Magazinrundschau

Es gibt nur Stilisierungen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
19.05.2009. Wie findet man Lebensglück?, fragt The Atlantic. Outlook India feiert den Sieg der säkularen Politik in Indien. Der Spectator sieht die Stunde der Mediävisten gekommen. Der Economist erklärt, warum der Perlentaucher lebenswichtig ist. Der New Statesman kauft Damenunterwäsche in Saudi-Arabien. Magyar Narancs fragt sich, was der 8. Mai eigentlich in Ungarn bedeutet. Die afghanischen Ehegesetze widersprechen dem Koran, erklärt Nasr Abu-Zayd in ResetDoc. Jazz stirbt in Polen, erkennt Polityka.

Outlook India (Indien), 18.05.2009

Nicht ohne (mehr als nachvollziehbare) patriotische Wallung kommentiert Vino Mehta den Ausgang der indischen Wahlen: Die gemäßigte Kongresspartei unter Manmohan Singh hat geradezu triumphal gewonnen, eine Ohrfeige an die Hindu-Extremisten und Kommunisten Indiens: "Indien sendet durch diese Wahl eine dringende Botschaft. Die größte Demokratie der Welt, die sich aus Slumdogs und Millionären zusammensetzt, bleibt eine säkularen Politik zutiefst verbunden. Unsere Nachbarn mögen mit ethnischem oder religiösem Extremismus flirten - aber wir haben in aller Deutlichkeit darauf verzichtet." Das Heft bietet eine Menge Informationen zu den Wahlen und diese interaktive Karte mit allen Wahlkreisen:


Archiv: Outlook India
Stichwörter: Flirten, Ohrfeige, Extremismus

Nouvel Observateur (Frankreich), 14.05.2009

Vor dem Hintergrund der Wahlen in Indien widmet der Obs dem Land sein Titeldossier. Der Schriftsteller Vikram Chandra ("Der Gott von Bombay"), erklärt in einem Gespräch, dass die größten Herausforderungen innenpolitische seien: nämlich die Bekämpfung von Armut, Korruption und Gangstertum. Über seine Heimatstadt Bombay und das Land im Allgemeinen sagt er: "Der Anstieg des organisierten Verbrechens ist untrennbar mit dem Wirtschaftswachstums des Landes verknüpft. Man könnte die Mafiosi als Unternehmer betrachten, die ihr Stück vom Kuchen haben wollen und dafür alles tun. Ich glaube, dass diese Mafiaorganisationen nicht verschwinden werden, sondern imstande sind, ihre Methoden den Verhältnissen anzupassen. Sie haben auf alle Lebensbereiche einen enormen und starken Einfluss. Die Korruption und die Angst, die sie verbreiten, schwächen die Entwicklung, die Justiz, den Handel, die Politik und alles andere auch. Ganz sicher gibt es kein Wundermittel dagegen. Ihren Einfluss zurückzudrängen wird eine lange und schwierige Aufgabe werden und ein schmutziger Job, für die Bürger wie für den Staat."

Begleitend analysiert der französische Indien-Experte Christophe Jaffrelot in einem weiteren Interview die Trümpfe und Schwächen der "größten Demokratie der Welt". Auf den Buchseiten beschäftigt sich Philippe Sollers mit bisher unveröffentlichten Texten des "absoluten Misanthropen" Emil Cioran, in denen er sich mit 22 Jahren als glühender Anhänger des Faschismus und Hitlers offenbart.

Economist (UK), 15.05.2009

In zwei Artikeln widmet sich der Economist dem Stand der Dinge im Zeitungs- und Nachrichtenbusiness. Und er leugnet zwar die Gefährdungen und Veränderungen nicht, weigert sich aber standhaft, wenn nicht sogar recht fröhlich, in die in Deutschland üblichen Untergangsgesänge zu verfallen: "Die einzige Gewissheit über die Zukunft der Nachrichten ist, dass sie sich von der Vergangenheit unterscheiden wird. Die Zeiten sind vorbei, in denen ein paar große Titel mit ihren Schlagzeilen die Geschichte des Tages bestimmen können. Die öffentliche Meinung wird sich vielmehr aus tausenden unterschiedlicher Stimmen mit ebenso vielen unterschiedlichen Perspektiven und Schwerpunkten zusammensetzen... Wer sich nicht für Politik oder Wirtschaft interessiert, wird wohl eher seltener als bisher trotzdem damit zu tun bekommen; die aber, die sich interessieren, werden die besseren Argumente an die Hand bekommen, mit denen sie dann von der Politik Rechenschaft fordern können. Und genau dafür braucht schließlich die Gesellschaft die Nachrichten."

Ein zweiter, umfangreicher Artikel stellt die neue Welt der Nachrichten schon etwas detaillierter vor. Es geht darin unter anderem um unpersönliche Aggregatoren wie Google News. Und persönlichere, die ein wichtiger Teil der Zukunft sein dürften: "Manche davon sind reichlich eklektisch, wie The Daily Beast und der Druge Report - der Großvater der individuelleren Aggregatoren. Andere sind spezifischer, wie der Perlentaucher, eine deutsche Website, die sich auf Kultur spezialisiert... Altgediente Nachrichtenmenschen beschweren sich immer häufiger, diese Aggregatoren seien 'Parasiten', die von ihrer Arbeit profitieren. In gewisser Weise sind sie das auch; allerdings können Parasiten auch sehr nützlich sein. Je erratischer die Qualität des Journalismus wird, desto lebenswichtiger wird das Filtern."
Archiv: Economist
Stichwörter: Google News, Parasite

La vie des idees (Frankreich), 15.05.2009

Wie kommt es, dass manche Länder ihre Filme exportieren, während andere sich damit begnügen, die Importware zu sehen? Monique Dagnaud untersucht in einem Essay, weshalb gerade Frankreich, Indien und die USA, nachweislich die cinephilsten Nationen der Welt, mit völlig unterschiedlichen künstlerischen und wirtschaftlichen Modellen so erfolgreich auf dem Weltmarkt sind. Zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, wie Nationen es anstellen, mittels einer Bild-Industrie die eigene Identität zu schaffen und zu behaupten, macht sie ihre Unterscheidung von drei Grundmustern: "Indiens Kino pflegt mit Glück seine Traditionen und seine Romantik für ein inbrünstiges einheimisches Publikum: Der Erfolg dieser Industrie wurzelt in der kulturellen Geschichte dieses Landes. Die USA verbinden die Kultur des Massenkinos mit ökonomischer Effektivität: Sie gehorchen mittels Megaproduktionen und Genrevielfalt einer Logik der Sättigung heimischer und fremder Märkte, aber indem sie auch Talente aus aller Welt aufnehmen, führen sie damit die Werte des Melting-Pot weiter. Frankreich beweihräuchert das Kino als eigene Kunstgattung und stützt dessen Betrieb eifrig mittels einer staatlich gelenkten Politik."

The Atlantic (USA), 01.06.2009

Eine der faszinierendsten Langzeitstudien der Wissenschaftsgeschichte stellt Joshua Wolf Shenk in der Titelgeschichte vor. Sie wurde 1937 begonnen und wird bis heute fortgeführt. Beobachtet wird dabei eine Gruppe von (ausschließlich männlichen) Studenten, die in jenem Jahr ihr Studium in Harvard antraten. Rund die Hälfte lebt heute noch. Und es geht um nichts Geringeres als die Frage: Wie erlangt man Lebensglück? Die Ergebnisse freilich sind eher "paradox" als eindeutig, wie Shenk betont: "Wie George Vaillant, seit mehr als vierzig Jahren der Leiter der Studie, betont, werden Langzeitstudien, wie Wein, mit dem Alter immer besser. Mit dem Eintritt der Studienobjekte ins mittlere Alter - sie waren in den 60er Jahren zwischen vierzig und fünfzig - erlangten viele von ihnen großen Erfolg. Vier von ihnen kandidierten für den US-Senat. Einer war Kabinettsmitglied, einer Präsident [das war John F. Kennedy, seine Akten sind jedoch bis 2040 unter Verschluss, PT]. Ein Bestseller-Autor war auch darunter... Unter all diesen glänzenden Erfolgen lagen dunklere Seiten. Schon 1948 zeigten 20 Mitglieder der Gruppe massive psychische Schwierigkeiten. Im Alter von fünfzig hatte fast ein Drittel der Männer mindestens einmal die Kriterien für eine Geisteskrankheit erfüllt... Der Initiator der Studie Arlie Bock zeigte sich verständnislos: 'Sie waren ganz normal, als ich sie aussuchte. Die Psychiater müssen sie aus der Bahn geworfen haben.'"
Archiv: The Atlantic

Magyar Narancs (Ungarn), 14.05.2009

Der 8. Mai scheint an Ungarn spurlos vorübergegangen sein. Können die Ungarn womöglich nichts mit diesem Datum anfangen? Wissen sie nicht, wie oder was sie feiern sollten? Klar, Ungarn war auf der Seite der Verlierer. Aber die Deutschen können und wollen dieses Datum doch auch feiern. "Sind sie dann Verräter und wir Ungarn die letzten Hüter der Flamme? Was spaltet sich da unter unseren Füßen?", fragt sich die Wochenzeitung Magyar Narancs besorgt. "Hinter dieser tiefen, unheilverkündenden Stille, aus der nur das Fehlen eines nationalen Konsenses über den Faschismus und über die faschistische Vergangenheit Ungarns herauszuhören ist; hinter diesem Paravent des peinlichen Schweigens kommen langsam die Ereignisse der letzten Wochen und Monate zum Vorschein: die Zwischenfälle der rassistischen Gewalt, schwarze Uniformen auf den Straßen ungarischer Dörfer, Hassreden, die allmählich zum Alltag gehören; und die Ohnmacht der Justiz gegenüber alledem. Aber es geht nicht nur darum. Dieses Schweigen ist auch ein Affront für Europa. Denn der Zusammenhalt in der Gemeinschaft europäischer Nationen entsteht gerade durch den antifaschistischen Konsens: Durch das grundlegende und unbestreitbare Wissen darüber, dass der Faschismus, der Naztionalsozialismus und alles, wozu diese führten, wie der Zweite Weltkrieg – die dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte darstellen. Und dass das Ende des Zweiten Weltkriegs, der Tag der deutschen Kapitulation der größte Feiertag dieser Gemeinschaft ist."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Faschismus, Hassrede, Kapitulation

Boston Globe (USA), 18.05.2009

Richard Thompson Ford, Jurist und Bürgerrechtler und einer der bekanntesten schwarzen Intellektuellen Amerikas, zieht kurz nach der Wahl des ersten schwarzen Präsidenten Bilanz zu den Fragen der Rassendiskriminierung. Rassismus ist nicht mehr das eigentliche Problem, meint Ford, sehr wohl aber die soziale Trennung, die aus dem Rassismus von einst erwuchs: "Das größte Rassenproblem liegt in der Ungleichheit, die fast zwei unterschiedliche Amerikas geschaffen hat, ein schwarzes und armes Amerika und einen wohlhabenderen, vielrassigen Mainstream... In der Isolation entwickeln die Ghettobewohner eigene Sprachmuster und Haltungen, die mögliche Arbeitgeber abschrecken und so die ökonomische Bedürftigkeit noch verschärfen. Jenseits legaler Arbeitsmöglichkeiten stolpern dann viele auf den halblegalen grauen Markt oder ins Verbrechen."
Archiv: Boston Globe

Spectator (UK), 16.05.2009

Dies ist die Zeit der Mediävisten, ruft Dan Jones, denn wir leben in mittelalterlichen Zeiten, und er zählt Parallelen zwischen dem 14. und dem 21. Jahrhundert auf: "Während Geoffrey Chaucer und seine Zeitgenossen es mit dem Schwarzen Tod, dem Bauernaufstand, dem Hundertjährigen Krieg und der mittelalterlichen Warmperiode zu tun hatten, haben wir die Schweinegrippe, die G20-Unruhen, Afghanistan und Al Gore. Die Namen mögen sich geändert haben, doch die Reiter der Apokalypse sind immer noch die gleichen. Nehmen wir den G20-Aufruhr in London. Viele der Demonstranten fühlten sich zweifellos sehr modern , als sie Handys, Facebook und so weiter verwendeten, um sich zu treffen, zu marschieren, zu campen, schreien und Flaschen zu werfen. Für den Mediävisten ist das alles ein alter Hut. Tatsächlich wurde der G20-Protest ziemlich auf die gleiche Weise organisiert, geschürt, ausgeführt und schließlich auseinandergetrieben wie Wat Tylers Rebellion im Jahr 1381. Es gab kein Lager auf Blackheath oder eine Schlacht bei Smithfield, aber sonst stimmte so ziemlich alles überein."
Archiv: Spectator
Stichwörter: Apokalypse, Gore, al, Camp

ResetDoc (Italien), 16.05.2009

Die berühmt-berüchtigen neuen Ehegesetze für Schiiten in Afghanistan widersprechen dem Koran, meint der liberale islamische Denker Nasr Abu-Zayd in dem interkulturellen Magazin ResetDoc.org: "Der Koran brach mit der alten arabischen Tradition, die den ältesten Sohn zum einzigen Erben des Vaters machte. Er verteilte das Erbe stattdessen an alle Söhne, Töchter und die Ehefrau. Ironischerweise spricht der Koran im Kontext des Erbe-Themas nur von einer Frau, von mehreren Frauen ist nicht die Rede. Frauen hatten also ihren Anteil. Die Ehe wird im Koran in Begriffen der gegenseitigen Liebe vorgestellt; der Ehemann ist das Gewand der Gattin und umgekehrt. Sie enthalten einander. Verglichen mit der Scharia, wo die Heirat in Begriffen des Kaufs und Verkaufs behandelt wird und die Frau eine Ware ist, verleiht der Koran der Ehe einen hohen Status."
Archiv: ResetDoc
Stichwörter: Scharia, Heirat, Schiiten

New Statesman (UK), 14.05.2009

Der New Statesman hat einen kleinen Schwerpunkt zu Saudi-Arabien - einem zwischen fundamentalistischem Islam und der Öl-Moderne zerrissenen Land. David Gardner schildert die Auswirkungen des totalitären Wahabbismus auf den Alltag: "Der Staat, den Ibn Saud geschaffen hat, hat sich kaum verändert, während seine Bürger in eine Moderne geraten sind, deren Fundament extrem instabil ist, importiert wie die Klimaanlagen, die die gleißenden Malls und die Gated Communities kühlen. In Lautsprecherdistanz zu einer Moschee, in der fanatische Strenge gepredigt wird..., befindet sich in einer Mall ein Laden der La-Senza-Unterwäsche-Kette. Er sieht kaum anders aus als ähnliche Shops irgendwo sonst. Es gibt jedoch einen fundamentalen Unterschied. Da Frauen außerhalb der Familie keinen Kontakt mit Männern haben dürfen und in einer Mischung aus Wegschluss und Segregation gehalten werden, können sie logischerweise nicht in einem Unterwäsche-Laden arbeiten - man sieht dort also nur männliche Verkäufer."

Außerdem: Sophie Elmhirst porträtiert Abdul Wahhab, den Gründer des Wahhabismus. Der Jazzkritiker Sholto Byrnes erinnert sich an seine Kindheit in Saudi-Arabien.
Archiv: New Statesman

Polityka (Polen), 13.05.2009

Jazz scheint auch in Polen, wo diese Musik einst blühte, den Barmusiktod zu sterben. Polityka übersetzt einen Artikel von Dorota Szwarcman, die in Kattowitz ein Symposion über die Geschichte des Jazz in Polen besucht und zitiert den Kritiker Tomasz Szachowski: "Sie spielen Mainstream oder Hard Bop, sagen wir mal im Stile von Adderley, denn Charlie Parker wäre für sie schon zu schwer. Free Jazz taucht überhaupt nicht auf. Es gibt nur Stilisierungen, wunderbare Stilisierungen aber altmodische. Es wäre schön, wenn junge Musiker mit einer eigenen Vision überraschen würden. Aber das kommt nicht vor."
Archiv: Polityka
Stichwörter: Free Jazz, Parker, Charlie

New Yorker (USA), 25.05.2009

David Denby erinnert mit einer wunderbaren Besprechung zwei gelungener neuer Bücher an den fast vergessenen Mann hinter zwei absoluten Hollywoodklassikern: an den Filmregisseur Victor Fleming. "Am Set von 'Vom Winde verweht' hänselte und beschwatzte Fleming [Vivian] Leigh; manchmal stritten sie so heftig wie Rhett und Scarlett. Als er nach einem schlechten Tag vom Set ging, sagte er: 'Miss Leigh, Sie können sich dieses Skript in Ihren königlichen britischen Arsch schieben', eine nicht sehr elegante Variante von 'Ehrlich gesagt, meine Liebe, kümmert mich das einen Dreck.' Aber ihre gegenseitige Antipathie hat den Film vielleicht dramatisch lebendig gehalten."

Als "verkappten Hardliner" porträtiert Jeffrey Toobin John Roberts, jenen obersten Richter der USA, der Barack Obama bei dessen Vereidigung den Amtseid falsch vorsagte. Roberts, der sich als "Schiedsrichter" versteht, der die Regeln nicht mache, sondern lediglich anwende, und für seine Amtsführung "Bescheidenheit und Demut" versprach, habe nach vier Jahren allerdings weniger die Bilanz "eines demütigen Bescheidenen, sondern eher eines doktrinären Konservativen vorzuweisen. Die von ihm favorisierte Art der Demut spiegelt eine Auffassung wider, wonach sich der Gerichtshof fast immer den bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen fügen sollte. Seit er der siebzehnte oberste Richter wurde, ergriff Roberts in jedem bedeutenden Fall die Partei der Anklage gegenüber dem Angeklagten, des Staats gegenüber dem Verurteilten, der Exekutive gegenüber der Legislative und des Beschuldigten eines Unternehmens gegenüber dem Einzelkläger."

Weiteres: Paul Goldberger gratuliert dem Guggenheim-Museum zum 50. Geburtstag. Und David Denby sah im Kino "Angels & Demons" (Originaltitel von "Illuminati") von Ron Howard und "Summer Hours" ("L'heure d'ete") von Olivier Assayas. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Ava's Apartment" von Jonathan Lethem und Lyrik von Robert Gibb und Philip Levine.
Archiv: New Yorker