Efeu - Die Kulturrundschau

Ein wenig giftig insgesamt

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.05.2023. Im barocken Flirren momentaner Gefühle schwelgen FR und FAZ mit Barrie Koskys Inszenierung von Händels "Hercules". Im Freitag preist Alexandru Bulucz die Lyrik seiner österreichischen Kollegin Anja Bachl. Die Literaturkritiker möchten der guten Laune nicht trauen, mit der sie aus Leipzig zurückkehren. Der Standard steht im Zentralarchiv vor dem digitalen Dilemma der Filmgeschichte. Die fetten Serienjahre sind vorbei, konstatiert die Welt. In der FAS erklärt der ukrainische Komponist Valentin Silvestrov, dass in ihm wirklich keinerlei Stille sei.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.05.2023 finden Sie hier

Bühne

Paula Murrihy als Dejanira in Händels "Hercules". Foto: Monika Rittershaus / Frankfurter Oper

Großer Jubel für Barrie Kosky Inszenierung von Händels "Hercules" an der Frankfurter Oper. In der FR kann Judith von Sternburg gar nicht fassen, wie heutig dieses Drama um Hercules' vor Eifersucht wahnsinnige Dejanira wirkt: "Kosky inszeniert schlank und puristisch und mit einem raffinierten Stegreifappeal, denn so spontan manches wirkt, so ausgetüftelt muss es tatsächlich sein. Die Stimmung: gegenwärtig, ironisch. Ein wenig giftig insgesamt. Mitleid und Neugier gehen miteinander einher, aber die Neugier siegt vorerst meistens. Erst am Ende tut es den anderen dann doch irgendwo leid. Zu schlimm ergeht es Herkules, zu verzweifelt ist Dejanira, die das doch nicht wollte, nicht so, nicht so grässlich. Kosky verzichtet dabei auf Grellheiten und die meisten Barockspäßchen, aber ebenso auf Sanftmut. Den Männern mangelt es etwas an Übersicht, den Frauen nicht. Keine netten Frauen. Drei grandiose Sängerinnen und Darstellerinnen zeigen ein Flirren momentaner Gefühle, rasche Missgunst, vergnügte Boshaftigkeit, der genießerische Blick auf fremdes Leid." Für die FAZ erweist sich Händel mit diesem Stück als "einer der größten Musikdramatiker aller Zeiten", besonders hingerissen ist ihr Kritiker Wolfgang Fuhrmann von der Mezzosopranistin Paula Murrihy als in den Wahnsinn taumelnde Dejanira: "Diese psychische Instabilität ist zwar typisch für die Barockoper, deren Arienketten immer eine Kneippkur von Affekten darstellten. Sie wirkt jedoch dank der singdarstellerischen Souveränität von Murrihy in jedem Moment glaubhaft."

Besprochen werden Sebastian Hartmanns Adaption von Michel Houellebecqs Roman "Vernichten" (in der taz-Kritiker Torben Ibs das "Grauen der Hoffnungslosigkeit" durch alle Ritzen kriechen spürte, aber Egbert Tholl in der SZ versichert, man verlasse das Theater lächelnd. Und: "Hartmann ist Künstler, kein gewöhnlicher Theaterregisseur"), die Lange Nacht der Autor:innen am Deutsches Theater Berlin, zum letzten mal unter ihrem Erfinder Ulrich Khuon (Nachtkritik, taz, Tsp), ein Janacek-Doppel mit "Die Sache Makropulos" und "Aus dem Totenhaus" zur Eröffnung der Maifestspiele in Wiesbaden (FR), Lucia Bihlers zornige Euripides-Inszenierung "Die Troerinnen" am Schauspiel Köln (SZ), Myczieslaw Weinbergs Vertonung von Dostojewskis Roman "Der Idiot" in Wien (Tsp), und Cathy Marstond Ballett "The Cellist", das die tragische Geschichte der Cellistin Jacqueline du Pré erzählt, an der Oper Zürich (NZZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Der Lyriker Alexandru Bulucz liest für den Freitag zur Leipziger Buchmesse österreichische Anti-Heimat-Literatur und macht dabei Entdeckungen: "Die neue herausragende Stimme im polyphonen Chor der österreichischen Gegenwartslyrik ist Anja Bachl. Das Lyrikdebüt der 1986 in Salzburg Geborenen, 'weich werden', ist auch gestalterisch eine Augenweide." Ihre "Gedichte kippen nie ins Aktionistische, auch wenn sie Grund genug dafür hätten, geht es ihnen schließlich um umkämpfte Angelegenheiten von politischer Bedeutung - sei es nun Mutterschaft, Feminismus oder gendergerechte Sprache. Bachls lakonisch-aphoristische Konstruktionen, die häufig nur vom Infinitiv Gebrauch machen, kommen als Erinnerungsnotizen daher, als Selbstaufmunterungen, dem eigenen Kurs treu zu bleiben: 'keine Rückschlüsse vor Erfahrungen heben / nach Pronomen fragen / Wandfarben als Optionen haben / Voraussetzungen zerlegen / eine Unterredung einer Implosion vorziehen / sich gedeihen lassen auch wenn es wuchert', lautet eine solche Erinnerungsnotiz. Der Anspruch, die Verhältnisse zu verbessern, gilt dem Selbst und ist nicht belehrend an eine anonyme Masse adressiert."

Wie immer man auch dazu stehen mag, dass mit Benjamin von Stuckrad-Barre ausgerechnet ein Mann den am meisten diskutierten MeToo-Roman geschrieben hat: "Am Ende ist es Stuckrad-Barres Prominenz, seine Privilegiertheit, die der Sache dient", findet Ariane Lemme im taz-Kommentar. Für die Welt bespricht Mara Delius den offensichtlich gegen den Springer-Verlag gerichteten Roman auf einer ganzen Seite bemerkenswert fair und abwägend.

Cornelius Pollmer von der SZ zieht ein begeistertes Fazit nach der Leipziger Buchmesse: Das Comeback nach der Pandemie war gezeichnet von bester Stimmung, regem Publikumszuspruch und einer Ausstellerzahl auf beinahe Vorpandemie-Niveau. Tilman Spreckelsen von der FAZ war allerdings von der Gute-Laune-Stimmung, die insbesondere die Veranstalter verströmten, irgendwann sehr genervt. Gerrit Bartels vom Tagesspiegel gießt etwas Wasser in den Wein: Das klassische literarische Publikum ist deutlich auf dem Rückzug und blieb mengenmäßig weit unter den Erwartungen - dass in Leipzig dennoch viel los ist, verdankt die Messe in allererster Linie den Comic- und Manga-Fans, die mit teils beeindruckend aufwändigen Kostümen die Manga-Con besuchen. Sophia Zessnik (taz) und Mia Eidlhuber (Standard) resümieren den Gastlandauftritt Österreichs.

Außerdem: Jakob Hayner (Welt) und Andreas Busche (Tsp) berichten von einem Berliner Abend mit Fran Lebowitz. Manfred Rebhandl plaudert für den Standard mit dem Schriftsteller und Regisseur David Schalko über dessen neuen Roman, "Was der Tag bringt". Außerdem kürt die Welt die besten Sachbücher des Monats.

Besprochen werden Robert Seethalers "Das Café ohne Namen" (online nachgereicht von der FAZ), Teju Coles Essayband "Black Paper: Schreiben in dunkler Zeit" (NZZ), Eugen Ruges "Pompeji" (FAZ), Elodie Arpas "Freiheit" (taz), Anna Giens "Paris・Rot" (Tsp), Jörg Fausers "Briefe an die Eltern" (NZZ), Olga Tokarczuks "Empusion" (SZ) und neue Krimis, darunter Yasmin Sibais Debüt "Punked" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans-Joachim Simm über Ludwig Tiecks "Ohne Titel":

"Was hast du mir denn, Leben, schon gegönnet,
Dass ich als Gut dich teuer sollte schätzen?
..."
Archiv: Literatur

Kunst

Juan Muñoz: "Alles, was ich sehe, wird mich überleben", Ausstellungansicht. Foto: Sala Alcala

In der FAZ freut sich Carlota Brandis, dass Spanien mit gleich mehreren Ausstellungen - die erste in der Sala Alcala in Madrid - den Bildhauer Juan Muñoz ehrt. In Muñoz, der vor Franco nach Frankreich geflohen war, entdeckt sie den Künstler als Erzähler: "Er löste sich von der vorherrschenden bildenden Kunst, indem er die vom Barock geprägte figurative Bildhauerkunst zurückbrachte. Muñoz' neuartiger, sensibler Realismus in der menschlichen Figur ließ seine Installationen in der neoexpressiven und von Provokationen beherrschten Kunstepoche herausstechen. Die von ihm erzeugte Spannung zwischen Fiktion und Realität, zwischen Kunstobjekt und Betrachter hinterfragte den Status quo. Noch zu Lebzeiten wurden dem Maler und Bildhauer Schauen in Europa und Amerika gewidmet."

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Fire" im Fotografie Forum Frankfurt (FR) und eine Werkschau des ostdeutschen Fotografen Manfred Paul im Berliner Haus am Kleistpark (Tsp)
Archiv: Kunst

Film

Lukas Kapeller erkundigt sich für den Standard, wie das österreichische Zentralarchiv mit einem Bestand von etwa 600.000 Filmrollen die Filmgeschichte in die Zukunft retten will. Dies ist eine erhebliche "Herausforderung. Manche Archivare sprechen gar vom 'digitalen Dilemma'. Die Digitalisierung mache das Filmemachen einfacher und die Werke dem Publikum leichter zugänglich, aber die Archivierung schwieriger, heißt es." Die meisten Filminstitutionen nutzen LTO-Bänder zur digitalen Sicherung. Das "ist ein Magnetband, das zahlreiche Vorteile bietet. Denn LTOs wurden bei ihrer Entwicklung um die Jahrtausendwende nicht als Produkt eines einzigen Produzenten geplant. Die Hersteller, unter anderem IBM, haben sich verpflichtet, alle zwei Jahre eine neue LTO-Generation auf dem Stand der Technik anzubieten. LTO-Bänder gelten daher als anschlussfähig, als beständig (bis zu 30 Jahre) und als ein Trägermedium, das offen für freie Software ist. ... Obwohl LTO-Bänder vermutlich rund 30 Jahre lang halten können, übertrage das Filmmuseum seine digital gespeicherten Filme 'spätestens alle fünf Jahre auf einen neuen Datenträger', erzählt Filmmuseumsdirektor Michael Loebenstein."

Die fetten Jahre sind vorbei, sagt Rüdiger Sturm in der Welt mit Blick auf den Zerfleischungskampf, in dem sich die Streamingdienste derzeit befinden: Die Zahl der Neuproduktionen sinkt, was beim Publikum nicht ausreichend ankommt, wird rigoros abgesetzt, der Druck, tatsächlich Geld zu verdienen, steigt immer mehr - und statt auf Mut zum Experiment setzen die Streamer immer mehr auf stromlinienförmige Blockbusterware. "Überhaupt scheinen die Grenzen zwischen Streamern und Kinolandschaft zu verschwimmen. Letztere hat nach den dürren Jahren der Pandemie wieder zu florieren begonnen. Die US-Filmtheater konnten sich dank Filmen wie 'John Wick 4' im ersten Quartal 2023 über eine Zuwachsrate von 37 Prozent im Vergleich zu den ersten drei Monaten 2022 freuen - und glatte 589 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum von 2021. Der Analyst Eric Handler von Roth Capital Partners meint: 'Die Studios haben erkannt, dass ein exklusiver Kinostart die beste Methode ist, Profite zu maximieren.' Mit anderen Worten: Streaming ist nicht mehr der heilige Gral. Und dieser Weisheit folgen - mit Ausnahme von Netflix - nun auch die Streamer selbst, indem sie zunehmend auf große Kinoveröffentlichungen setzen, bevor sie die Filme auf ihren Plattformen abspielen." Susanne Gottlieb wundert sich im Standard dennoch, warum Disney einen Großteil seiner großen Produktion am Kino vorbei direkt im Streaming verramscht.

Außerdem: Das Kinoverleihfenster für staatlich geförderte Filme wird sich wohl von sechs auf vier Monaten verkürzen, hat Hanns-Georg Rodek von der Welt herausgefunden. Dlf Kultur nutzte das Feiertagsprogramm für ein knapp anderthalbstündiges Gespräch mit dem großen Georg Stefan Troller. Claudius Seidl (FAZ) und Hanns-Georg Rodek (Welt) schreiben Nachrufe auf Peter Lilienthal.

Und die Agenturen melden: Hollywoods Drehbuchautoren gehen in den Streik.
Archiv: Film

Musik

Die FAS unterhält sich mit dem im Berliner Exil lebenden ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov, dessen "Stille Lieder" gerade in einer Aufnahme der Pianistin Hélène Grimaud und des Baritons Konstantin Krimmel erschienen sind. Trotz des Titels ist ihm allerdings nicht nach Schweigen zumute: "Nein, in der aktuellen Situation rufe ich nicht zur Stille auf, es ist genau umgekehrt. Alles, was mich zu einem Menschen macht, was in mir menschlich ist, schreit in mir; ich muss so laut werden, wie ich nur kann. Ich hoffe, es geht vielen so. Das ist unsere Waffe gegen die Waffen der Terroristen, wir müssen gegen das Unrecht, das in meiner Heimat passiert, laut werden. ... Ich warte und hoffe jede einzelne Sekunde, dass sich die Situation ändert, der Krieg endet und ich zurückkehren kann. Ich hoffe, dass Putin genauso schnell untergeht wie die Sowjetunion nach dem Mauerfall untergegangen ist."

Valery Gergiev wird 70. Jahre alt. Sein "Höhenflug und Absturz waren so dramatisch, wie es vielleicht nur in Russland, dem Land der Extreme, denkbar ist", schreibt Anastassia Boutsko in der FAZ. "Er ist Fleisch vom Fleisch des monströsen Imperiums und teilt dessen Schicksal. Den humanen Kern der Musik, der er sich verschrieb, hat er verraten."

Außerdem: Charlie Bendisch spricht in der Jungle World mit der Literaturwissenschaftlerin Julia Ingold über die lyrisch-literarischen Qualitäten von Deutschrap. Stefan Drees meditiert in der NMZ über György Ligeti, der dieser Tage 100 Jahre alt geworden wäre. In der WamS freut sich Michael Pilz über 45 Jahre Punk aus Deutschland. Moritz Hackl erzählt auf ZeitOnline von seiner Begegnung mit DJ Gigola, die "Techno mit Meditationsanweisungen, inneren Frieden mit äußerer Ektase mischt". Wir hören rein:



Besprochen werden Tristan Bruschs Album "Am Wahn" (Jungle World), der Auftritt von Omar Souleyman beim Donaufestival (Standard), Joana Mallwitz' letztes in Nürnberg dirigiertes Philharmonie-Konzert (NMZ), ein Berliner Konzert des Ensembles Spectrum Concerts des Cellisten Frank Dodge (Tsp) und der Wiener Auftritt von Måneskin  (Standard).

Und eine traurige Meldung aus den Agenturen: Der Folksänger Gordon Lightfood ist gestorben.

Archiv: Musik