeptuellen Arbeiten muteten selten an wie Platten, die sich auf bequeme, wiederholt abrufbare Weise dem eigenen Leben anschmiegen. Sie waren Statements, denen man sich stellen, die man assimilieren konnte, Entwicklungen, mit denen man Schritt halten musste." (Pitchfork)

Burkhard Bilger lauscht dem Avantgarde-Vokalensemble "Roomful of Teeth". Gegründet von Brad Wells erkundet die Gruppe seit 2009 grenzüberschreitende Gesangserfahrungen: "Eine Art Laborexperiment für die menschliche Stimme. Seine acht Sänger decken einen Bereich von fünf Oktaven ab, von grunzenden Tiefs bis zu Hundepfeifen. Drei haben eine perfekte Tonlage, alle haben ein klassisches Training, und Wells hat Experten hinzugezogen, um ihnen eine verwirrende Auswahl anderer Techniken beizubringen: alpines Jodeln, bulgarisches Schmettern, persisches Tahrir und Inuit und Tuvan Kehlkopfgesang. (New Yorker)

Da geht's lang - die britischen Architectural Review bietet einen im doppelten Wortsinn vielseitigen Schwerpunkt zur brasilianischen Architektur, von den konkurrierenden klassisch-modernen und "brutalistischen" Architekturschulen Rio de Janeiros und São Paulos - geleitet von einer "kleinen Gruppe herausragender Gestalten (zumeist weiße Männer), die den Weg wiesen" - bis zu nagelneuen, fantastisch-luftigen Schulbauten aus Holz in der brasilianischen Amazonas-Provinz - Bauten wie man sie in hiesigen Hauptstädten wohl auch in hundert Jahren nicht zu sehen bekommen wird... Unbedingt anklicken und reinschauen, beeindruckende Fotos, eine Vielzahl höchst illustrativer Texte. (The Architectural Review)

Die schöne Textreihe bei critic.de über die Filme von Eckhart Schmidt erfährt mit Hans Schifferles Essay über die frühen, in den 60ern entstandenen Werke des Münchner Regisseurs einen Höhepunkt: Mit "Blow Up an der Isar" ist der Text und das Programm der Münchner Gruppe, die sich seinerzeit sowohl gegen "Papas Kino", als auch gegen die Oberhausener positionierte, gut überschrieben: Pop, Leben, Alltag waren die Eckpfeiler dieses Kinos. (critic.de)

Niemand konnte das Schweigen einsamer Männer so in Szene setzen wie Jean-Pierre Melville, der große Einzelgänger unter den Filmregisseuren. Adam Schatz liest mit großer Bewunderung zwei Biografien von Bertrand Teissier und Antoine de Baecque, in denen er auch viel über Melvilles Zeit in der Résistance und als Kämpfer für das freie Frankreich erfährt. Und er ärgert sich furchtbar, dass Melville als Genre-Regisseur abgetan wurde (LRB)

Rührend, instruktiv und überdies witzig liest sich die Hommage des New-Yorker Autors Adam Gopnik über Philip Roth - geschrieben hat er sie für Bernard-Henri Lévys Magazin (La Règle du Jeu)

In Frankreich erscheint eine Ausgabe mit den gesammelten Schriften des großen Filmkritikers und Ermöglichers der Nouvelle Vague André Bazin. Diese Schriften lagen mit Ausnahme einer Textsammlung, die Bazin zu Lebzeiten zusammenstellte, nur in den Zeitschriften vor, in denen er sie ursprünglich publiziert hatte. Bazin ist eine jener einflussreichen Gestalten, die letztlich kaum einer gelesen hat. Ariel Suhamy Bazin sagt darum ein zweites Nachleben voraus, besonders weil es Bazin stets um die Flüchtigkeit des Mediums zu tun war - ein heute wieder höchst aktuelles Thema. (La vie des idees)

Georg Seeßlen deutet die Star-Wars-Saga als Entwicklung des Blockbusterkinos im Besonderen und des globalen Kapitalismus im Allgemeinen, die mit dem jüngsten Star Wars Film ganz in der Gegenwart gelandet ist: "Aus einer geschlossenen soll eine offene Erzählung werden. Ein ständig sich selbst erneuerndes Bild- und Handlungssystem, das sich den wandelnden Märkten anpasst. Und so wurde aus der dritten Trilogie, bei aller notwendigen Kontinuität, auch ein exakter Gegenentwurf zur zweiten: Auf ein System, das semantisch zu versteinern drohte, folgt eines, das nach allen Seiten nach Anschlussmöglichkeiten sucht." (epd-Film)

Wunderschön Jenni Quilters kritische Lektüre von Mary Gabriels Buch "Ninth Street Women" über die Malerinnen Lee Krasner, Elaine de Kooning, Grace Hartigan, Joan Mitchell und Helen Frankenthaler, die endlich in vielen Ausstellungen und Monografienh gewürdigt werden. (TLS)

Die Schriftstellerin Rachel Cusk verfolgt zwei Künstlerinnenbiografien, von Celia Paul, die von Lucian Freud protegiert (und benutzt) wurde und Cecily Brown, deren Vater, der Kunstkritiker David Sylvester war, und mit ihnen zwei unterschiedliche und nicht unbedingt repräsentative Erfolgsgeschichten in der von Männern dominierten Kunstwelt: "Im Narrativ der Kunst hat die Frau den Status des reinen Objekts. Wie sieht ihre Subjektivität überhaupt aus? Haben die Künstlerinnen der Moderne wie Joan Mitchell, Paula Rego, Louise Bourgeois, Agnes Martin die Kennzeichen männlicher kultureller Macht imitiert oder haben sie an ihren Rändern existiert? Wenn eine Frau heute künstlerisch arbeitet, wer ist sie?" (NYT)

In einem lesenswerten Essay verteidigt Zadie Smith die Freiheit der Fiktion, unter anderem gegen das Konzept der kulturellen Aneignung. Was ist so falsch daran, fragt Smith, andere Menschen zu imaginieren, sich in jemand anderen hineinzuversetzen? (NYRB)


Europa

In einer großen Reportage decken Selam Gebrekidan, Matt Apuzzo und Benjamin Novak auf, dass jährlich Millionen an Agrarsubventionen der EU in die Taschen von Oligarchen und Diktatoren fließen: "Genaueres Hinsehen würde bedeuten, ein Programm zu hinterfragen, das die EU mit zusammenhält. Europäische Regierungschefs sind über vieles uneins, aber sie alle setzen auf großzügige und diskrete Subventionen. An dem System zu rütteln, um Missbrauch in den neuen Mitgliedstaaten zu verhindern, würde bedeuten, politische und ökonomische Geschicke auf dem Kontinent zu stören." (NYT)

Ivan Krastev und Stephen Holmes erklären sich den Illiberalismus in Osteuropa - wie kürzlich schon Timothy Garton Ash in der New York Review of Books - vor allem mit der enormen Emigration, die Länder wie Polen, Ungarn oder Lettland aushalten müssen und mit einer panischen Angst vor dem demografischen Kollaps. "Die ganze Diskussion bringt uns zur Kernidee des gegenwärtigen Illiberalismus. Entgegen vieler Annahmen, richtet sich der Zorn der Populisten weniger gegen den Multikulturalismus als gegen Individualismus und Kosmopolitismus. (Guardian)

Aleida Assmann reagiert im Merkur ziemlich kritisch auf einen Essay von Ivan Krastev und Stephen Holmes, in dem die beiden Politikwissenschaftler ein akutes Anerkennungsdefizit der postsozialistischen Staaten diagnostizieren (hier auf Englisch). Bevormundet vom "liberalen" Westen konnten sie demzufolge nach dem Ende der sowjetischen Ära ihren Nationalstolz nicht ausleben. Tappen die Autoren damit nicht in die Falle ihrer eigenen Geschichtskonstruktion?, fragt Assmann. Warum spielen die Menschenrechte keine Rolle in ihrer Erzählung zu 1989? (Merkur)


Krise der Linken

Joseph O'Neill, Autor mehrerer Romane, überlegt mit Hilfe zweier neuer Bücher, woran es liegen könnte, dass die Demokraten so viele Wahlen verlieren, obwohl sie eine für den größten Teil der Bevölkerung weitaus vorteilhaftere Politik machen als die Republikaner. O'Neill interessiert sich in diesem Zusammenhang nicht die Bohne für abstrakte und moralische Theorien, sondern für die politische Strategie: Anders als die Demokraten, die auf Washington setzen, unterstützen die Republikaner unzählige lokale Graswurzelbewegungen mit dem Ziel, eine republikanische Basis in den Bundesstaaten aufzubauen, lernt er. (NYRB)

Zach Goldberg belegt mit Hilfe einiger erstaunlicher Zahlen, wie weit nach links in den letzten Jahren ein Teil der weißen amerikanischen Liberalen gerückt ist. So weit, dass sie sich in einem noch wenig thematisierten moralischen Dilemma befinden. "Die wache (woke) Elite verhält sich wie der weiße Retter, der den Rest des Landes, einschließlich der rassischen Minderheiten, deren Interessen er zu vertreten vorgibt, zu einer Vision von Gerechtigkeit führen muss, die die weniger aufgeklärten Gruppen nicht selbst wählen würden. Schwarze und asiatische Demokraten und Liberale würden zum Beispiel eine restriktive Einwanderungspolitik deutlich stärker unterstützen und die ethnische Vielfalt weniger positiv bewerten als ihre weißen Kollegen." (Tablet)

Adam Gopnik schreibt über den amerikanischen Bürgerkrieg und seine Folgen für die Schwarzen. Während der Wiedereingliederungsphase der Südstaaten in die USA zwischen 1861 und 1877 gab es die trügende Hoffnung auf ein Ende der Rassentrennung. Doch letztlich "schien das Auftreten afroamerikanischer Ermächtigung jedoch die Wut einer weißen Mehrheit nur zu vertiefen". (New Yorker)

Läuft das heute ähnlich? Einen der Hauptgründe für die Unversöhnlichkeit der politischen Lager sieht Yoni Appelbaum im demografischen Wandel: Die Weißen werden in absehbarer Zeit nur noch eine Minderheit darstellen. Das ist vielen Weißen egal, aber vielen eben auch nicht: "Dass Konservative - obwohl sie derzeit das Weiße Haus, den Senat und viele Regierungen der Bundesstaaten innehaben - den Glauben an ihre Fähigkeit verlieren, in Zukunft Wahlen gewinnen zu können, ist sehr schlecht für das reibungslose Funktionieren der amerikanischen Demokratie. Noch beunruhigender ist es, dass sie glauben, dass die Wahlverluste zu ihrer Zerstörung führen würden." (Atlantic)

Für die selbst aus ärmlichen ländlichen Verhältnissen stammende Historikerin Tara Westover verläuft die Spaltung der Menschen vor allem zwischen Stadt und Land. In den Städten hat die Digitalisierung neue Jobs und Reichtum geschaffen, auf dem Land wurden die alten Industrien demoliert, aber es entstand nichts Neues. Es sei also "schwierig, die Idee zu verteidigen, dass die Demokraten im Allgemeinen die Stimme der wirtschaftlich Entrechteten sind. Vor kurzem haben das Brookings Institut und das Wall Street Journal festgestellt, dass in den Vereinigten Staaten die von Demokraten vertretenen Distrikte für zwei Drittel unseres nationalen BIP verantwortlich sind. Denken Sie einfach mal darüber nach. Es ist unbequem, aber es könnte an der Zeit sein zuzugeben, dass wir als Land einen Kampf zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen führen und das viele von uns auf der linken Seite zu den Besitzenden gehören." (Atlantic)

In Zeiten globalisierter Finanzströme, internationaler Migrationsbewegungen und supranationaler Netzwerke schwindet die Vorstellung, ein politisches und soziales Gemeinwesens könnte weiterhin mit der Nation deckungsgleich sein. Die Soziologin Conelia Koppetsch sieht die bürgerlichen Mittelschichten im aufkommenden Kultur- und Klassenkampf in zwei Lager gespalten: Das kosmopolitisch-neobürgerliche Lager mit seiner Vision eines digitalen oder 'grünen' Kapitalismus und das eher sozialdemokratische Lager mit seinem Ethos der nivellierten Mittelschichtsgesellschaft. (Merkur)

John Gray, Britanniens Kassandra und oberster intellektueller Brexit-Befürworter, hat nach seinen vielen politischen Seitenwechseln ein untrügliches Gespür dafür, woher der Wind weht. Er schmäht die Remainer als Putschisten und totalitäre Rationalisten und beschwört den neuen konservativen Populismus von Boris Johnson und Dominic Cummings: "Es ist eine Tatsache, dass sich heute die überlegene Intelligenz auf der Seite der Populisten befindet. Wenn Liberale über Vernunft reden, dann meinen sie einen Mischmasch aus Ideen, die sie an der Uni aufgeschnappt haben." (New Statesman)

Wer sich über einen der wichtigsten Mythen aktueller rechtextremer Bewegungen - von den ganz radikalen bis zu angeblich gemäßigteren wie der AfD  - informieren will, findet in Bruno Chaouats Artikel über den rechten Vordenker Renaud Camus und seine Idee des "Bevölkerungsaustauschs" eine Menge Stoff. (Tablet)


Natur

Heftige Alarmsignale sendet Peter Guest: Jakarta könnte die erste Millionen-Metropole sein, die den Folgen einer desaströsen Umwelt- und Sozialpolitik und nicht zuletzt dem Klimawandel zum Opfer fällt. Ursache dafür sind eine Mischung aus einer zu schnell gewachsenen Bevölkerung, mangelnder Infratstruktur und der Aussicht auf einen rapide ansteigenden Meeresspiegel in den kommenden Jahrzehnten. (Wired)

Cody Delistraty gibt uns zu bedenken, dass Pflanzen womöglich noch viel schlauer sind als wir glauben: "2012 stellte eine Studie fest, dass vier Exemplare von Cakile edentula in einem Topf ihre Ressourcen teilten und ihre Wurzeln so anordneten, dass die anderen Platz hatten. Würden Pflanzen sich einfach evolutionär verhalten, würden sie um die Ressourcen konkurrieren, stattdessen scheinen sie sich um die anderen zu sorgen und ihnen zu helfen." (Paris Review)

Städte wandeln sich - und damit auch die wilden Tiere, die diese Städte bevölkern, viele von ihnen unter unserem Wahrnehmungsradar: "Urban Evolution" nennt sich ein relativ neuer, zusehends wichtig werdender Forschungszweig, den Brendan I. Koerner genauer unter die Lupe nimmt. Die Biologin Kristin Winchell etwa erforscht ursprünglich in Puerto Rico beheimatete Eidechsen, die in den Großstädten der USA deutlich ausgeprägtere Gliedmaßen und sich selbst damit zu wahren Sprintern entwickelt haben, die in den Ursprungsländern jedes Rennen gegen ihre Verwandten für sich entscheiden würden - ein klarer Vorteil in einem Terrain, das von streunenden Katzen und schnellen Autos geprägt ist. Aber liegt dies nun an der Formbarkeit des Körpers, der sich auf eine neue Umgebung einstellt, oder hat sich tatsächlich das Genom verändert? (Wired)

Jason Wilson hat eine Schwäche für deutschen Weißwein, Riesling insbesondere, mit schönen "Umlauts" im Namen. Und so reist er an die Mosel um das Piesporter Goldtröpfchen und mehr zu kosten. Staunend berichtet er über eine junge, lebendige Weinszene, die mit organischen Weinen experimentiert und exzellente trockene Weine produziert (wie zum Beispiel die Gruppe "Message in a bottle"). Dabei hat sie einen kleinen Helfer: den Klimawandel. (Washington Post)

Für seine Sommerausgabe hatte das CulturMag einen bunten Strauß an Essays, Rezensionen, Textauszügen und weiteren Varia zum Thema "Natur" zusammengestellt. Georg Seeßlen etwa macht sich beim Sommernachmittag unter einem Baum summende und brummende Gedanken zum Thema Mathematik, Natur und Katastrophen - und erzählt dabei auch von einer schönen Betrachtung aus der Zikadologie, denn Zikaden und Primzahlen haben ein eigentümliches Verhältnis, schließlich schlüpfen die Larven nur alle paar Jubeljahre und zwar im Primzahlen-Abstand. (cultur mag)