9punkt - Die Debattenrundschau

Die große Dynamik der Weltgeschichte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.10.2021. Warum geht Max Czollek nicht einfach zum Rabbi und wird Jude?, wundert sich die Rabbinerin Elisa Klapheck in der Welt. Die taz berichtet von den perfiden Tricks, mit denen in Texas im Rahmen des neuen Herzschlaggesetzes gegen Abtreibung vorgegangen wird: Jeder ist zum Denunzieren aufgerufen. Im FAS-Interview blickt Stephan Malinowski in das "rechte Netzwerk" der Hohenzollern. Ebenfalls in der FAS will Ronya Othmann nichts mehr vom "unterdrückten" Nahen Osten hören. Auf ZeitOnline macht sich Can Dündar nach der Bundestagswahl leise Hoffnung auf eine Post-Erdogan-Ära. "Afghanistan - war da was?", fragt die SZ die deutsche Politik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.10.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

Max Czollek könnte jederzeit Jude werden (unsere Resümees), er müsste nur zu einem Rabbi gehen und den Übertritt wünschen. "Mir ist ein Rätsel, aus welchem Grund er die Konversion scheut", sagt die Rabbinerin Elisa Klapheck im WAMS-Gespräch mit Jacques Schuster: "Patrilineare Juden, wie sie heute zunehmend genannt werden, bekommen vom liberalen Judentum keine große Hürde gestellt, sondern werden unterstützt. Es gibt für sie so etwas wie ein Recht auf formelle Rückkehr ins Judentum. Niemand wird abgewiesen. Ich habe einige der Publizisten und Schriftsteller, die an der Debatte teilgenommen haben, schon lange vor der jetzigen Diskussion angesprochen und gefragt, ob sie nicht ihren halachischen Status vervollständigen wollen. Das wäre keine große Sache. Doch die angesprochenen Leute nehmen das Angebot nicht wahr."

Das seit dem 1. September in Kraft getretene texikanische Abtreibungsgesetz sieht vor, dass Abtreibungen - auch nach Vergewaltigungen - verboten sind, sobald ein Herzschlag festzustellen ist, darunter fallen 85 Prozent der Abtreibungen, die zuvor legal waren, berichtet Dorothea Hahn in der taz: "Um Anfechtungen abzuschmettern, haben sich die Autoren des Gesetzes mehrere Tricks ausgedacht: Nicht staatliche Behörden, sondern Privatleute übernehmen es, die 'Straftat' aufzudecken. Und im Visier sind nicht die Frauen selbst, die abtreiben, sondern all jene, die ihnen dabei helfen - von Nahestehenden, die ihnen Geld geben, über Taxifahrer, die sie transportieren, bis hin zu Krankenpflegern und Ärzten, die den Eingriff durchführen. Wenn 'illegale Abtreibungen' nachgewiesen werden können, winken den Denunzianten Belohnungen, die bei 10.000 Dollar anfangen und nach oben offen sind und die von 'Helfern und Unterstützern' gezahlt werden müssen."

Wo die Linke einst im Namen der Arbeitnehmer gegen die Bosse kämpfte, setzen sich ihre lautesten Stimmen heute dafür ein, dass die Bosse Arbeitnehmer überwachen, schreibt Nick Cohen im Guardian. Sie geben den Unternehmen immer mehr Kontrolle, indem sie den Managern das Recht zur Regulierung von politischen Überzeugungen oder Sprache geben: "Institutionen und Aktivisten befruchten sich gegenseitig. Die Institutionen fürchten die Denunziation durch Aktivisten, wenn sie nicht zensieren oder entlassen. Aktivisten fürchten die Denunziation durch radikalere Aktivisten, wenn sie ihre Forderungen nicht bis zum Äußersten treiben. Die Institutionen haben keinen Anreiz, sich zu wehren, weil die Organisationen, die einst ihre Macht hätten zügeln können, verstummt sind oder die Seiten gewechselt haben.

Außerdem: "Meine Politisierung bezüglich Corona sehe ich als Notwehr", sagt im Interview mit Michael Maier (Berliner Zeitung) der Schauspieler Volker Bruch, einer der Mitinitiatoren von #allesaufdentisch: "Die Maßnahmen wurden immer widersprüchlicher und gleichzeitig wurde die Kritik an ihnen immer mehr kriminalisiert. (...) Wir müssen die Kritik an der Regierung wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückholen und verhindern, dass jeder, der Kritik übt, automatisch als Nazi bezeichnet wird."
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Geschichte

Bisher hat der Historiker Stephan Malinowski, der vergangene Woche sein Buch "Die Hohenzollern und die Nazis - Geschichte einer Kollaboration" veröffentlichte, noch nichts von den Anwälten der Hohenzollern gehört, erzählt er im FAS-Interview mit Julia Encke, in dem er auch auf das "rechte Netzwerk" des Kronprinzen blickt: "Die Figur fällt ja 1930 nicht vom Himmel, sondern er ist seit dem ersten Tag der Republik als antirepublikanischer Handelnder aktiv, im Grunde bis 1945. Und man muss auch weiter ins Kaiserreich und in die Zeit vor 1914 zurückblicken. Eine antisemitisch und imperialistisch orientierte radikale Rechte, die den Kaiser und seine Regierung angreift, gibt es seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Und der Kronprinz hatte bereits vor 1914 Affinitäten zu diesem rechtsradikalen Rand des politischen Spektrums. Dies reißt 1918 nicht ab. Wenn man verstehen will, warum von dieser Figur noch so eine Dynamik ausgeht, muss man ihn in sein Milieu platzieren und das Milieu aus einer langen Entwicklung heraus deuten."

Wurde die Konstruktion des "Fremden", des "Barbarischen" zunächst auf alle Kulturen jenseits von Europa angewendet, weitete sich die Abwertung im 19. Jahrhundert auch auf die Arbeiterschaft in westlichen Gesellschaften aus, schreiben die Historiker Svenja Goltermann und Philipp Sarasin bei geschichtedergegenwart.ch: "Mit dem auch auf dem Kontinent sich zügig durchsetzenden Fabriksystem, das große Migrationsbewegungen vom Land in die Stadt, die Verslumung von Innenstädten und die Verarmung und Proletarisierung weiter Bevölkerungskreise mit sich brachte, schwoll auch der Chor jener an, die über die neuen 'Nomaden' in den Städten, ihre 'barbarischen' Sitten oder vielmehr ihren Sittenzerfall lamentierten. Noch 1904 hat der - sozialistisch gesinnte - Sexualreformer und Psychiater August Forel in seinem Bestseller Die Sexuelle Frage bemerkt, dass sich 'in belgischen alkoholisierten Industriebezirken die Menschen vielfach wie Tiere nachts auf den Straßen begatten, nicht viel feiner als betrunkene Kaffern in Südafrika'. Mehr Verachtung und bürgerliches Entsetzen war nicht möglich."
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Politik

Es gibt keine Anzeichen für eine dauerhafte Inflation, sagt der Ökonom Adam Tooze im FR-Gespräch mit Michael Hesse. Aber es wird eine "Verschiebung nach Asien" geben, glaubt er: "Die Verschiebung Richtung Asien ist das große Faktum für die nächsten Jahrzehnte, das wird sich noch beschleunigen. Alle Krisen drehen sich auch darum. Wenn man alles auf eine einfache Formel bringt, kann man sagen, dass - Stichworte Klimakrise, Pandemiekrise, Wirtschaftswachstum - die gesamte Dynamik sich im asiatischen Raum abspielt. Dort ist die große Dynamik der Weltgeschichte am Werk. Die historische Herausforderung des Westens ist, sich damit zu arrangieren. Ob wir es möchten oder nicht, wir sind aus dem Mittelpunkt verdrängt worden."
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Europa

Auf Zeit Online macht sich Can Dündar nach der Bundestagswahl leise Hoffnung auf eine Post-Erdogan-Ära in der Türkei: "Während die Mehrheit der rund 900.000 Wahlberechtigten türkischer Herkunft in der Türkei Erdoğans AKP unterstützt, stimmt sie in Deutschland für die SPD, obwohl Erdoğan sagte, genau die sollten sie nicht wählen. Das zeigt, dass Menschen eher nicht fanatisch sind, sondern gemäß ihrer eigenen Rationalität wählen. Ändern sich morgen ihre Interessen, könnten sie auch in der Türkei anders wählen. Das ist ein erfreuliches Signal für die Sozialdemokraten in der Türkei. Und es ist nicht das einzige: Studien zur Generation Z, die nie einen anderen Regierungschef als Erdoğan kannte, weisen aus, dass ein Drittel der Erstwählenden bei den kommenden Wahlen die Sozialdemokraten unterstützen wollen."

"Afghanistan - war da was?", fragt Alexandra Föderl-Schmidt in der SZ in Richtung der deutschen Politik und warnt die künftig koalierenden Parteien davor, die Aufarbeitung des Einsatzes unter den Tisch fallen zu lassen: "Wenn es zu einer Ampel-Koalition kommt, wird der Aufklärungswille der Koalitionsdisziplin untergeordnet werden. Denn es müssten die Vorgänge im SPD-geführten Außenministerium untersucht werden. Und von einer auf die Oppositionsbank verbannten Union ist nicht zu erwarten, dass sie Versäumnisse in den Ministerien für Inneres und Verteidigung aufklären will. Dabei wäre eine solche Aufarbeitung wichtig, um aus Fehlern dieses Einsatzes zu lernen und künftig Menschenleben zu retten - indem man etwa eine Exit-Strategie festlegt. Die existiert auch nicht für Mali, wo es deutliche Parallelen zu Afghanistan gibt. Die künftige Regierung sollte, um Koalitionszwist vorzubeugen, eine unabhängige Kommission zur Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes einsetzen."
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Ideen

In der FAS platzt der Schriftstellerin Ronya Othmann angesichts postkolonialer Kategorisierungen wie "imperialer Westen" und unterdrückter "marginalisierter Naher Osten" der Kragen: Es ist "ein dichotomisches Narrativ, dessen sich auch gerne die Schurken vom Dienst - Assad, Erdogan und die Mullahs in Iran - bedienen. Schuld sollen immer nur die anderen sein, vor allem Israel, wenn es um die eigene Misere geht. Ein nicht eurozentristischer Blick bedeutet auch, diese Regime nicht auszuklammern. Saddam hat den Irak ins Elend gestürzt, wirtschaftlich, moralisch, mit Massakern wie dem Anfal-Genozid an den Kurden und brutalster Diktatur. Es sind nicht nur die westlichen Militäreinsätze, die das Chaos zu verantworten haben, es sind auch die iranischen Schergen, die gerade Aktivisten in Basra und Bagdad exekutieren. Es ist auch der expansive Islamismus von Qatar und Saudi-Arabien, der Koranschulen und Moscheen bauen lässt, nicht aber Universitäten und Bibliotheken."
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Internet

Wikileaks hat "durch Transparenz und Zugänglichkeit zu den Quellen die Glaubwürdigkeit von Journalismus gestärkt. Bis dahin saß die Branche auf einem ganz schön hohen Ross, was den exklusiven Umgang mit Quellen anging", sagt Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, zum 15. Geburtstag von Wikileaks im FR-Gespräch mit Bascha Mika. Mit dem Fall Julian Assange soll ein "Signal der Einschüchterung" gesendet werden, fährt er fort: "Zum einen kämen die USA dann mit der Anschuldigung durch, dass die Veröffentlichungen von Assange und Wikileaks nichts mit Journalismus zu tun haben. Das ist ein Angriff auf die Pressefreiheit, denn diese Arbeit ist ja eine großartige Leistung für den Journalismus gewesen. Zum anderen: Wenn diese Praxis Schule macht, könnte sich jedes Land, das sich durch eine Veröffentlichung in einem anderen Land beleidigt fühlt, auf Assanges' Auslieferung berufen. Das würde Pressefreiheit und Journalismus grundsätzlich schwächen. Deshalb geht es hier um einen Präzedenzfall." Er fordert deshalb eine völkerrechtliche Konvention zum Schutz von Whistleblowern.
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