Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
09.02.2004. Die London Review of Books weiß jetzt endlich, wie Godot zu seinem Namen kam. Der New Yorker analysiert die Außenpolitik der amerikanischen Demokraten. In Outlook India fasst Ian Buruma die Thesen seines neuen Buchs über den Okzidentialismus zusammen. Das TLS streitet über Hamlets Handicap. Im Espresso befürchtet Umberto Eco einen Exodus der italienischen Intelligenz. Im Spiegel nennt Alexander Fest seinen früheren Autor Thor Kunkel einen "rechten Schläger". Die New York Times feiert einen Roman über die Heimtücke und das Konkurrenzgehabe unter feministischen Lyrikerinnen.

London Review of Books (UK), 05.02.2004

Thomas Jones hat sich wunderbar amüsiert bei der Lektüre von Andre Bernards "Madame Bovary, c'est moi", das vielerlei Legenden um die Entstehung der großen literarischen Figuren versammelt. "Es gibt mehrere Geschichten darüber, wie Becketts Godot zu seinem Namen gekommen sein soll. Eine davon besagt, dass Beckett sich in einer Stadt aufhielt, durch die die Tour de France gerade hindurchgefahren war, und einer Gruppe von Menschen begegnete, die erwartungsvoll an einer Straßenecke standen, lange nachdem die Radfahrer bereits verschwunden waren. Er fragte sie, was sie da tun. 'Nous attendons Godot', antworteten sie und erklärten ihm, dass Godot der älteste und langsamste Fahrer des Rennens sei."

Im Diary erzählt Sophie Harrison, Medizinstudentin im ersten Semester, wie seltsam die erste Leichenöffnung sein kann - wenn es im sonnendurchfluteten Labor riecht wie irgendetwas zwischen Nagelstudio und Fleischerei, und die zeremonielle Befangenheit das Denken auf Irrwege schickt: "Als wir mit dem Auspacken fertig sind, ist es uns unverständlich, was wir da sehen. Die Haut ist glänzend, altersgefleckt und leicht gelblich. Wie Marmor - kalt und sanft lasiert. Da ist eine Reihe von Beulen - die Rippen - doch der Oberkörper scheint einen seltsamen Winkel zu haben - er sieht gebeugt aus. Keiner traut sich, das zu sagen, was er denkt. Wo sind seine Brustwarzen? Einen verrückten Moment lang überlege ich, ob das vielleicht beim Sterben passiert, oder im hohen Alter. Vielleicht ist es wie mit Ruskins Schock und dem Schamhaar, aber umgekehrt - das schockierende Verschwinden der Brustwarzen. Alle sind zu nervös um noch vernünftig denken zu können. Es dauert eine ewige Sekunde bis wir merken, dass unser Toter auf dem Bauch liegt." (Der viktorianische Kunstkritiker John Ruskin erlitt in der Hochzeitsnacht einen schweren Anfall, als er entdeckte, dass Frauen Schamhaare haben.)

Für Jonathan Lanchester ist Rupert Murdoch nichts anderes als ein Bildnis der modernen Welt, mit anderen Worten: Er ist "der Medienmmagnat, den wir verdienen." Doch verdient, so Lanchester, haben weder wir noch Murdoch die Murdoch-Porträts, die zu Hauf geschrieben werden (einzige Ausnahme: Neil Chenoweths "Rupert Murdoch: The Untold Story of the World's Greatest Media Wizard"). Nobelpreisträger Amartya Sen vertieft sich in die Argumente der ökologischen Literatur. Und Peter Campbell hat bei Philip Guston, der in der Londoner Royal Academy ausgestellt wird, die gesamte Dialektik der amerikanischen Malerei im 20. Jahrhundert erblickt.

Leider nur in der Printausgabe zu lesen, der Artikel mit dem schönen Titel "Zu spät, um früh zu sterben": Ruth Bernard Yeazell liest Krankheitsreflexionen von Virginia Woolf und Harriet Martineaun.

New Yorker (USA), 16.02.2004

Wieder einmal viel Lesestoff - und viel Politik in dieser Woche. George Packer analysiert die Außenpolitik der amerikanischen Liberalen, und untersucht, ob es ihnen gelingen kann, den Republikanern deren gegenwärtige Dominanz in diesem Feld wieder abzujagen. Vietnam, schreibt er, hat die Demokraten "schwer gespalten: manche wurden Republikaner, andere Pazifisten. Und hier zeigt sich eine bemerkenswerte Tatsache: Seit den sechziger Jahren hatte die Demokratische Partei keine Außenpolitik. Ihre Führer sprachen zwar auch weiterhin die Sprache des liberalen Internationalismus, aber nach Vietnam wollten die meisten Demokraten das Gespräch mit der Macht nicht mehr fortsetzen. (...) In den Neunzigern war aus dem liberalen Internationalismus bereits ein erschlaffter Muskel geworden, kraft- und saftlos. (...) Und in der Dotcom-Ära verloren die meisten Demokraten schlicht das Interesse am Rest der Welt. Clintons Außenpolitik hieß Globalisierung."

In einem wunderbaren Text beschreibt Ian Frazier seine tägliche Fahrt auf der Route 3 zwischen Manhattan und seinem Zuhause in einem Vorort von New Jersey. "Leute haben die berühmte Route 66 besungen (...); soweit ich weiß, hat das mit der Route 3 noch nie jemand getan. Sie ist unvermeidlich, überlastet, wenig verlockend - ihre unerbittliche Lebenswirklichkeit vernichtet vermutlich jeden lyrischen Impuls."

Weiteres: Jane Mayer untersucht, was Vizepräsident Dick Cheney so alles für sein altes Unternehmen Halliburton, den weltgrößten Öl- und Gaskonzern, getan hat, und Hendrik Hertzberg kommentiert das bevorstehende Duell zwischen John Kerry - George W. Bush. Zu lesen ist außerdem die Beschreibung einer Europareise kurz nach dem Krieg, die Roger Angell Ende der Vierziger mit seiner Frau unternahm, die Erzählung "La Ragazza" von Andrea Lee, und ein Bericht über den Prozess gegen die amerikanische "Hausfrau der Nation", Martha Stewart (hier).

Besprechungen: John Updike stellt das literarische Werk des 1931 in Wien geborenen, vor Hitler über Shanghai nach New York geflohenen Schriftstellers Walter Abish (mehr) vor. Judith Thurman las zwei neue Publikationen zur Geschichte der Liebe und der Lust, und die Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem einer Gesellschaftsstudie der britischen Kolonialmacht. Peter Schjeldahl führt durch die Barnes-Collection in Philadelphia (mehr). Nancy Franklin hofft, mit ihrem Text über "The Apprentice" -"die größte Reality-Show des Landes, vielleicht der ganzen Welt, mit Donald Trump als Gott in der Hauptrolle" - irgendwann einmal Milliardärin zu werden. Und Anthony Lane sah eine Neuverfilmung von Patrica Highsmiths Roman "Ripley's Game" von Liliana Cavani (mehr): "Ladies und Gentlemen, der Preis für den besten Ripley - der unsterbliche Todesbringer ... ein Held, den Highsmith so geliebt hat, dass sie ihm fünf Bücher gewidmet hat - geht an Mr. John Malkovich."

Nur in der Printausgabe: Porträts von Michael Moore und einer nicht näher spezifizierten klassischen Musikbegabung, ein Bericht über eine der brutalste Gefängnisbanden Amerikas (online zu lesen ist ein Gespräch mit dem Autor), ein Brief aus China, der der Frage nachgeht, ob der Streit über ein Alphabet einen Dichter umgebracht hat, und Lyrik von Wislawa Szymborska, Charles Simic und Paul Muldoon.
Archiv: New Yorker

Espresso (Italien), 12.02.2004

Eine Überraschung erlebte Umberto Eco, als er sich vor einer Woche auf der Titelseite der Tageszeitung Il Giornale (dauert ewas) wiederfand. Dort wurde Eco nach einem Vortrag als entschiedener Befürworter der Bildungsreformen der Forza-Italia Ministerin Letizia Moratti (mehr) vorgestellt. Das muss richtig gestellt werden. "Der Titel meiner Ausführungen lautete 'Priester auf Wanderschaft. Wann die Universität endet', und das bedeutete, dass man in einer guten Universität nie anhält, auch nach dem Doktortitel geht es weiter für den, der die Berufung spürt zu forschen, und deshalb muss man nachdenken, wie man die Inhaber des Doktortitels unterstützen kann, auch um dem Exodus der Intelligenz hierzulande vorzubeugen." Vielleicht sollten Moratti und Buhlman mal telefonieren. Ecos Urteil über den Stein des Anstoßes ist letzlich altersmilde-weise oder besser resigniert. "In diesen Zeiten ist es besser, eine Presse zu haben, die die Karten auf dem Tisch durcheinander bringt als eine, die zum Schweigen gebracht wird."

Korruption allerorten, beklagt der Espresso seit Wochen. Nicht Parmalat sei das Problem, sondern der italienische Kapitalismus überhaupt. Giorgio Bocca verkündet jetzt in apokalyptischem Ton, dass das ganze Land nach dem Modell Mafia gestaltet sei. Und "wenn sich in einer Gesellschaft die Tendenz zeigt, dass Laster die Normalität sind und Untaten zu verständlichen menschlichen Schwächen werden, dann ist Anarchie unausweichlich." Mannesmann?

Des weiteren berichtet Monica Maggi aus Japan, wo nun das erste Mal ein Verleger ins Gefängnis muss, weil die Mangas seines Hauses zu hart sind. Maggi kündigt außerdem die ersten italienischen Kussseminare an und behilft sich mit Casanova. "Was ist der Kuss denn, wenn nicht das brennende Verlangen, ein wenig vom Geliebtsein einzuatmen?" Silvia Bizo plaudert schließlich mit Michael Douglas, der sich selbst als "gefallenen Hippie" sieht.
Archiv: Espresso

Outlook India (Indien), 16.02.2004

Der bei weitem interessanteste Artikel dieser Woche steht nur im Netz: Ian Buruma (David Levines Karikatur) stellt die Thesen seines gemeinsam mit Avishai Margalit (nochmal Devid Levine) verfassten, demnächst erscheinenden Buches "Occidentalism: The West in the Eyes of its Enemies" vor. Die islamistischen Angriffe gegen die als barbarisch wahrgenommene westliche Zivilisation und ihren Hauptvertreter, die USA, sind demnach ein "Krieg gegen eine bestimmte Idee des Westens, die weder neu noch ein einzigartiges Merkmal des islamistischen Extremismus ist. (...) Diese Vorstellung hat historische Wurzeln, die jeder Form von 'US- Imperialismus' weit vorausgehen." Buruma zieht eine Linie von der deutschen Romantik über den russischen Panslawismus zum japanischen und deutschen Faschismus. Der gemeinsame Nenner: die Ablehnung des als kalt empfundenen Rationalismus der Aufklärung und die Beschwörung von - spiritueller, rassischer, nationaler - Reinheit und Seele. "Wo immer er auftritt", schreibt Buruma, "wird der Okzidentalismus von einem Gefühl der Demütigung befeuert. (...) Demütigung kann leicht zu einem Kult des Reinen und Authentischen führen. (...) Und wenn Reinheit und Authentizität - des Glaubens oder der Rasse - zur Säuberung vom vermeintlich Unauthentischen, angeblich Unreinen führen, dann beginnt der Massenmord."

In der Druckausgabe: Charubala Annuncio berichtet von empörten Filmemachern und politischer Zensur beim Mumbai International Film Festival. Shobita Dhar ist auf der India Fashion Week aufgefallen, dass das modische Indien immer androgyner wird. Bha Vdeep Kang stellt in der Titelgeschichte die neuen jugendlichen Hoffnungsträger der Kongresspartei vor, die der favorisierten BJP im Wahljahr 2004 vielleicht doch noch ein Bein stellen sollen. Ihre Namen: Gandhi - Rahul und Priyanka, die Kinder von Rajiv und Sonia. Und Jawid Laiq weist auf ein Buch hin, das Einblicke in die Wurzeln der Hindutva- Ideologie verspricht - vielleicht keine uninteressante Lektüre in Zeiten, da die BJP vor der Wiederwahl steht und der Hindunationalismus sich immer wieder als aggressiv-untolerante Bewegung hervortut.
Archiv: Outlook India

Times Literary Supplement (UK), 06.02.2004

Enthusiastisch feiert John Rogister die Memoiren des Andre de Staercke, über mehrere Jahrzehnte graue Eminenz der belgischen Politik und Freund von Churchill, Salazar und Clinton. Besonders interessant findet Rogister natürlich, was de Staercke über Churchill zu erzählen hat. Zum Beispiel dessen Geheimplan für den Fall einer deutschen Invasion: "Lass jeden einen Hunnen töten. Einen kann man immer mitnehmen."

Die Herren Frank Kermode, Anthony Holden, Robin Marris, Ken Follett, Linden Stafford und Daniel Marciano widmen sich einem vertrackten Problem der Literaturgeschichte: Wie standen Hamlets Chancen, Laertes im Duell zu besiegen? Wie sah es mit dem Handicap aus? Und hätte Laertes auch gewonnen, wenn er Hamlet mit weniger als drei Treffern Vorsprung getötet hätte? Mick Imlah seufzt wehmütig über Richard Beards Erinnerungen an den guten, alten, bescheidenen und anständigen Rugby "Muddied Oafs - The Last Days of Rugger". Juliet Fleming findet in dem autobiografischen Roman "Old School" des creative-writing-Lehrers Tobias Wolff die creative-writing-Lehrer etwas zu großartig dargestellt. Und Judith Weir stellt uns den Musikkritiker Paul Bowles vor, dessen Rezensionen nun von Timothy Mangan and Irene Herrmann in dem Band "Paul Bowles on Music" herausgegeben wurden.

Spiegel (Deutschland), 09.02.2004

Henryk M. Broder hat sich beim Rowohlt Verlag umgehört, um zu erfahren, warum Thor Kunkels neues Buch "Endstufe" dort abgelehnt wurde: Kunkel ist "ein 'Rasender', einerseits 'völlig ahnungslos', andererseits 'sehr von sich angetan - die Wiedergeburt Parzifals als rechter Schläger'", zitiert Broder den Rowohlt-Verlagsleiter Alexander Fest.

Thor Kunkel hat inzwischen per Mail einen Offenen Brief veröffentlicht, in dem er Broder vorwirft, dieser habe "unautorisierte Textpassagen aus längst verworfenen Manuskriptstadien zitiert". Auch Alexander Fest beziehe sich auf eine "von mir Mitte 2002 geschriebene Rahmenhandlung von 'Endstufe' - die Geschichte einer abwegigen Recherche, also Prosa in Reinkultur". Kunkel "verurteilt die Greuel des Nazi-Regimes, so wie jeder halbwegs vernunfbegabte Mitmensch". Er habe beim Schreiben "bewusst auf alle hinlänglich bekannten Klischees des 'Genres' verzichtet, um endlich - ENDLICH - die subtilere Form des Bösen hinter dem braunen Kolorit sichtbar zu machen".

Jack Nicholson
kennt, in einem Interview mit Urs Jenny und Martin Wolf, den Unterschied zwischen den USA und Europa: "Amerikaner mögen es, wenn Filme sexy sind; Europäer bevorzugen Filme mit Sex." Und dass die Amerikaner eine Obesssion für "nackte Tatsachen" hätten, während "so etwas" in Europa "kaum registriert" würde, mag er dann auch nicht so einfach bestätigen: "Falls die deutschen Zuschauer nicht lachen, wenn mein Arsch zu sehen ist, werde ich Ihnen Recht geben."

Alexander Osang hat Norah Jones (mehr hier) in New York getroffen, wenige Stunden bevor ihre neue Platte "Feels Like Home" erschien: "Man denkt an die schöne Frau auf dem Coverfoto, die verträumt mit vollem, offenem Haar an einer warmen Wand entlangläuft, und dann kommt dieses Mädchen, das in einer Videothek in Brooklyn arbeiten könnte, zur Tür herein. Es trägt eine Brille, einen Pferdeschwanz und lächelt. Es ist, als würde man Cinderella rückwärts abspielen." Außerdem online: zwei Artikel zum US-Präsidentschaftswahlkampf (hier und hier).

Im Print: Christoph Heins "Landnahme" wird auch hier als "großartiger Roman" gefeiert. Außerdem: "Ist die dubiose Mossad-Story 'Ich musste auch töten' noch zu retten?" Sowie ein kurzer Beitrag zur Premiere von Rolf Hochhuths Anti-Berater-Stück "McKinsey kommt" und ein kurzes Interview mit dem Zeitungswissenschaftler Horst Röper über Pressefusionen.

Im Titel diesmal: "Der halbierte Kanzler" und die Frage, was folgt.
Archiv: Spiegel

New York Review of Books (USA), 26.02.2004

Die Geschäfte der Bush-Dynastie laufen wie geschmiert: Die Regierung vergibt einen Irak-Auftrag an Dick Cheneys Halliburton-Konzern, der schließt Verträge mit saudischen Firmen, die wiederum enge Beziehungen zur Familie Bush unterhalten. Und so geht das seit Jahrzehnten, stöhnt New York Times-Kolumnist Paul Krugman: "Seit vier Generationen gedeiht die Familie Bush, indem sie ihre politischen Beziehungen ausnutzt, um in ihren Geschäften voranzukommen. Und genau so nutzt sie ihre Geschäftskontakte aus, um in der Politik voranzukommen... Die Bush-Dynastie unterscheidet sich von anderen amerikanischen Familien, die Reichtum mit politischer Prominenz verbindet. Während die Kennedys und die Rockefellers große Ansprüche stellten, bewiesen sie immer auch einen Sinn von noblesse oblige. Die Bushs haben dieses Problem nicht. Es gibt keine Philanthropen oder Reformer in diesem Clan. Sie suchen das öffentliche Amt, doch wenn überhaupt etwas, dann glauben sie, dass die Öffentlichkeit da ist, um ihnen zu dienen." Die Details zu den Familiengeschäften lassen sich in Kevin Philipps "American Dynasty: Aristocracy, Fortune, and the Politics of Deceit in the House of Bush" nachlesen.

Michael Massing fragt, warum die amerikanischen Medien eigentlich erst jetzt über Bushs fadenscheinige Kriegsgründe berichten. "Warum haben wir nichts über die Betrügereien und Verschleierungen in den Monaten erfahren, als die Regierung in den Krieg drängte - als es also noch einen Unterschied gemacht hätte. Schon im Sommer 2002 lag die Geheimdienst-Community in einem bitteren Streit über die Art, wie Regierungsmitglieder mit den Daten über den Irak umgingen. Viele Journalisten wussten Bescheid, aber nur wenige haben sich entschieden, darüber auch zu schreiben."

H. Allen Orr feiert Richard Dawkins außergewöhnliche, schöne und geistreiche Reflexionen über Hoffnung, Lügen, Wissenschaft und Liebe, Henry Siegman diskutiert den israelischen Grenzzaun, Roger Shattuck widmet sich Leben und Werk von Helen Keller und Joan Acocella hat schon Robert Altmans neuen Film "The Company" gesehen.


Nouvel Observateur (Frankreich), 05.02.2004

Viele Interviews in dieser Ausgabe. Als "Bekenntnisse einer Eigensinnigen" präsentiert der Nouvel Obs ein Gespräch mit der amerikanischen Schriftstellerin Joyce Carol Oates (mehr) über Klassenkampf, Frauenbewegung und Politik. Eingangs erklärt sie, was sie ihren Studenten in Princeton als erstes vermittelt: die "Liebe zum Text, seine Einzigartigkeiten, die es dem Autor gestatten, seiner persönlichen Vision Form und Struktur zu geben. Was unsere Aufmerksamkeit erregt, ist ja nicht 'die Geschichte' - jeder kennt Geschichten -, sondern die Art, wie sie erzählt wird. Erzählen ist ein natürlicher Instinkt des Menschen."

Um Geheimdienste, Spionage und Bin Laden geht es dagegen im Gespräch mit Frederick Forsyth (mehr). Er glaubt, dass man Bin Laden bisher nur deshalb nicht gefasst habe, weil dieser auf jedwede Kommunikation verzichte, und "wenn ein Terrorist nicht telefoniert, ist er nur sehr schwer zu lokalisieren". Er vermutet ihn in einem Versteck "irgendwo zwischen Pakistan und Afghanistan. Aber das kann man wohl kaum Leben nennen. Früher hatte er Trainingscamps, Quartiere, Laboratorien, unterirdische Waffenlager. (...) Jetzt hat er nichts mehr, außer der Macht des Antriebs. Als man Saddam schließlich fand, dieses Monster mit 50 Palästen, was besaß er da noch? Eine Schale Reis, ein halb aufgegessenes Hühnchen und ein Erdloch ..."

Der italienische Regisseur Marco Bellocchio (mehr) schließlich spricht über seinen Film "Buongiorno, notte", der die Geschichte der Entführung und Ermordung von Aldo Moro durch die Roten Brigaden 1978 erzählt, und in Italien für Furore gesorgt hat. "Ich habe geglaubt, 25 Jahre seien ausreichend, um diese Affäre in Ruhe und mit Abstand betrachten zu können. Ich habe mich getäuscht."

Besprochen werden unter anderem eine Biografie über Pius XII, ein Buch über 218 französische Soldaten, die 1940 aus deutscher Kriegsgefangenschaft in die Sowjetunion geflohen waren und schließlich doch wieder bei den Deutschen landeten, und Pierre Bourdieus (mehr) erst jetzt in Frankreich erscheinendes letztes Buch "Ein soziologischer Selbstversuch", in dem er sich selbst zum Objekt einer soziologischen Analyse macht.

Clarin (Argentinien), 07.02.2004

Am Donnerstag ist der 200. Todestag Immanuel Kants - und immerhin auch schon der 20. Julio Cortazars, des "Argentiniers, den alle liebten" (Gabriel Garcia Marquez). Beider gedenkt die aktuelle Ausgabe von N, der Kulturbeilage der argentinischen Tageszeitung Clarin - Kants nur in der Printausgabe, zu Julio Cortazar dagegen, der den Argentiniern verständlicherweise dann doch etwas näher steht, gibt es ein regelrechtes Dossier, mit Links unter anderem zur Veranstaltungsseite des "Ano Internacional Julio Cortazar 2004".

Außerdem in der aktuellen N: ein Interview mit Jorge Semprun, der im vergangenen Jahr zum ersten Mal einen auf Spanisch (statt Französisch) geschriebenen Roman veröffentlichte, "20 anos y un dia", der jetzt auch in Argentinien erscheint. Wie immer verarbeitet Semprun darin jede Menge autobiografisches Material, diesesmal (erneut) seine Erlebnisse als kommunistischer Untergrundaktivist im Spanien der fünfziger Jahre: "In meinem Leben stecken viele Romane. Mir ist so viel zugestoßen - es ist wirklich schwer, nicht darauf zurückzugreifen."
Archiv: Clarin

Radar (Argentinien), 08.02.2004

Auch Radar, die Kulturbeilage der argentinischen Tageszeitung Pagina 12, widmet ihre aktuelle Ausgabe dem 20. Todestag Julio Cortazars, unter anderem mit Auszügen aus Texten über Cortazar von Carlos Monsivais, Jose Lezama Lima und Alejandra Pizarnik sowie mit einem Interview, das Rodrigo Fresan mit Francisco Porrua geführt hat, dem legendären Verleger von Julio Cortazars Roman "Rayuela" und von Gabriel Garcia Marquez' "Hundert Jahre Einsamkeit". Porrua und Cortazar waren viele Jahre lang eng befreundet, aus dieser Zeit erinnert Porrua so schöne Szenen wie diese: "Cortazar konnte sehr ruhig und schweigsam sein, und dann überkamen ihn unversehens die heftigsten Gefühlsanwandlungen. Einmal unterhielten wir uns gerade über irgendetwas, da trat einer dieser seltsamen Momente völligen Schweigens ein, das Cortazar schließlich unterbrach, indem er sagte: ?Alles, was nicht gesagt worden ist, ist für immer gesagt worden.' Dann stand er auf, kam zu mir und umarmte mich."

Erinnert sei an dieser Stelle außerdem an das Projekt "Rayuel-o-matic", bei dem Cortazar-Fans und wer immer sich dazu berufen fühlt den Roman "Rayuela" als Hypertext im Internet nachbauen. (Perlentaucher - bzw. die Zeitschrift Cambio - berichtete.)
Archiv: Radar

New York Times (USA), 08.02.2004

Lisa Zeidner empfiehlt uns wärmstens, doch Debra Weinsteins "köstlich gemeinen" Erstlingsroman "Apprentice to the Flower Poet Z" (erstes Kapitel) zu lesen. Eine Literaturstudentin ist ihrer Professorin und Lieblingsdichterin restlos verfallen, bis sie merkt, dass sie einer kaltblütigen Betrügerin aufgesessen ist. Elizabeth Bovardine ist eine anerkannte Professorin für kreatives Schreiben, bekannt für ihre berührend originellen, leicht feministischen Gedichte. Die Erzählerin hilft Bovardine bei der Recherche und schließlich bei der Erstellung der Stücke. Besonders gut ist das Buch laut Zeidner in der Darstellung der "Heimtücke und des Konkurrenzgehabes" unter ausgewiesen feministischen Lyrikerinnen. Und "Weinstein hat offensichtlich Zeit in Lyrik-Workshops verbracht; ihr Roman fängt sowohl den Kauderwelsch als auch die komische Schwere dieser Veranstaltungen ein."

Weitere Besprechungen: Fareed Zakaria hat David Frums (mehr) und Richard Perles (mehr) neokonservatives Manifest "An End to Evil" (erstes Kapitel) nur wegen der hochkalibrigen Autoren gelesen, und ist auch nach der Lektüre keineswegs überzeugt, dass Amerika die Welt ändern muss. Jonathan Rieder stellt drei neue Bücher über Martin Luther King vor (Bilder vom Propheten der Bürgerrechtsbewegung). Gary Krist bemängelt an Andrew Sean Greers "The Confessions of Max Tivoli" (erstes Kapitel) zwar stilistische Exzesse und andere technische Probleme", empfiehlt es aber wegen der "emotionalen Ehrlichkeit" des Protagonisten trotzdem. Der hat zumindest ein interessantes Problem: Er wird immer jünger.

Das New York Times Magazine liegt mal wieder ganz weit vor und bringt diesmal eine lange Reportage über jugendliche Viren-Schreiber. Clive Thompson hat eine ganze Reihe getroffen (sehen Sie sich mal die Fotos an!). Die meisten leben übrigens in Europa.

Archiv: New York Times