Vorgeblättert

Leseprobe zu Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit. Teil 1

13.09.2010.

(S. 41-44)


Drei Kinder und eine Flöte: Eine Erläuterung


Der Kern des speziellen Problems, wie eine einzige unparteiische Bestimmung der vollkommen gerechten Gesellschaft erreicht wird, ist die Frage, ob sich vielfältige und konkurrierende Begründungen für Gerechtigkeit aufrecht erhalten lassen, die sämtlich Ansprüche auf Unparteilichkeit haben und trotzdem voneinander verschieden sind - und einander widerstreiten. Ich möchte das Problem an einem Beispiel erläutern: Stellen Sie sich vor, Sie müssten entscheiden, welches der drei Kinder Anne, Bob und Carla die Flöte haben soll, um die sie sich streiten. Anne verlangt das Instrument für sich, da sie als Einzige von den Dreien Flöte spielen könne (die anderen bestreiten dies nicht) und da es ungerecht wäre, die Flöte dem einzigen Kind zu verweigern, das tatsächlich auf ihr spielen kann. Wenn das alles ist, was Sie wissen, hätten Sie gute Gründe, dem ersten Kind die Flöte zu geben.
     In einem alternativen Szenario meldet sich Bob und verteidigt seinen Anspruch auf die Flöte mit dem Hinweis, er als Einziger von den Dreien sei so arm, dass er keine eigenen Spielzeuge besitze. Bekäme er die Flöte, hätte er etwas zum Spielen (die beiden anderen räumen ein, dass sie reicher und wohlversehen sind mit hübschen Dingen zum Zeitvertreib).Wenn Sie nur Bob und keins der beiden anderen Kinder gehört hätten, würde Sie sein Argument überzeugen.
     In einem zweiten alternativen Szenario kommt Clara zu Wort und erklärt, dass sie viele Monate lang fleißig gearbeitet hat, um die Flöte selbst zu bauen (die anderen bestätigen dies), und als sie gerade mit der Arbeit fertig gewesen sei, "genau in dem Moment", klagt sie, "sind diese Ausbeuter gekommen und wollten mir die Flöte wegnehmen." Wenn Sie nur Claras Erklärung gehört hätten, wären Sie vielleicht geneigt, ihren verständlichen Anspruch auf etwas, das sie selbst gemacht hat, anzuerkennen und ihr die Flöte zu geben.
     Da Sie aber alle drei Kinder und ihre unterschiedlichen Argumente gehört haben, müssen Sie eine schwierige Entscheidung treffen. Theoretiker unterschiedlicher Denkrichtungen, etwa Utilitaristen oder Verfechter eines ökonomischen Egalitarismus oder nüchterne Libertäre, könnten jeder für sich der Ansicht sein, dass es eine eindeutige Lösung gibt und dass sie auf der Hand liegt, also mühelos zu finden ist. Aber fast mit Sicherheit würden sie jeweils völlig verschiedene Lösungen für offensichtlich richtig halten.
     Bob, das ärmste Kind, würde am ehesten ziemlich uneingeschränkte Unterstützung vom ökonomischen Egalitarier erhalten, wenn dieser sich verpflichtet fühlt, Lücken in den ökonomischen Mitteln der Menschen zu schließen. Andererseits würde Carla, die Flötenbauerin, sofort den Libertären für sich gewinnen. Der hedonistische Utilitarist hätte vielleicht die schwierigste Aufgabe, würde aber mit Sicherheit der Tatsache, dass Annes Vergnügen wahrscheinlich größer ist als das der anderen, weil nur sie Flöte spielen kann, mehr Gewicht geben als der Libertäre oder der Egalitarier (dazu kommt der Leitspruch: "waste not - want not" [kein Vergeuden - kein Mangel]). Trotzdem müsste der Egalitarier auch anerkennen, dass Bob, der größeren Mangel leidet als die anderen, durch die Flöte einen quantitativ höheren Zuwachs an Glück erfahren könnte.
     Carlas "Recht", zu erhalten, was sie hergestellt hat, mag dem Utilitaristen nicht unmittelbar einleuchten, aber gründlichere utilitaristische Reflexionen würden wohl berücksichtigen, dass man Anreize zur Arbeit braucht, wenn man eine Gesellschaft aufbauen will, in der die Schaffung von Nutzen dadurch gefördert und ermutigt wird, dass man Menschen behalten lässt, was sie mit eigener Anstrengung gefertigt haben.
     Der Libertäre wird Clara die Flöte zusprechen und seine Unterstützung anders als der Utilitarist nicht an die Bedingung knüpfen, dass damit ein Arbeitsanreiz geschaffen wird, sondern unmittelbar begründen mit dem Eigentumsrecht einer Person auf das, was sie selbst produziert hat. Die Idee des Rechtes auf die Früchte eigener Arbeit kann Libertäre vom rechten und Marxisten vom linken Flügel vereinen (ganz gleich, wie wenig wohl sich die einen in der Gesellschaft der anderen fühlen mögen). Allgemein gesagt, ist es nicht leicht, auch nur einen der Ansprüche, die entweder mit dem Streben nach einem erfüllten Leben oder der Beseitigung von Armut oder dem Recht, die Produkte eigener Arbeit zu genießen, begründet sind, beiseite zu schieben. Für sämtliche unterschiedlichen Lösungen sprechen gewichtige Argumente, und wir können möglicherweise keines der alternativen Argumente ohne eine gewisse Willkür über die anderen stellen.
     Ich möchte hier die Aufmerksamkeit auch auf die einigermaßen offensichtliche Tatsache lenken, dass die Rechtfertigungsargumente der drei Kinder sich nicht in der Einschätzung dessen, was ein individueller Vorteil ist, unterscheiden (alle drei Kinder halten es für einen Vorteil, die Flöte zu besitzen und gründen ihre Argumente darauf), sondern deshalb verschieden sind, weil sie ganz generell unterschiedliche Grundprinzipien für die Allokation von Ressourcen vertreten. In diesen Grundsätzen geht es darum, wie soziale Regelungen getroffen, welche sozialen Institutionen gewählt werden sollen und welche sozialen Verwirklichungen auf diesem Weg zustande kommen würden. Es geht nicht einfach darum, dass die erworbenen Ansprüche der drei Kinder sich unterscheiden (obwohl sie natürlich unterschiedlich sind), sondern darum, dass jedes der drei Argumente auf einen anderen Typ unparteiischer und nicht-willkürlicher Begründung verweist.
     Das gilt nicht nur für die Fairness im von Rawls so genannten Urzustand, sondern auch für andere Gebote der Unparteilichkeit, zum Beispiel Thomas Scanlons Forderung, dass unsere Grundsätze dem gerecht werden, "was andere nicht mit Vernunft widerlegen können". Wie bereits gesagt, können Theoretiker unterschiedlicher Denkrichtungen, also Utilitaristen, ökonomische Egalitarier, Arbeitsrechtstheoretiker oder nüchterne Libertäre alle der Ansicht sein, dass es eine unkomplizierte gerechte und leicht zu findende Lösung gibt, aber sie würden sich jeder für eine andere offenkundig richtige Lösung einsetzen. Es kann sein, dass es tatsächlich keine erkennbare vollkommen gerechte soziale Regelung gibt, aus der eine unparteiische Einigung hervorginge.



(S. 318-322)


14. GLEICHHEIT UND FREIHEIT


Gleichheit gehörte nicht nur im achtzehnten Jahrhundert zu den vordringlichsten revolutionären Forderungen in Europa und Amerika, auch in der Zeit nach der Aufklärung und bis heute herrscht eine außergewöhnliche Einigkeit über ihre Bedeutung. In einem früheren Buch, Inequality Reexamined, habe ich darauf hingewiesen, dass offenbar alle anerkannten und befürworteten normativen Theorien sozialer Gerechtigkeit die Gleichheit von etwas fordern, von etwas, das in der jeweiligen Theorie als besonders wichtig gilt. Die Theorien können vollkommen verschieden sein (sich zum Beispiel auf gleiche Freiheit oder gleiches Einkommen oder Gleichbehandlung der Rechte oder des Nutzens aller konzentrieren), und womöglich miteinander konkurrieren, aber trotzdem verlangen sie alle die Gleichheit von etwas (Gleichheit in einem Bereich, der für den jeweiligen Ansatz besonders wichtig ist).
     Dass Gleichheit in den Beiträgen der politischen Philosophen, die man als "egalitär" oder im amerikanischen Wortgebrauch als "liberal" bezeichnet, zum Beispiel John Rawls, James Meade, Ronald Dworkin, Thomas Nagel oder Thomas Scanlon, eine herausragende Rolle spielt, ist nicht überraschend. Bemerkenswerter ist vielleicht, dass auch solche Theoretiker eine elementare Form von Gleichheit fordern, denen man gewöhnlich nachsagt, sie würden das Recht auf Gleichheit bestreiten und die These von der zentralen Bedeutung der "Verteilungsgerechtigkeit" skeptisch betrachten. Robert Nozick etwa mag wenig Neigung gehabt haben, sich für Nutzengleichheit einzusetzen (im Gegensatz zu James Meade) oder gleiche Verfügung über Grundgüter (im Gegensatz zu John Rawls) zu befürworten, und trotzdem verlangt er die Gleichheit von Freiheitsrechten - dass kein Mensch mehr Recht auf Freiheit haben sollte als andere. James Buchanan, der Wegbereiter der "Public-Choice-Theorie", die Theorie staatlicher Entscheidungsprozesse, die in gewisser Weise eine konservative Konkurrentin der Theorie kollektiver Entscheidungen ist, scheint die Gleichheitsforderung sehr skeptisch zu betrachten, nimmt aber rechtliche und politische Gleichbehandlung (und gleiche Achtung für Einwände, die irgendwer gegen geplante Veränderungen vorbringt) in sein Verständnis von einer guten Gesellschaft auf. In jeder Theorie wird Gleichheit in irgendeinem (jeweils durch personenbezogene Variablen festgelegten) "Bereich" angestrebt, der in der entsprechenden Theorie eine zentrale Rolle spielt.
     Gilt diese Generalisierung auch für den Utilitarismus? Eine solche Vermutung würde schnell zurückgewiesen werden, da Utilitaristen im Allgemeinen nicht wollen, dass verschiedene Menschen den gleichen Nutzen genießen, sondern nur die Maximierung des Gesamtnutzens ohne Rücksicht auf die Verteilung im Blick haben - keine besonders egalitäre Einstellung. Und doch suchen auch die Utilitaristen eine Gleichheit, nämlich die Gleichbehandlung aller Menschen insofern, als Nutzengewinne und Nutzeneinbußen für alle Menschen ohne Ausnahme gleiche Bedeutung haben sollen. Indem Utilitaristen darauf bestehen, dass Nutzengewinn für alle gleich wichtig ist, machen sie sich eine besondere Art egalitären Denkens zu eigen. Gerade dieser egalitäre Zug steht in Zusammenhang mit dem Grundsatz des Utilitarismus, "den gleichen Ansprüchen aller Parteien gleiches Gewicht zu geben" (um Richard Hare, einen bedeutenden Utilitaristen unserer Zeit, zu zitieren), und mit der Individuen utilitaristischen Forderung, "den Interessen aller immer gleiches Gewicht zu geben" (wie John Harsanyi, ein anderer zeitgenössischer utilitaristischer Vordenker, sagt).
     Wie viel Signifikanz hat die formale Ähnlichkeit, dass alle diese verschiedenen normativen Theorien in einem Bereich, den sie jeweils für sehr wichtig halten, Gleichheit wollen? Es ist verlockend, dies für einen bloßen Zufall zu halten, da die Ähnlichkeiten rein formal sind und nichts mit der Substanz der "Gleichheit wovon?" zu tun haben. Dass man aber eine egalitäre Formel braucht, um eine Theorie verteidigen zu können, zeigt, welche Aussagekraft der Nicht-Diskriminierung zugeschrieben wird, und das Motiv dafür könnte die Vorstellung sein, dass eine normative Theorie voreingenommen und willkürlich wäre, wenn sie die Bedingung der Nicht-Diskriminierung nicht erfüllen würde. Damit wird offenbar anerkannt, dass eine Theorie ohne Unparteilichkeit in der einen oder anderen Form nicht anwendbar ist. Folgt man Thomas Scanlons Argument, dass Prinzipien gebraucht werden, die kein Beteiligter mit "vernünftigen Gründen" widerlegen kann, dann besteht womöglich eine starke Verbindung zwischen allgemeiner Annehmbarkeit und Nicht-Diskriminierung, die verlangt, dass grundsätzlich Menschen als gleich angesehen werden müssen, dass ihr Einspruch also wichtig genommen werden muss.

Gleichheit, Unparteilichkeit und Substanz


Der Befähigungsansatz, Thema der vorigen Kapitel, stützt sich auf die oben erörterte Auffassung, dass die entscheidende Frage lautet: "Gleichheit wovon?" und dass es nicht darum geht, ob wir überhaupt Gleichheit brauchen, in welchem Bereich auch immer. Damit soll nicht behauptet werden, die zweite Frage sei belanglos. Aber aus der Tatsache, dass so übereinstimmend Gleichheit in dem einen oder anderen Bereich gefordert wird, geht auch nicht hervor, dass diese Annahme richtig ist. Sicherlich kann man die Position vertreten, dass alle derartigen Theorien falsch sind. Was verleiht dem gemeinsamen Merkmal so viel Plausibilität? Das ist eine schwerwiegende Frage, der wir hier kaum gerecht werden können, aber es lohnt sich, darüber nachzudenken, in welcher Richtung wir nach einer möglichen Antwort Ausschau halten müssen.
     Die Forderung, Menschen (unter einem wichtigen Gesichtspunkt) als gleich anzusehen, bezieht sich meiner Meinung nach auf die normativen Bedingungen der Unparteilichkeit und Objektivität. Dies kann natürlich nicht als eine für sich stehende, in sich vollständige Antwort gelten, da auch kritisch geprüft werden muss, ob Argumente zur Rechtfertigung von Unparteilichkeit und Objektivität überzeugend sind (im 5. Kapitel wurden einige Ideen darauf hin betrachtet). Aber eine kritische Überprüfung dieser Art müsste ebenfalls vorgenommen werden, wenn man verstehen will, warum alle die herausragenden Theorien der Gerechtigkeit Menschen auf einer elementaren Ebene (elementar für die betreffende Theorie) irgendwie als gleich behandeln.
     Egalitarier zu sein ist kein auf den ersten Blick "einigendes" Merkmal, wenn man bedenkt, wie viel Uneinigkeit über die Art der Antwort auf die Frage "Gleichheit wovon?" herrscht. Und genau deshalb, weil die Bereiche, für die diverse Autoren Gleichheit empfehlen, so unterschiedlich und so weit voneinander entfernt sind, wird oft übersehen, dass sich ihre sehr divergenten Theorien im egalitären Ansatz grundsätzlich ähneln. Die Ähnlichkeit hat jedoch Bedeutung.
     Zur Erläuterung möchte ich Harry Frankfurts Artikel in der interessanten und wichtigen, von William Letwin herausgegebenen Aufsatzsammlung Against Equality, heranziehen. Frankfurt liefert stichhaltige Argumente gegen "Gleichheit als moralisches Ideal"; er bestreitet die "Doktrin" des ökonomischen Egalitarismus, "es sei wünschenswert, dass jedermann die gleiche Menge Einkommen oder Wohlstand (kurz: 'Geld') besitzt". Wenn er "Gleichheit als moralisches Ideal" ablehnt, verwendet er diesen allgemeinen Begriff hauptsächlich in einer besonderen Bedeutung; er bezieht ihn auf eine bestimmte Version dieses "Egalitarismus", nämlich "die Doktrin, dass es bei der Verteilung von Geld keine Ungleichheiten geben darf." Damit könnten sich seine Argumente gegen die spezifische Forderung richten, es müsse eine allgemein verbindliche Interpretation des ökonomischen Egalitarismus geben: (1) bestreitet er, dass eine derartige Gleichheit für sich genommen von Interesse sei, und (2) zeigt er, dass sie zu einem Verstoß gegen Werte führt, die für sich genommen wichtig sind - Werte, die eng verbunden sind mit der Notwendigkeit, allen Beteiligten auf andere, relevantere Weise Aufmerksamkeit zu widmen. Damit ist die Auswahl des Bereichs für Gleichheit ein entscheidender Schritt in der Entwicklung von Frankfurts gut begründeter These.
     Das alles passt in das allgemeine Muster der Einwände gegen Gleichheit in einem bestimmten Bereich, die damit begründet werden, dass sie gegen die wichtigere Forderung von Gleichheit in einem anderen Bereich verstößt. So gesehen, geht es im Streit über Verteilungsprobleme nicht um die Frage "Warum Gleichheit?", sondern um "Gleichheit wovon?". Da manche Themenschwerpunkte (und die entsprechenden Bereiche, in denen Gleichheit für wichtig gehalten wird) traditionell mit den Gleichheitsforderungen in der politischen, der Sozial- oder Wirtschaftsphilosophie assoziiert werden, ordnet man Gleichheit in deren Themengebieten (zum Beispiel Einkommen, Wohlstand, Nutzen) am ehesten unter dem Oberbegriff "Egalitarismus" ein, während Gleichheiten in anderen Bereichen (zum Beispiel Rechte, Freiheiten oder als gerecht geltende Belohnung von Menschen) wie antiegalitäre Ansprüche wirken. Aber wir dürfen uns nicht zu sehr auf die Konventionen der Charakterisierung verlassen, sondern müssen auch die grundsätzliche Ähnlichkeit zwischen allen diesen Theorien bedenken, die sämtlich für Gleichheit in irgend einem Bereich plädieren und darauf bestehen, dass dieser Gleichheitsbereich Vorrang hat, während sie - ausdrücklich oder implizit - konkurrierende Gleichheitsforderungen auf anderen (in ihren Augen weniger relevanten) Gebieten nicht gelten lassen.


Teil 2