Spätaffäre

Permanente Antizipation

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02.04.2014. Die Scharfschützen, die bei den Majdan-Protesten über hundert Demonstranten getötet haben, gehören dem ukrainischen Geheimdienst SBU an, der engste Beziehungen zu Moskau unterhält, belegt The Daily Beast. Außerdem: Henry Keazor entspinnt das popkulturelle und politische Referenznetz der Simpsons, Dominik Graf schwingt die Luftgitarre und Ari Gold drischt auf sein Luftschlagzeug ein.

Für die Augen

Mit Dominik Grafs Friedrich-Ani-Verfilmung "Kommissar Süden und der Luftgitarrist" aus dem Jahr 2009 bringt 3sat ein echtes Highlight der deutschen Fernsehkrimi-Produktion. Zur Erstausstrahlung 2009 schrieb Ekkehard Knörer bei Cargo einen schönen Text über den Film: "Und das Luftgitarrespielen als symbolisches Handeln ist wirklich ganz toll. Es geht um eine Verausgabung um nichts, um ein Handeln, ein Fühlen, ein Sich-Vergessen im Ersatz. Dabei muss man's schon können, muss aber das Können, wenn's Ernst wird (ganz am Ende, haarscharf und famos an der Grenze zum Exzess: Alexander Scheer), auch wieder vergessen können. Wie hier auf diese Subkultur geschaut wird, ist sehr, sehr schön; wie sie Jeepster sagen und Vagabond." Hier in der Mediathek (90 Min.)

Noch marginaler als die Subkultur der Luftgitarristen ist die der Luftschlagzeuger. Ihr hat Ari Gold in seinem Debütfilm "Adventures of Power" (2008) ein Denkmal gesetzt - wenn er sie nicht sogar erfunden hat. Mit viel Liebe fürs Detail und einem grandiosen 80er-Jahre-Soundtrack erzählt der Film, wie der Außenseiter Power (gespielt vom Regisseur und Autor selbst) mit seinen Luftschlagzeugkünsten einen Bergarbeiterstreik beilegt. Auf Youtube ist dieser hinreißende Indie-Film in englischer Original- (hier) und deutscher Synchronfassung zu finden. (90 Min.)

Archiv: Für die Augen

Für die Ohren

Dass die Simpsons mehr darstellen als nur eine weitere Cartoonserie ist längst bekannt. In seinem für den SWR entstandenen Radiovortrag "Serielle Mythenfabrik" legt der Kunsthistoriker Henry Keazor nun die inhaltliche Komplexität der Serie frei und verortet sie in einem popkulturellen und politischen Referenznetz. Hier in der Mediathek zum Nachhören. (27 Min.)

Rainer Praetorius portärtierte auf NDRKultur in einem Feature den Regisseur Stanley Kubrick "Ein Leben für den Film". Er habe das Kino revolutioniert, seine Werke verschafften ihm einen festen Platz in der "Ruhmeshalle des Films". (53 Min.)
Archiv: Für die Ohren
Stichwörter: Mediatheken, Kubrick, Stanley, SWR

Für Sinn und Verstand

Der 20. Februar war der gewalttätigste Tag in der ukrainischen Geschichte seit dem Mauerfall. Mehr als hundert Demonstranten wurden getötet, die meisten davon offenbar von Scharfschützen, denn sie hatten auffällig präzise Wunden in Kopf- oder Herznähe. Jamie Dettmer bringt in The Daily Beast Belege, dass die Scharfschützen aus einer Eliteeinheit des ukrainischen Geheimdiensts SBU kamen. Er bezieht sich auf Fotomaterial ukrainischer Bürger, das zeigt, wie sich Geheimdienstler in ihrem Hauptquartier versammeln und verkleiden: "Der SBU ist Nachfolger des ukrainischen Zweigs des KGB aus Sowjetzeiten und hat bis heute außerordentlich enge Beziehungen zu Moskau. Lange Zeit 'kamen führende SBU-Beamte vom KGB', sagt Boris Volodarsky, ein früherer russischer Geheimdienstler und Autor des Buchs 'The KGB's Poison Factory'. Nach seinen Angaben hat der heutige russische Geheimdienst über Jahre sichergestellt, dass er in sein ukrainisches Gegenstück einbezogen ist und dass 'Agenten und Ansprechpartner vor Ort bleiben'. Dies war unter der Präsidentschaft des Russland-Freunds Janukowitsch leicht zu bewerkstelligen." Eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle scheint bis heute nicht angestoßen zu sein. Die Übergangsregierung hat den SBU selbst (wenn auch unter neuer Führung) prominent in ihre Ermittlungen einbezogen.

Vor zwei Jahren ging "KONY 2012" online, eine Kurzdokumentation, in der Jason Russell von der Aktivistengruppe Invisible Children seinem fünfjährigen Sohn von ugandischen Kindersoldaten erzählt. Der Clip wurde in wenigen Tagen hundertmillionenfach gesehen und avancierte zum viralsten Video aller Zeiten (mehr hier). Es folgten ein Shitstorm und ein Nervenzusammenbruch, danach wurde es still um Invisible Children. Doch der Rebellenführer Joseph Kony ist noch immer auf freiem Fuß, und Invisible Children arbeitet noch immer daran, das zu ändern, berichtet Jessica Testa in einer ausführlichen Reportage in Buzzfeed: "Die zehn Jahre, die sie sich mit ausgestelltem Idealismus diesem Thema gewidmet haben, haben bei den Mitarbeitern einen Zustand permanenter Antizipation hervorgerufen. Sie glauben fest daran, dass Kony jeden Tag irgendwo gesichtet werden könnte. Zu dieser Erwartung gesellt sich die noch stärkere Hoffnung auf Rehabilitation. 'Es wäre großartig. Die Leute würden zu uns zurückkommen und sagen: Ich habe euch von Anfang an unterstützt. Ich wollte auch, dass Kony geschnappt wird', sagt Russell. 'Wir sind uns absolut bewusst, dass wir diesen Sieg brauchen, und dass die Zukunft von Invisible Children und das Ziel unserer Arbeit vollkommen davon abhängen, dass wir wissen, dass dieser Sieg unmittelbar bevorsteht. Ich glaube nicht, dass wir das Narrativ sonst noch sehr viel länger aufrechterhalten können.'" Womöglich ist das Ziel tatsächlich in Reichweite: wie die Washington Post meldet, hat Barack Obama gerade 150 Soldaten mit Spezialflugzeugen zur Suche nach Kony abkommenadiert.