Vorgeblättert

Leseprobe zu Navid Kermani: Kurzmitteilung. Teil 3

08.02.2007.
Ich kannte zwei, die der Tod ihrer einzigen Tochter zugrunde zu richten schien. Es dauerte Jahre, bis sie sich wieder zurechtfanden. Jetzt leben sie fröhlich wie eh und haben zwei neue Kinder. Bestimmt haben sie die Tochter nicht vergessen. Aber der Schmerz muß abgeklungen sein zu einem gelegentlichen Stechen im Brustkorb, wenn überhaupt. Bestimmt gibt es Menschen, die am Tod ihres Nächsten zugrunde gehen. Wenn ich ein Kind hätte, das mißhandelt und ermordet würde - kann schon sein, daß ich traumatisiert wäre bis zum Ende. So etwas gibt es, man liest davon und hört es. Allein, so schrecklich es ist, es ist nicht normal. Normal ist Maike Anfang. Normal war, daß ich weiter meine Pasta mit Meeresfrüchten aß. Normal war der Skandal. Außer Korinna kannte ich niemanden, den ich nach den Umständen ihres Todes hätte fragen können. In der Vorbereitung meiner Präsentation hatte ich noch mit einigen anderen Mitarbeitern des Konzerns gesprochen, von zweien hatte ich die Nummern in meinem Handy gespeichert, doch war keine darunter, die ich um die Uhrzeit hätte wählen können, noch dazu wegen etwas Privatem. Ich hatte auch keine Ahnung, ob sie mit Maike Anfang überhaupt zu tun hatten. Der Hafen machte sich wieder in meinem Bewußtsein breit, mein Essen, die Menschen auf der Promenade, die Bücher, in denen ich heute gelesen, die Besorgungen, die ich morgen zu machen hatte. Drei Tische weiter bemerkte ich eine Frau, mit der ich ohne Zögern den Rest des Sommers verbracht hätte, wäre sie jetzt aufgestanden und hätte mich gefragt. Nun gut, das sagt sich leicht, es ist mir ohnedies nie geschehen, daß eine schöne Frau an meinen Tisch tritt und mich auffordert, mit ihr davonzugehen. Dennoch, ich wüßte - ich ginge sofort. So bleibe ich eben sitzen. Ich dachte an Natascha, meine letzte Freundin. Ich fand sie alles andere als vollkommen, aber vielleicht hätte ich mich damit zufriedengeben sollen, um endlich ein paar Kinder in die Welt zu setzen. Etwas anderes bleibt am Ende ohnehin nicht. Sex und die gemeinsame Sorge um die Kleinen hätten schon genügt, um als Liebe durchzugehen. Natascha ist Iranerin, ein Umstand, der für mich in den letzten Jahren wichtiger geworden ist, ohne daß ich verstanden habe, warum; vielleicht weil es ein Umstand ist, durch den ich mich von anderen unterscheide. So viele Unterschiede habe ich nicht zu bieten, wenn ich in Cadaques selbst mit meinen außergewöhnlichen Veranstaltungen nur zum Standard gehöre. In Cadaques gab es ein, zwei Frauen, die mich diesen Sommer interessierten, ohne daß sie als Mütter meiner Kinder in Frage gekommen wären. Wenn sie ihren Urlaub allein oder mit ihren Freundinnen verbringen, sind die Frauen in der Regel offen. Das Problem ist nur, daß sich der Altersdurchschnitt in den letzten Jahren nach oben verschoben hat und die meisten mit ihrem Mann oder Freund anreisen. Die vielen Kinder hat es nicht gegeben, als ich das erste Mal hierher kam, nach dem Abitur mit Rucksack und Bettina. Es muß an den Kindern liegen, die sich in Cadaques von Jahr zu Jahr vermehren, daß ich keine Frau mehr kennenlerne, ohne mir auszumalen, wie sie als Mutter wäre. Natascha konnte ich mir als Mutter vorstellen, als Mutter besser denn als Geliebte. Offenbar hatte mich der Schöpfungstrieb, der sich unter meinen Altersgenossen ausbreitete, noch nicht selbst ganz unterworfen. Wird sich ändern, dachte ich, als ich den Schnaps bestellte und dabei den Mann registrierte, der sich drei Tische weiter neben die Frau gesetzt hatte, wird sich alles ändern.


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Als Korinna mich endlich anrief, saß ich schon im Zug nach Montpellier. Der Empfang kam und ging. Es ist schwer, Mitgefühl zu äußern, wenn die Verbindung alle dreißig oder sechzig Sekunden unterbrochen wird und man Minuten braucht, um sie zurückzuholen. Selbst wenn wir miteinander sprachen, hörte ich die Hälfte der Zeit nichts. Ich gab mein Bestes. Immerhin war es mir egal, in den Hörer zu schreien wie jene Proleten im Anzug, die sich auf Bahnfahrten der Verachtung andienen. Es geht um einen Trauerfall, dachte ich, mesdames et messieurs, das werden Sie doch wohl hören, auch wenn Sie kein Deutsch verstehen. Ich verstand so viel, daß Maike vorgestern in ihrer Wohnung gefunden worden und wohl tatsächlich einen natürlichen Tod gestorben war. Ich fand das tröstlich, nur um mich im selben Augenblick zu fragen, was daran tröstlich sei. Zum Glück sagte ich Korinna nichts von meiner Erwägung, sondern beließ es dabei, Seufzer des Kalibers au Mann, au Scheiße oder o je zu brüllen. Ich fasse es nicht, ich fasse es einfach nicht, war der längste Satz, den ich zwischen zwei Funklöchern unterbrachte. Wir verständigten uns darauf, daß ich sie anriefe, sobald der Empfang stabil sei. Ich drückte auf den roten Knopf und fing an, mich vor der Strecke zu fürchten, in der mein Telefon wieder funktionierte. Ich bemerkte, daß mir das Vokabular fehlte, um ein angemessenes Gespräch mit Korinna zu führen, und froh war, mich dank des schlechten Empfangs ohnehin nicht artikuliert haben zu können. Ich war froh darüber, entschuldigt zu sein für die Worte, die ich nicht gefunden hatte. Seit ihrer SMS hatte ich versäumt, mir zu überlegen, was ich Korinna hätte sagen können, um sie zu trösten oder ihr mein Mitgefühl zu bekunden. Statt dessen hatte ich mir die Fragen zurechtgelegt, die ich ihr stellen wollte, sobald sie anrief. Jetzt ging mir auf, daß ich Korinna zwar nach den Umständen des Todes befragen, sie aber viel eher von mir erwarten durfte, die Stille nach ihren Antworten zu überbrücken. Maike Anfang war ihre Kollegin und Freundin gewesen, nicht meine. Und irgend etwas war mit der Tür, Maike Anfangs Wohnungstür. Ich meinte verstanden zu haben, daß Korinna die Tür geöffnet hatte. Als erste? Wann? Genau das sind die Momente, in denen religiöse Menschen einen Vorteil haben, dachte ich, Menschen, denen eine Tradition zur Hand reicht, was sie jemandem in der Lage Korinnas sagen, was jemand in der Lage Korinnas tun, welche Worte sie beten könnten. Ich griff zur Fatiha wie zu einem Stück Holz, das zu klein ist, um mich über Wasser zu halten. Ich begann, die Gründe dafür zu entflechten, warum ich nach Köln fuhr. Der gestrige Abend war ohne besondere Vorkommnisse oder Einsichten zu Ende gegangen: Ich schlenderte nach Hause, nahm mir ein Beck's aus dem Kühlschrank, rief meine E-Mails ab, las die Besucherstatistik meiner Website und auf netzzeitung.de die Schlagzeilen des Tages, die von den Terroranschlägen in London beherrscht waren, klickte mich von der Spiegel-Meldung vier oder fünf Seiten weiter, schaltete den Computer aus und schlief unter den Fahnen eines Buches ein, das im Herbst erscheinen sollte. Es war das Buch eines Bekannten, Josef, seine erste Veröffentlichung in einem Publikumsverlag, die Geschichte zweier Jugendlicher im Saarland. Daß ich es zwar gut geschrieben, aber allzu konventionell und ohne existentiellen Ernst fand, beruhigte mich, zugegeben. Ich habe kein Problem damit, wirkliche Größe anzuerkennen und ohne ironische Brechung zu rühmen, sofern sie einer älteren Generation oder einem anderen Land zugehört. Wenn hingegen ein Deutscher in meinem Alter etwas Bleibendes schafft, versetzt mir das jedesmal einen Stich. Nicht, daß der Neid mir sympathisch wäre - nur halte ich nichts davon, mich selbst zu belügen. Gewiß, an Maike Anfang hatte ich noch oft gedacht, unsere beiden Begegnungen, die Umstände ihres Todes, wo sie jetzt wohl lag, wer die Hinterbliebenen sein mochten, ob sie verheiratet gewesen war, was man so denkt. Als ich um 23:48 Uhr die Nachttischlampe ausschaltete, überlegte ich mir, ob ich zur Beerdigung gehen würde, wenn ich in Köln wäre, und erwog bereits, eigens aus Cadaques anzureisen. Letzteres erschien mir übertrieben, schließlich kannte ich sie kaum, wie ich mir ein ums andere Mal in Erinnerung rief. Ausradiert - das Wort war mir gestern abend ständig durch den Kopf gegangen: Wenn ich morgen fortfahre mit meinem Leben, habe ich sie nach ein paar Tagen ausradiert. Bei Korinna wird es Wochen dauern, höchstens Monate. Wenn Maike Anfang Familie hatte, blieben ihre Konturen noch länger erhalten. Allerdings erschien es unwahrscheinlich, daß sie Mann und Kinder hinterließ. An ihrer Seite sah ich nicht einmal einen Freund. Ich bilde mir ein zu erkennen, ob eine Frau gebunden ist oder nicht. Wer mochten die Eltern sein oder, wenn sie welche hatte, die Geschwister? Wenn es keine Lebensgefährten oder nahen Verwandten gibt, geht's schmerzlos mit dem Verschwinden. Niemanden bekümmert es. Niemand schaut zu. Niemand hält es auf. Im besten Tod bleibt ein Denkmal, eine Brücke, eine Stiftung, im Normalfall Gatte, Kinder, Enkel, im schlimmsten kein Gedenken. Zum feierlichen Begräbnis sollte es bei Maike Anfang reichen; wenn niemand anderer, würde Korinna dafür sorgen. Ob es zu einer Todesanzeige reichen würde? Bestimmt, schließlich hatte sie bei Ford gearbeitet, einem Weltkonzern. Ab welcher Gehaltsstufe schaltet Ford eine Anzeige? Ich konnte mir nicht vorstellen, daß der Tod eines jeden Arbeiters oder Lehrlings annonciert würde. Auf welcher Stufe der Trauer stand Maike Anfang? Auf welcher immer, Korinna würde für die Anzeige sorgen. Sie ist eine, die sich kümmert, auf die sich Freunde, Mitarbeiter, Mitmenschen verlassen können. Ich war dankbar, daß es Korinna gab. Sie würde den Ausputzer spielen, wenn Maike Anfang schnurstracks ins Vergessen bugsiert werden sollte. Vor der Morgendämmerung wachte ich auf und schaltete die Leselampe an: 3:23 Uhr. Vergeblich versuchte ich, dem Traum, aus dem ich geschreckt sein mochte, auf die Spur zu kommen. Nach ein paar Minuten fiel mir Maike Anfang ein. Ich griff nach dem Handy, das neben dem Bett lag. Ich hatte keine SMS erhalten, keinen Anruf überhört. Eine halbe oder volle Stunde lang versuchte ich, wieder einzuschlafen. Mit einem Glas Milch setzte ich mich an den Computer. Ich schaffte es nicht weiter als bis zur Anrede Korinnas. Die E-Mail klickte ich ungespeichert weg. Sie würde mich schon anrufen, sobald es ginge. Sie würde wissen, daß sie mich auch jetzt anrufen konnte, ich hatte es ihr auf den Anrufbeantworter gesprochen, ich hatte gesagt, ruf mich bitte an, sobald du sprechen willst und kannst, jederzeit, morgens, nachts, immer, hörst du?, ausdrücklich hatte ich das gesagt. Ich wollte mich nicht weiter aufdrängen. Ich wollte nur wissen, was mit Maike Anfang war. Ich nannte sie im Kopf durchweg Maike Anfang, niemals nur Maike, auch nicht Frau Anfang. Korinna hatte sie mir so vorgestellt, Maike Anfang. Beim Abschied vor den Taxis hatte ich sie Frau Anfang genannt, aber in der Betonung schon mit vorsichtiger Ironie. Beim nächsten Wein oder den ersten Mails wären wir sicher zu den Vornamen übergegangen, allenfalls daß wir beim Sie geblieben wären. In den iranischen Behörden hat sich nach der Revolution die umgekehrte Anrede durchgesetzt, Nachname mit du. Das ist mir noch unangenehmer. Meine Eltern sieze ich bis heute. Maike Anfang hätte ich bestimmt bald geduzt. Nun war sie - das Wort stand an Start und Ziel der Laufbahn, auf der meine Gedanken kreisten ? ausradiert. Ich trank ein weiteres Glas Milch und begann, meine Sachen zu packen. Ich konzentrierte mich darauf, keine wichtigen Unterlagen oder Dateien für meine Arbeit zu vergessen. In der darauffolgenden Woche mußte ich ein Konzept für ein Festival orientalischer Kulturen in Baden-Württemberg vorlegen. Ich konnte es genausogut in Köln schreiben. Nur die Bücher, die ich eigens dafür nach Cadaques mitgenommen hatte, vor allem aktuelle Literatur, dazu Sachbücher, CDs und Filme, mußte ich wieder in meinen Rimova packen, zusammen zehn oder zwölf Kilogramm, wenn nicht mehr. Ich wollte wissen, was mit Maike Anfang war. Es sollte einen Unterschied machen, daß wir uns kennengelernt hatten. Ich dachte, wenn die Möglichkeit eins zu hundert sei, daß ich gebraucht würde, daß Korinna mich bräuchte, daß ich etwas tun könnte für die Tote, müsse ich jetzt fahren. Immerhin kannte ich mich aus mit Feiern. Vielleicht konnte ich Korinna helfen, eine Abschiedsstunde für Maike Anfang zu konzipieren, gewiß nichts Pompöses, aber mit Würde. Der Zug von Portbou fuhr um 8:21 Uhr. So närrisch ich mir vorkam, war mir die Abreise doch ganz logisch erschienen. Wenn ich nicht führe, würde ich mich hinterher auf jeden Fall ärgern, weil ich immer dächte, etwas versäumt zu haben. Wenn ich hingegen führe, würde ich mich nur vielleicht ärgern, außerdem in überschaubarem Maße. Schlimmstenfalls kehrte ich nach zwei Tagen zurück, 500 Euro, im Zug könnte ich lesen. Um halb acht mußte ich im Taxi sitzen, um ihn zu erreichen. Ich hatte noch fast drei Stunden Zeit. Ich schrieb Stefanie eine Mail, daß ich heute schon nach Köln käme. Stefanie ist meine Sekretärin.

Mit freundlicher Genehmigung des Ammann Verlages
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