Vorgeblättert

Leseprobe zu Richard Yates: Ruhestörung. Teil 3

22.03.2010.
"Manchmal sind die Leute vom Nachtdienst nachlässig. Wir haben klein, mittel und groß. Ein Mann von Ihrer Statur braucht einen kleinen. Ich kümmere mich drum."
"Ja, tun Sie das, Charlie", sagte Spivack, "und wenn Sie schon dabei sind, kümmern Sie sich auch um Ihren Kumpel Roscoe. Ich möchte, dass der kleine Mistkerl gemeldet wird, ist das klar? Wenn er mir noch mal eine Spritze verpasst, lass ich ihm seine Schwesternzulassung entziehen. Ist das klar?"
"In Ordnung. Versuchen Sie, leiser zu sprechen, Doktor."
"Charlie ist der einzige halbwegs Anständige hier", sagte Spivack, als sie wieder gingen. "Wissen Sie was? Dieses Scheißgebäude wurde im neunzehnten Jahrhundert gebaut und hat sich seitdem überhaupt nicht verändert. Schauen Sie nur." Er deutete auf eine Bank. "Und haben Sie die im Speisesaal gesehen? Steinalt! Bringen Sie eine Schwuchtel von Antiquitätenhändler hier rein, und er zahlt Ihnen tausend Dollar für jede. Hören Sie: Kleiner Rat. Hüten Sie sich vor Roscoe. Den ersten Morgen, den ich hier war, hat er mich anderthalb Stunden in meiner eigenen Pisse sitzen lassen. Anderthalb Stunden! Und das auch noch, nachdem ich ihn mehrmals um eine Urinflasche gebeten hatte. Der Dreckskerl hat immer wieder gesagt, ich soll den Abort benutzen, benutzen Sie den Abort, benutzen Sie den Abort."
"Warum sind Sie nicht gegangen?"
Spivack schlug sich verärgert mit der Hand gegen die Stirn. "Sie haben nicht kapiert, worum es geht, Wilder! Sache ist, wenn ein Patient einen Pfleger um eine Urinflasche bittet, dann muss er sie kriegen. Ach, Herrgott, ich dachte, Sie hätten einen winzigen Funken Verstand im Kopf, aber Sie sind genauso bescheuert wie alle anderen bescheuerten - Hören Sie: Verziehen Sie sich eine Weile, okay? Morgen besuchen mich mein Vater und meine Schwester, und ich muss zufälligerweise über ein paar Dinge nachdenken."
Er war wieder allein, doch bald schon bekam er seinen Schlafanzug in der Größe "klein", und das heiterte ihn auf; dann schloss er sich einer Gruppe Männer an, die in einer Gummizelle mit offen stehender Tür hockten. Der Mann mit den Zeitungen war darunter - einen Teil seiner Sammlung hatte er zur Lektüre auf dem Boden ausgebreitet -, und unter den anderen waren zwei Jungen, einer weiß, der andere schwarz, die an der rückwärtigen Wand saßen und in ein Gespräch vertieft waren.
"Wir waren da also alle auf dem leeren Grundstück hinter dem Schild von Breyer's Eiscreme, verstehst du", sagte der weiße Junge, "und ich hätte nach Hause gehen sollen, als die anderen gegangen sind; das war mein Fehler. Wie auch immer, es ist dunkel geworden, und ich und dieser Kovarsky haben hinter dem Schild gesessen und geredet und Zigaretten geraucht, und dann hat er - "
"Moment mal, Ralph, das ist mir zu schnell. Wer ist Kovarsky?"
"Das hab ich dir doch erzählt. Dieser große Junge aus meinem Viertel, alle haben Angst vor ihm. Ich meine, er ist, du weißt schon, wirklich groß und er macht gern große Sprüche und er ist vorbestraft. Einbruchsdiebstahl. Er ist neunzehn. Jedenfalls sagt er zu mir, dass ich dableiben soll, wenn die anderen nach Hause gehen, und ich habe okay gesagt. Ich meine, ich weiß, dass es dumm war, aber ich war irgendwie - ich weiß nicht, irgendwie - "
"Geschmeichelt, was?", sagte der schwarze Junge."Verständlich. Und dann?"
"Dann gibt er mir Zigaretten und erzählt schmutzige Sachen über Mädchen, nennt alle Namen von den Mädchen in der Abschlussklasse, mit denen er geschlafen hat, und so Zeug. Du weißt schon."
"Ja, Scheiße, ich kenn diese Typen. Wie alt bist du, Ralph?"
"Fünfzehn. Ich meine, jetzt bin ich fünfzehn, damals war ich vierzehn. Jedenfalls rückt er plötzlich näher und macht seine Hose auf und sagt zu mir - du weißt schon. Ich soll es ihm machen. Ihm einen blasen"
"O Gott."
"Und ich sage Nein und steh schnell auf und lauf um das Schild, und er packt mich und sagt, dass er mir den Arm brechen wird. Aber ich hab keine Angst - ich weiß, dass er nichts tun kann, weil er ja vorbestraft ist -, doch dann sagt er: 'Okay, Kleiner, du hast die Wahl: Sei nett zu mir, und ich werd niemand was sagen. Geh nach Hause, und ich schwöre bei Gott, dass du keine ruhige Minute mehr haben wirst.'"
"Oje", sagte der schwarze Junge.
"Ich geh also nach Hause, und am nächsten Tag fallen alle Kinder in der Schule über mich her. Du weißt schon. 'He, Ralph, hat's geschmeckt?' So Sachen. Schmutziges Zeug. Oder sie fassen sich vorn an die Hose und sagen: 'Na, wie wär's? Gehst du mit mir hinter das Breyer's-Schild, Ralph?' Und die vor dem Süßigkeitenladen rufen mich plötzlich Heißlippe Volpe. Das ist mein Familienname, Volpe. Auch die älteren Kinder, die kleinen und die großen. Sogar die Mädchen. Weil, verstehst du, was er getan hat, dieser Kovarsky, er hat allen erzählt, dass ich ihm einen blasen wollte."
Der andere Junge blickte verwirrt drein. "Warum hast du ihnen nicht die Wahrheit erzählt?"
Das hab ich doch! Ich hab's ihnen erzählt, immer wieder, und alle haben nur gelacht. Es stand mein Wort gegen seins, verstehst du? Und dieser Kovarsky ist so ein brutaler Kerl, wer glaubt mir da schon?"
 "Mhm. Mann, das ist eine schlimme Geschichte."
"Und dann hört mein Vater davon."
"Dein Vater? Dein Vater hat dir auch nicht geglaubt?"
"Er hat es von den anderen Vätern erfahren, verstehst du. Er sagt: 'Ralph, ich möchte, dass du mir genau erzählst, was hinter dem Schild passiert ist. 'Und ich erzähl's ihm, und er sagt: 'Ich hab was andres gehört. 'Und ich sage: 'Ich schwör's! Ich schwör's! 'Und er sitzt da und schaut mich an, als wär ich - als wär ich - ich weiß nicht. Und seitdem, seitdem..." Ralph konnte den Satz nicht beenden; er wandte das völlig ausdruckslose Gesicht der Matte an der Wand zu und fummelte an seinen Pickeln herum. Seine Fingernägel waren blutig gebissen.
"Mann", sagte der schwarze Junge."Das ist wirklich eine schlimme Geschichte. He, hör mal, ich hab eine Idee. Wir machen ein Spiel. Wir spielen Film. Weißt du, wie man Film spielt, Ralph?" Ralph antwortete nicht. "Was ist mit Ihnen, Mann? Wie heißen Sie?"
"John."
"Ich bin Francis, John; das ist Ralph. Haben Sie Lust, Film zu spielen? Es ist ganz leicht. Ich sag was, und ihr müsst herausfinden, aus welchem Film es ist. Ich sag euch ein Beispiel. 'Ehrlich gesagt, meine Liebe, das ist mir egal' Welcher Film?"
"Also, ich glaube nicht, dass ich - "
"Sie wissen's nicht? Scheiße, Mann, das ist Vom Winde verweht. Clark Gable sagt es zu Vivien Leigh. Wollen Sie noch ein Beispiel?"
"Okay."
"Hier ist noch eins. Moment." Francis kniff vor Konzentration die Augen zusammen. "Hast du noch ein Beispiel, Ralph?"
"Nein."
"Sie, John?"
"Noch nicht."
"Moment. Uns fällt schon noch was ein. Es gibt jede Menge gute Filme." Aber seine niedergeschlagene, nachdenkliche Miene ließ darauf schließen, dass es doch nicht so viele waren. "Manche Filme mag ich nicht", sagte er. "Psycho mag ich nicht. Mit Anthony Perkins. Das ist ein schlechter Film, wenn ihr versteht, was ich meine."
"Mhm."
"Ja."
"Mal nachdenken." Er dachte eine Weile nach und sagte dann: "Scheiße, ich habe keine Lust mehr. Mögen Sie Musik, John?"
"Klar. Was für Musik?"
"Egal was. Mögen Sie das hier?" Er ging wie ein Gewichtheber in die Hocke und begann, sich auf die angespannten Oberschenkel zu schlagen, als wären sie Bongos; als er zu einem Rhythmus gefunden hatte, warf er den Kopf nach hinten und schloss die Augen, während er sang oder vielmehr wehklagte und etwas heulte, was ebenso ultraprogressiver Jazz wie afrikanischer Stammesgesang hätte sein können. Ralph schien es zu gefallen: Seine Augen umwölkten sich, und er wackelte im Rhythmus des Trommelns mit dem Kopf.
"He", sagte der Mann mit den Zeitungen. "Seht euch das an." Er hatte aus der New York Post fein säuberlich die Überschrift einer Sportmeldung herausgeris sen: KANN MARIS THE BABE TOPPEN?" Seht ihr?", fragte er. "Passt auf. Einen Moment." Aus seinem zerfledderten Bündel holte er ein halbes Dutzend weiterer Zeitungsartikel hervor, die er vor neugierigen Blicken abschirmte. "Moment", murmelte er, während er gewissenhaft ausriss und glatt strich und zusammenstellte, und dann: "Seht mal, seht her."
Er legte ein großes Foto von Marilyn Monroe vor sie. Die Überschrift darüber lautete: KANN pARIS dieses BABE sTOPPEN? Und darunter stand als Legende in vielen verschiedenen Schrifttypen: Müdes Blut?/Alles muss raus!/Ike äußert "Besorgnis", weil/Tausende fliehen aus der Hitze der Stadt/FBI unterstützt Staat/Örtliche Polizei tut alles für/Air France. "Also, das ist - toll."
"Ach, das ist nicht sehr gut. Ich mach was Besseres. Augenblick."
Francis' Musik war lauter geworden und schien ihn in Trance versetzt zu haben. Das Singen strengte ihn so an, dass er zweimal ausspucken musste, er fing die Spucke jedoch jedes Mal mit einem fliegenden Handrücken ab, ohne einen Takt auszulassen.
"Mr. Wilder?", rief Charlie aus dem Flur. Er hielt Spivack am Oberarm fest, entweder um ihn zurückzuhalten oder aus Sympathie, und Spivack blickte finster aus zusammengekniffenen Augen und atmete so schwer durch die Nase, dass sein Kopf bei jedem Atemzug leicht wackelte. "Mr. Wilder, Dr. Spivack würde gern mit Ihnen zu Abend essen."
"Okay, Sie können mit mir essen, Wilder", sagte Spivack, als sie sich vor dem Speisesaal anstellten, "aber keine Fragen mehr; kein verdammtes Gequassel mehr, ist das klar?"

*

Mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Verlags-Anstalt


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