Magazinrundschau

Projekt der ultimativen Freiheit

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
30.01.2024. Harper's erklärt, warum für einen Frieden im Nahen Osten eine grundlegende neue Verfassung in Israel nötig ist. Outlook India bestaunt in Ayodhya einen Hanuman mit Sixpack. Der New Yorker sieht die Kluft zwischen kämpfenden und verweigernden Ukrainern wachsen. Dinos gibts auch weiterhin nur im Kino, versichert die LRB. Wired beobachtet ein neues Space Race. New Lines lernt in Nigeria, warum die Pfingstbewegung die besten Horrorfilme produziert.

Harper's Magazine (USA), 01.02.2024

Bernard Avishai erinnert sich noch gut an das fröhliche, säkulare "Global Israel", in das er 1972 von Kanada aus emigrierte. Aber schon bald kündigten sich Veränderungen an. Avishai bemerkte sie das erste mal, als die Jugendorganisation der Nationalreligiösen Partei (NRP) Henry Kissinger bei seinem Besuch in Israel wegen seines Friedensplans mit Ägypten als "Jewish boy" beschimpfte (so hatte Nixon ihn genannt). Seitdem wurden die Religiösen immer stärker, bis 2023, als das linke, säkulare "Global Israel" gegen das orthodox-religiöse "Großisrael" aufstand und für den Erhalt der Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofs zu Hunderttausenden auf die Straße ging. Westliche Journalisten seien immer davon ausgegangen, dass Netanjahu mit dieser Reform seine Macht vergrößern und dem Gefängnis entgehen wollte. Aber das stimme nur zur Hälfte: "Führende Vertreter der Protestbewegung haben beharrlich die Schaffung einer liberalen demokratischen Verfassung nach dem Vorbild der israelischen Unabhängigkeitserklärung gefordert. Dennoch behält die religiöse Fraktion 'Großisrael' einen erheblichen Vorteil. Der Status quo gehört ihnen. ... Um in den rechtlichen Strukturen zu leben, die theokratischen Ideen Vorschub leisten, müssen ihre Führer nur weiterhin Veränderungen verhindern. Genau das sollte mit ihrem Angriff auf die Justiz erreicht werden." Auch die palästinensischen Friedensbefürworter müssen einen Kulturkrieg gewinnen, meint Avishai. Aber "letztendlich werden die Gemäßigten auf israelischer Seite die folgenreichere Entscheidung zu treffen haben. Seit dem 7. Oktober sind in den israelischen Medien Militärexperten zu hören, die sagen, dass der Angriff der Hamas nur beweist, dass Israel im Westjordanland kein Risiko eingehen darf. Andere Kommentatoren sprechen davon, dass Netanjahus Angriff auf die Justiz 'beendet' sei, als ob die israelische Demokratie dadurch gerettet sei. Wer auch immer Netanjahu ersetzt - etwa Benny Gantz oder ein anderer 'Zentrist' - könnte versucht sein, sich für Vorsicht zu entscheiden und vor grundlegenden Änderungen zurückzuschrecken. Dies wäre ein gefährlicher Irrweg. Netanjahu zu besiegen, aber die Gesetze und Institutionen, die seine Koalition hervorgebracht haben, nicht zu reformieren, würde ein Unglück heraufbeschwören."

Marzio G. Mian unternimmt eine Reise entlang der Wolga, und versucht, das gegenwärtige Russland zu verstehen. Er stößt, unter anderem, auf zufriedene Agrarunternehmer, für die die westlichen Sanktionen ein Segen sind, Hippies, die sich auf abgeschiedene Inseln eine Gegenwelt aufbauen - und auf einen zunehmend eskalierenden Stalinkult. "Samara, fünfhundert Meilen nördlich von Wolgograd, ist der Ort, an dem der Geist Stalins besonders deutlich macht, wie wenig die Außenwelt über Russland weiß. Die Stadt liegt an dem Punkt, an dem die Wolga nach osten abbiegt, als würde sie vom Ural angezogen. Bekannt ist sie als das Chicago Russlands, aufgrund einer sehr dynamischen lokalen Industrie und ihrer Beliebtheit bei Händlern und Kriminellen. Im Sommer wird Samara jedoch zum Saint-Tropez der Wolga, mit eleganten Stränden und modischen Promenaden, die fast so beliebt sind wie die in Sotschi. Und wie Sotschi scheint auch Samara ein beliebter Urlaubsort für Hardcore-Putinfans geworden zu sein. Bürgerliche Jugendliche fahren auf Scootern durch die Straßen, tragen teure amerikanische Turnschuhe und das beliebteste T-Shirt der Saison - eines, das Stalins Gesicht zeigt und dazu den Spruch: 'Wäre er hier, müssten wir uns nicht mit dem ganzen Scheiß herumschlagen'".

Outlook India (Indien), 05.02.2024

Im indischen Ayodhya ist der Ram Mandir Tempel, der an der Stelle gebaut wurde, wo die am 6. Dezember 1992 von Hindu-Fanatikern zerstörte Babri-Moschee stand, fast fertig gebaut. Tanul Thakur ist hingefahren und stellt fest, dass sich das "alte, baufällige, verstopfte" Ayodhya sehr verändert hat: "Zwei Wochen vor der Einweihung des Ram-Tempels gleicht Ayodhya einer Eventmanagement-Firma, die in letzter Minute Vorbereitungen trifft - oder einer mythologischen Filmkulisse im Aufbau. Neben den Straßen, Gebäuden und Tempeln liegen Erde, Sand und Steine. JCB-Maschinen rumpeln; Kräne und Gabelstapler schlendern; Bauarbeiter verputzen, streichen, hämmern." Die Mieten für die Läden der Hauptstraße sind enorm gestiegen, lernt Thakur. "'Aber ob ich nun sterbe oder verschwinde, ich werde trotzdem für die BJP stimmen', schwört ein Ladenbesitzer. 'Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Leben etwas so Bedeutendes sehen würde wie den Ram-Tempel.'" Der bietet dem Autor noch "einen ironischen und surrealen Anblick: Bauarbeiter stehen auf Holzgerüsten und arbeiten an der Fertigstellung eines Metalldachs, während sie damit beschäftigt sind, eine einst zerstörte Anlage wieder aufzubauen. Dies sind die wahren Gestalter dieser Filmkulisse: die modernen Kar Sevaks, die 'L&T'-Jacken tragen. L&T (Larsen & Toubro), der multinationale Mischkonzern, hat den Bau und die Gestaltung des Tempels kostenlos übernommen. Der Tempelkomplex besteht aus zwei verschiedenen Bhakts: den Anhängern und den Unternehmen; letztere locken die ersteren an. Gegenüber einem Vordach bietet die Life Insurance Corporation kostenloses Wasser an (und macht einen Vorschlag: 'Schützen Sie Ihre Familie mit einem garantierten Einkommen'). Das Gleiche gilt für die Punjab National Bank ('PNB-Bildungsdarlehen: Verwirklichen Sie alle Ihre Träume - der Zinssatz beginnt bei 8,2 %'). Der Dreiklang aus Kapitalismus, Nationalismus und Männlichkeit prägt die gesamte Stadt. Campa Cola (2022 von Reliance Industries Limited übernommen) verspricht den Kunden 'Naye India ka apna thanda'.  Und auf einigen Werbeplakaten ist Hanuman mit einem Sixpack zu sehen, ein muskulöser, perfekt gemeißelter Gott."
Archiv: Outlook India

HVG (Ungarn), 25.01.2024

Der in der Slowakei geborene und lebende Regisseur Mátyás Prikler spricht im Interview mit Dóra Matalin über die Situation der Filmemacher in Ungarn, wo er u.a. als Co-Produzent für unabhängige Filmprodukte tätig ist: "Ich interessiere mich nicht besonders für die ungarische Regierung, weil ich in Bratislava lebe, aber wenn man wissen will, wie faschistische Kulturpolitik funktioniert, muss man auf Ungarn blicken. Bücher werden in Folien gepackt, Universitäten werden übernommen. Einige Filmregisseure stehen auf der schwarzen Liste. János Szász ist mit seiner Familie nach Washington gezogen. Kornél Mundruczó lebt in Berlin, György Pálfi lebt hauptsächlich in Athen. Die Mitglieder des Ausschusses, der über die slowakischen Fördermittel entscheidet, sind manchmal unvorbereitet oder auch dilettantisch, aber sie hassen die Ungarn nicht, genauso wenig wie sie Schwule oder Migranten hassen. (...) Der Film ist teuer, das Publikum ist klein. Wenn wir in der Slowakei mit ihren 5,5 Millionen Einwohnern einen Film zum Nulltarif machen wollen, müsste jeder vierte Einwohner eine Eintrittskarte kaufen. Bei der Oper sind die Verhältnisse vielleicht noch wilder. Der Staat ist da, um Kultur, Wissenschaft, das Schulsystem, das Gesundheitswesen und die Altenpflege zu finanzieren. Man kann es nicht wie bei einer Dorfschweineschlachtung machen, wo der Nachbar mir hilft und beim nächsten Mal helfe ich dann. Was in Ungarn an Generationen von Filmemachern angetan wird ist ein Verbrechen."
Archiv: HVG

New Yorker (USA), 05.02.2024

Masha Gessen, deren Essay über die ihrer Meinung nach verfehlte Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, aber auch Polen und der Ukraine in unguter Erinnerung ist, liefert nun eine ausführliche Reportage über den Kriegsalltag in der Ukraine, die immerhin den Vorteil hat, nüchtern bei den Fakten zu bleiben. Viel Hoffnung scheint Gessen der Ukraine nicht mehr zu geben. Um die Demokratie zu verteidigen, muss sie die Demokratie zumindest suspendieren, beobachtet sie. Die geplanten Präsidentschaftswahlen sind ausgesetzt, auch mit Rücksicht auf all die Ukrainer, die im Krieg sind, das Land verlassen haben oder interne Flüchtlinge sind. Und doch: Selenski hatte als ein Kandidat gegen das Establishment begonnen, aber nun ähnele er jenen Funktionären, die er verjagen wollen, verschanzt in eine Festung. Der Krieg verstetigt sich. Die Spannungen in der Bevölkerung verschärfen sich. "Diejenigen, die im Land geblieben sind, haben oft wenig Geduld mit den Ukrainern im Ausland. 'Ich bin sehr wütend auf Frauen, die gehen und ihre Männer hier lassen', sagt Kateryna Ukraintseva (eine Aktivistin aus Butscha). "Entweder man ist eine Familie oder nicht. Man sollte die Dinge gemeinsam durchstehen.' Die Scheidungsraten sind stark gestiegen, und es ist eine Binsenweisheit, dass viele Frauen, die nach Westeuropa gegangen sind, sich ein neues Leben aufgebaut haben. 'Jeder Mann, den ich kenne, der seine Frau und seine Kinder ins Ausland geschickt hat, ist inzwischen geschieden', sagt mir der Soziologe Denys Kobzin. 'Die Kluft zwischen denen, die im Krieg gekämpft haben, und den anderen wird immer größer.' Serhiy Leshchenko, Berater von Zelensky, stimmt zu. 'Es ist an der Zeit, dass jene, die sich als Ukrainer sehen, zurückkommen', sagt er. 'Die Schulen in Kiew sind geöffnet - sie haben alle Luftschutzbunker. Freunde von mir, die mit immer neuen Ausreden kommen, sind keine Freunde mehr.'"

Was hält die Zukunft des Internets bereit, fragt sich Akash Kapur. Als Projekt der ultimativen Freiheit gedacht, muss es sich jetzt angesichts der wachsenden Bedrohung durch die Techgiganten fragen, ob Regierungskontrollen mehr schaden oder nutzen. Indien versucht mit der Plattform India Stack einen Mittelweg: "Auf einem grundlegenden Level war das Programm eine Bemühung, so etwas wie Sozialversicherungsnummern zu schaffen - keine ganz einfach Leistung für ein so großes Land wie Indien, aber an sich nicht wirklich revolutionär. Unter der Leitung des Tech-Milliardärs Nilekani hat die Plattform sich gegen die öffentliche Skepsis durchgesetzt, gegen bürokratische Lähmungen und gesetzliche Hürden, und 1,4 Milliarden Bürger registriert. Diese verfügen nun über eine Identitätsnummer aus zwölf Ziffern, die als Aadhaar (Hindu für Grundlage) bekannt ist und mit biometrischen Daten wie Irisscans und Fingerabdrücken gefüttert ist. Die wahre Errungenschaft Nilekanis ist es aber, die ID-Nummern als Grundlage einer integrierten digitalen Ökologie ('the stack') zu nutzen. Sie besteht aus staatlich ermöglichten Modulen (sie werden gemeinhin als digital public infrastructure oder DPI bezeichnet), die es den Bürgern erlauben, Online-Bezahlvorgänge durchzuführen, Sozialleistungen zu beziehen, Bankgeschäfte zu tätigen und offizielle Dokumente zu hinterlegen und bescheinigen zu lassen (zum Beispiel Covid-Impfdokumente). So baut die Regierung das, was die World Bank als 'ausloten' einer kontrollierteren - und vielleicht weniger toxischen - Version des Internets versteht, mit Raum für private Programmierer, die, darauf aufbauend, neue Plattformen und Services entwickeln." Ob dadurch nicht auch eine neue Möglichkeit staatlicher Überwachung geschaffen wird, fragt sich dabei nicht nur Kapur. Sicher ist nur der stetige Wandel: "Das Internet bleibt ein Work in Progress. Aber es gibt Gründe, davon auszugehen, dass seine Zukunft von einem ganz anderen Standpunkt aus geschrieben wird als seine Vergangenheit."

Weiteres: John Seabrook fragt sich, wie KI der Musikindustrie nutzen wird. Merve Emre stellt die Naturphilosophin, Autobiografin und Romanautorin Margaret Cavendish (1623-73) vor. Alex Ross hört die Oper "Chornobyldorf" von Roman Grygoriv und Ilia Razumeiko.
Archiv: New Yorker

Desk Russie (Frankreich), 27.01.2024

Wenn Amerika durch einen Krieg mit China geschwächt wäre, würde Russland so weit gehen, Alaska zurück haben zu wollen? Wohl kaum, aber Jean-Sylvestre Mongrenier vom Institut Français de Géopolitique insistiert wie so viele Russlandkenner, dass Russland immer darauf aus ist, Machtstrukturen von Konkurrenten zu zerstören. Nebenbei erfährt man in seiner kleinen Geschichte Alaskas, warum der geschwächte Zar Alaska nach dem verlorenen Krimkrieg zum Gegenwert von drei Jagdsaisons an Amerika verkaufte: "Geopolitische Gründe gaben den Ausschlag. Für Russland ging es darum, die Ambitionen Englands, das zusammen mit Frankreich den Krim-Krieg gewonnen hatte, zu bremsen, aber auch die Kräfte auf die Beherrschung der asiatischen Territorien zu konzentrieren. Erinnern wir an die Annexion der äußeren Mandschurei, das dem Qing-Reich geraubt wurde, in den Jahren 1858 bis 1860 und die Gründung Wladiwostoks (diese Territorien bilden heute Russlands fernen Osten)… Im übrigen hätte Alexander II. (1855 bis 1881) auch theologische Argumente beachtet: Die Behring-Straße entsprach seiner Meinung nach einer von Gott gewollten Trennlinie zwischen Asien und Amerika."
Archiv: Desk Russie
Stichwörter: Alaska, Krim

The Insider (Russland), 29.01.2024

The Insider veröffentlicht in Zusammenarbeit mit anderen Investigativ-Medien eine Recherche über die lettische Europaabgeordnete Tatjana Zdanoka. Daraus geht hervor, dass Zdanoka seit 2005 für den russischen Geheimdienst FSB spioniert. "Für die meisten Letten wird die Enthüllung von Zdanokas jahrelanger Zusammenarbeit mit Wladimir Putins Geheimdienst ihre schlimmsten Vermutungen über sie nur bestätigen. Das überwiegend prowestliche politische Establishment des Landes hält sie seit langem für eine russische Einflussagentin, eine Schlussfolgerung, die durch ihre offene Unterstützung für marginale linke politische Parteien gestützt wird. Zdanokas geheime Arbeit für den russischen Geheimdienst ergänzt weitgehend ihre Politik nach außen: Die Europaabgeordnete aus Lettland verurteilt routinemäßig alle drei baltischen Staaten für die angebliche Misshandlung ihrer beträchtlichen ethnisch-russischen Diaspora (im Falle Lettlands beläuft sich diese ethnisch-russische Diaspora auf etwa 450.000 Menschen, ein Viertel der gesamten Bevölkerung des Landes). Die 'Antidiskriminierungs'-Bemühungen, für die sich Zdanoka einsetzt, werden häufig von vom Kreml finanzierten Tarnorganisationen übernommen, die sich als Nichtregierungsorganisationen ausgeben, die sich angeblich für 'Menschenrechte', 'Antifaschismus' und 'Anti-Nazismus' einsetzen. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass laut Zdanokas 'Wahlbeobachtung' auf der Krim im Jahr 2014 mehrere ihrer internationalen Kollegen echte Faschisten und Neonazis aus dem Vereinigten Königreich, Österreich, Frankreich und Deutschland waren."
Archiv: The Insider

London Review of Books (UK), 25.01.2024

Liam Shaw bespricht Dale E. Greenwalts "Remnants of Ancient Life: The New Science of Old Fossils", ein Buch über Fossilien, und rekonstruiert Geschichte und Gegenwart der Paläontologie, eines Forschungszweigs, der immer wieder zu einigermaßen spektakulären Hoffnungen Anlass gibt. Aber ist es wirklich möglich, Dinosaurier aus überliefertem Erbmaterial zum Leben zu erwecken? Vorläufig wohl leider nicht: "DNA ist ein großes, fragiles Molekül, und die Überlieferung, die uns zugänglich ist, kratzt nur an der Oberfläche der Vorzeit: die ältesten verlässlichen Funde sind um die zwei Millionen Jahre alt. Einige der kontroversesten Behauptungen hat die amerikanischen Paläontologin Mary Schweitzer aufgestellt; sie hatte zum Beispiel berichtet, 78 Million Jahre altes Tyrannosaurus-Rex-Kollagen gesichert zu haben. Greenwalt formuliert diplomatisch, aber er weist darauf hin, dass es sich sehr gut um die Hautcreme eines Wissenschaftlers oder auch eine Haarschuppe handeln könnte. Schweitzer veröffentlicht weiterhin interessante Studien zu Dinosaurierfossilien, aber der Konsens heute ist, dass Proteine nicht länger als drei oder vier Millionen Jahre haltbar sind. Greenwalt: 'Proteine aus der tiefen Vorzeit gelangen gelegentlich auf die Seiten der New York Times, aber nie in wissenschaftliche Fachbücher.'"

The Free Press (USA), 05.01.2024

Mohammed Mushtahas Vater ist Imam und hat im Gazastreifen praktiziert, wo die Familie seit Generationen lebt. Am 30. Dezember wurde er von maskierten Männern der Hamas entführt, weil er nicht mit ihnen kooperieren wollte, erzählt sein im Gazastreifen lebender Sohn in dem von der amerikanischen Journalistin Bari Weiss gegründeten Magazin The Free Press. "Für die Hamas bedeutet Muslim zu sein, die Hamas zu unterstützen, und Menschen, die die Hamas nicht unterstützen, sind keine Muslime. Wenn man sich nicht an das hält, was die Hamas einem sagt, verliert man seinen Job oder Schlimmeres. Um meinen Vater auf Linie zu halten und sicherzustellen, dass er nur von der Hamas genehmigte Freitagspredigten hält und der Hamas erlaubt, seine Moschee als geheimes Waffendepot zu nutzen, haben sie meinen Bruder und mich zwischen 2016 und 2019 mindestens zehn Mal verhaftet. Manchmal sprachen sie höflich mit uns, manchmal forderten sie uns auf, uns 'um eurer Schwestern willen' zu fügen, aber im Hintergrund stand immer die Androhung von Gewalt. Und mehrere Male wurden wir vor den Augen unseres Vaters geschlagen und gedemütigt. Sie schlugen auch ihn, einmal erblindete er fast. Er wurde gezwungen, Dinge für die Hamas zu tun, Geld zu verschieben, Dinge zu lagern, ihre Geheimnisse zu bewahren. ... Seit dem Krieg hat die Hamas enormen Druck auf die Imame ausgeübt, um die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass ihre einzige Wahl 'der Widerstand' ist. Schulen und Universitäten funktionieren nicht; das einzige, was die Menschen anzieht, ist das Gebet. Aber jetzt sind wir an einem Punkt angelangt, an dem fast jeder in Gaza sagt, dass die Hamas den Tod von 20.000 Menschen in Gaza und die Verletzung von 50.000 weiteren verursacht hat. Als die Gruppe also von meinem Vater verlangte, in eine Schule zu gehen, in der Tausende von Vertriebenen untergebracht sind, und sie aufzufordern, sich dem 'Widerstand' anzuschließen - der Hamas zu vertrauen -, lehnte er rundweg ab. Mein Vater kennt den Unterschied zwischen richtig und falsch. Er wusste, dass seine Weigerung, als Sprachrohr für die Hamas zu fungieren, seinen Tod zur Folge haben könnte, und dennoch weigerte er sich. Er hat ein reines Gewissen. So wie jeder, der weiß, was wirklich mit ihm geschehen ist und warum."
Archiv: The Free Press
Stichwörter: Gaza, Hamas

Lidove noviny (Tschechien), 25.01.2024

Kateřina Černa, Praha od Ladvi, 1962. Foto: Museum Kampa


In ihrem Nachruf auf die hierzulande nahezu unbekannte tschechische Künstlerin Kateřina Černa (1937-2024) würdigt Jana Machalická das Werk "einer der eigensinnigsten Künstlerinnen aus der Generation, die sich in den 1960er-Jahren etablierte". Mit ihren verspielt-poetischen und schwer einzuordnenden Grafiken und Gemälden sei Černa (der das Prager Museum Kampa vergangenes Jahr eine Ausstellung widmete), zwischen Gruppen und Strömungen immer ein Solitär gewesen. "Auf ihren Kollagen, Zeichnungen, gemalten Postkarten finden sich meist weiblichen Figuren. Puppen, Prinzessinnen, Eiskunstläuferinnen, Schwimmerinnnen, Bräute, Mädchen am Meeresstrand (…), die ebenso aus der Welt der Märchen und Geschichten wie aus der Realität stammen, sowohl zart als auch stark sind, während in der Welt um sie herum allerlei passiert." Das Schaffen Kateřina Černás bestricke vor allem dadurch, dass die Künstlerin findig und fantasievoll unterschiedliche Techniken zu nutzen verstand, so Machalická. "Es hat in sich etwas von der Unmittelbarkeit Naiver Malerei und dem ungetrübten Reiz der Volkskunst, gleichzeitig aber sind ihre Werke raffiniert und anspruchsvoll und erzählen ihre Geschichten mit kluger Distanz und Ironie."
Archiv: Lidove noviny

Meduza (Lettland), 26.01.2024

Nicht-slawisch aussehende Personen werden in Russland diskriminiert, berichtet Olga Mutovina in Meduza, wobei sie sich vor allem auf die Burjaten in Sibirien bezieht. Deshalb lassen sich viele Bewohner an den Augen operieren, um diese zu weiten und dadurch "slawisch" auszusehen: "Ivan (...) zahlte 85.000 Rubel (mehr als 950 Dollar), um sich 2020 in Moskau unters Messer zu legen. 'Ich war bei Bewusstsein, stand unter örtlicher Betäubung und hörte alles, was der Arzt sagte. Er erklärte mir genau, was passierte, und meinte: 'Es war richtig, dass Sie sich operieren lassen. Sie haben eine große Ansammlung von Fett, die auf Ihren Augenlidern lastet. Das lässt Sie traurig erscheinen. Wir werden das jetzt korrigieren, und Sie werden einfach großartig aussehen!'. Doch Ivan war mit dem Ergebnis nicht zufrieden. 'Ich bin durch alle Kreise der Hölle gegangen. Es hat sehr lange gedauert, bis alles verheilt war. Ich habe viel Geld ausgegeben, um die Narben zu entfernen, die von den Nähten übrig geblieben waren. Außerdem hat der Chirurg die Haut des oberen Augenlids an einem Auge nicht richtig genäht', beklagte er sich. 'Mein Leben hat sich überhaupt nicht verändert. Leute, die mich gut kennen, haben bemerkt, dass etwas anders war, aber es fällt ihnen meist schwer zu sagen, was genau.'"
Archiv: Meduza

Wired (USA), 24.01.2024

Ein neuer Space Race ist längst im Gange - auch wenn es diesmal nicht um den Mond, sondern nur um einen Bereich unmittelbar vor unserer Haustüre geht: Knapp 9000 Satelliten befinden sich derzeit im niedrigen Orbit um die Erde, etwa 30 Prozent davon starteten alleine im letzten Jahr, berichtet Khari Johnson - und Elon Musk, dem via Starlink knapp 50 Prozent all dieser Satelliten gehören, ist auf dem besten Weg, ein Monopol zu errichten, während Amazon mit vergleichbaren Projekten bereits mit den Hufen scharrt. Dabei legte der 1967 von 20 Nationen - darunter die USA und die UdSSR unterzeichnete - Weltraumvertrag einst fest, dass das All der gesamten Menschheit gehöre und nur zum Vorteil aller Menschen genutzt werden dürfe. Das Nachsehen haben heutige Schwellenländer, für die es immer drängender wird, sich einen Platz am Himmel zu sichern. "Nach Ansicht von immer mehr Anwälten, Akademikern und Funkionären auf der ganzen Welt ähnelt diese zunehmende Dominanz im Orbit etwas, was man nur zu gut kennt: einer kolonialen Landnahme. Manche Wissenschaftler mutmaßen gar, dass damit der Weltraumvertrag verletzt werde. Nur einer von vielen Gründen, warum einige Akteure im globalen Süden sich für die orbitale Zukunft rüsten, indem sie sich nicht nur anstrengen, Satelliten zu starten, sondern auch, indem sie ihre Kompetenzen im Bereich des Weltall-Rechts ausbauen." Denn "mit jedem Schwung von 50 Starlink-Satelliten, die SpaceX ins All bringt, und mit jeder neuen Nation und jedem neuen kommerziellen Akteur, der seinen Claim im Orbit absteckt, erscheinen tatsächliche juristische Auseinandersetzungen unvermeidbarer - und was hier auf dem Spiel steht, könnte sehr schnell sehr kostenempfindlich werden. Man bedenke ja bloß, dass neben den tausenden Satelliten im niedrigen Erdorbit mehr als eine Million Stücke Weltraummüll mit Geschwindigkeiten von 17500 Meilen pro Stunde herumfliegen."
Archiv: Wired

Elet es Irodalom (Ungarn), 26.01.2024

Eher skeptisch sieht der Publizist István Váncsa die Verabschiedung des European Media Freedom Act durch die EU zum Schutz der Pressefreiheit, von Journalisten und ihren Quellen (mehr hier): "Zweifeln am guten Willen der EU soll man nicht, das Problem ist allerdings, dass unsere apostolische Regierung sich nicht durch schöne Worte, Vogelgezwitscher oder wilde Blumen stoppen lässt. Die EU ist jedoch unermüdlich in ihren Bemühungen, und probiert es weiter, sei es nur, weil sie im Moment keine bessere Idee hat, und wer weiß, eines Tages, in einer fernen Zukunft, die unserer Gegenwart in keiner Weise ähneln wird, könnte sie sogar Erfolg haben." Oder auch nicht, "laut Freedom House ist Ungarn bereits schlechter dran als Albanien, und die Tatsache, dass Ungarn der einzige EU-Mitgliedstaat ist, in der die Presse nur 'teilweise frei' ist, ist ein weiteres Indiz dafür. Im Moment. Wahrscheinlich wird es später nicht mal mehr 'teilweise frei' sein, und längerfristig gesehen ist die Grenze nicht der Himmel, sondern der Boden der Hölle."

New Lines Magazine (USA), 29.01.2024

Kingsley Charles erklärt in einem Essay, warum es ausgerechnet die Pfingstbewegung war, die in Nigeria einen Hype um Horrorfilme auslöste und so das Phänomen "Nollywood" ins Leben rief. Nachdem die nigerianische Filmindustrie während der siebziger Jahre einen wahren Boom erlebt hatte, folgte in den Achtzigern durch die Schwächung des weltweiten Ölmarktes die wirtschaftliche Krise. Nigeria befand sich in einer nicht enden wollenden wirtschaftlichen und ökonomischen Abwärtsspirale - das führte zu zwei Entwicklungen: Zum einen sprossen im ganzen Land neopentekostalistische Kirchen wie "Pilze aus einem feuchten Boden", so Charles, die mit ihrer religiösen Botschaft Halt gaben. Zum anderen verbreitete sich die Angst vor okkulten Sekten. Denn die Wirtschaftskrise hatte eine neue Elite hervorgebracht, die zum Teil auf sehr rätselhafte Weise an ihr Geld gekommen war - Höhepunkt dieser Entwicklungen waren die sogenannten Otokoto-Proteste, die 1996 ausbrachen "nachdem der 11-jährige Anthony Okoronkwo von Mitgliedern einer als Black Scorpion bekannten Sekte ermordet worden war. Diese - benannt nach dem Hotel, in dem Okoronkwo enthauptet, sein Penis abgetrennt und seine Leber entnommen worden war - lösten eine weit verbreitete Empörung aus, als weitere verstümmelte Leichen entdeckt wurden, die auf die gleiche grausame Weise ermordet und von Sektenmitgliedern begraben worden waren." Hoffnung gegen dieses teuflische Treiben versprachen die Prediger der Pfingstbewegung: "Die Verbreitung von Videokassetten in den nigerianischen Haushalten durch die Neo-Pfingstpastoren und die im Gegensatz zu Zelluloidfilmen niedrigen Produktionskosten von Videos läuteten die Geburtsstunde von Nollywood ein. Dieser soziale und politische Hintergrund inspirierte die Produktion von 'Living in Bondage' und anderen Filmen, die den Weg für das Horrorkino in Nollywood ebneten. Die blutigen Erzählungen waren oft visuelle Darstellungen des in den 1990er Jahren weit verbreiteten Glaubens, dass sich der Reichtum weitgehend auf einen engen Kreis gefährlicher Männer konzentrierte, die Menschen auf dem Altar des Geldes opferten. 'Last Burial', ein Horrorthriller von Lancelot Imasuen aus dem Jahr 2000, war ein Paradebeispiel dafür, wie diese Filme die christliche Lehre untermauerten, dass dauerhafter Wohlstand nur von Gott kommen kann und dass man nur erlöst wird, wenn man sich Christus unterwirft und über sein Wort meditiert."

Lange interessierte sich die israelisch-amerikanische Forscherin Ilana Cruger-Zaken nicht für die seltsame Sprache, die ihre Großmutter sprach, die aus Zakho stammt, einer Stadt in der überwiegend kurdischen Region im Nordwesten des Irak: "Sie gehörte zur letzten Generation jüdischer Babys, die auf einer kleinen Insel in der Mitte des Flusses Khabur geboren wurden." Aber irgendwann macht Cruger-Zaken sich auf die Suche nach den Überresten von "Lishana Deni", einen Zweig des Judäo-Neo-Aramäischen, einer der letzten überlebenden Formen des antiken Aramäischen, das die Verkehrssprache der neoassyrischen, neobabylonischen und achämenidischen oder persischen Reiche war. Bei ihrer Suche stößt sie auf die Tonaufnahmen eines Geschichtenerzählers aus Zakho: "Schon früh in seiner akademischen Laufbahn wurde Sabar dafür bezahlt, Interviews mit Ältesten aus Zakho auf Band zu dokumentieren und zu übersetzen. … Das besondere Dokument, das ich gefunden habe, ist eine transkribierte und übersetzte Reihe persönlicher Anekdoten von Mammo Yona Gabbai, die seine letzten Jahre in Zakho und die Migration der Gemeinschaft nach Israel beschreiben. Ich greife Wörter heraus, die ich wiedererkenne, vertraute Kopulas und Konstruktionen. Ich habe keinen großen Wortschatz, aber ich verstehe die Laute. Und dann stoße ich auf ein Wort, das ich mit meinem ganzen Wesen kenne und das genau so verwendet wird, wie ich es kenne. Mein Körper vibriert. Es ist ein einfaches Wort: 'chayet', was 'Leben von' bedeutet. Es war der Kosename, mit dem mein Vater mich immer bezeichnete: 'Chayet Abba' (Papas Leben). Und jetzt nennt er mein Kind 'Chayet Saba'. Ich hatte angenommen, der Ursprung dieses Wortes sei hebräisch, denn חי (Leben) ist ein gängiges hebräisches Wort. Aber hier steht es in jüdischem Aramäisch, in genau derselben Form und in demselben Zusammenhang, in dem mein Vater es verwendet."