Efeu - Die Kulturrundschau

Kleine None aufwärts

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.10.2020. Die Zeit fühlt das "Schwert, das durch die Seele geht" mit Wolfgang Rihms "Stabat Mater". Dem Standard wird ungemütlich vor den Landschaftsbildern Gerhard Richters. Im Dlf Kultur erzählt Jan Koneffke von der existenziellen Hilflosigkeit eines Schrumpfkopfs. Der Tagesspiegel fragt, wie die Stiftung Deutsche Kinemathek jahrzehntelang übersehen konnte, dass Berlinale-Gründer Alfred Bauer ein Nazi war. Die nachtkritik fragt: Was wird aus dem Theater ohne eine Vielfalt der Kritiker?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.10.2020 finden Sie hier

Musik

In der Zeit schreibt Volker Hagedorn ganz wunderbar über Wolfgang Rihms Vertonung des Klagehymnus "Stabat Mater", der beim Musikfest von den Berliner Philharmonikern uraufgeführt wurde: "Die gesungene kleine None aufwärts, mit der die Verse über Maria am Kreuz ihres Sohnes beginnen, setzt ein Schmerzenszeichen voller Tradition, der Rihm auch nicht ausweicht, wenn sich Bariton und Bratsche zu Konsonanzen finden, reinem B-Dur auf 'lacrimosa', einem Dur-Moll-Wechsel auf 'gladius' - das Schwert, das durch die Seele geht. ... Die Viola, meist zweistimmig spielend, wird immer mehr zu einem Alter Ego. Sie widerspricht in höchsten, kaum noch zu greifenden Tönen, wenn der Sänger im Gesang das Haupt zu neigen scheint, sie setzt seinen 'Liebesdrang' zu Jesus ganz allein als Raserei voller Akzente fort. Der Solistin Tabea Zimmermann ist das wirklich auf Leib und Seele komponiert. Sie spielt vollkommen sinnlich, ohne den Verstand zu verlieren - den nimmt sie mit hinein in den Klang..."

In der SZ spricht Andrian Kreye mit dem Jazzmusiker Brad Mehldau über seine neue Platte, das im Lockdown entstandene Album "Suite: April 2020". Mehldau hat lange Zeit in New York gelebt. Dort steht die Lage nicht zum Besten, wie er nach einer Reise dorthin vor einigen Wochen berichten kann: Es "war deprimierend. Aber vielleicht wird sich ein Phönix aus der Asche erheben. ... Der Markt wird einbrechen, alles wird billiger werden, und vielleicht werden einige kreative Dinge geschehen. Die Stadt war sowieso schon viel zu lange viel zu aufgebläht. Aber es ist schlimm, wie Musiker und andere Kreative wegen der wirtschaftlichen Folgen von Covid ihr letztes Hemd verlieren werden. Ich habe versucht, mit der Veröffentlichung dieser Platte das Bewusstsein dafür zu schärfen, indem ich die Gewinne an die Jazz Foundation of America gesandt habe." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Martin Brandt schreibt in der Jungle World über die zahlreichen Verstrickungen und Solidaritätsbekundungen von Boiler Room, einem immens erfolgreichen Online-DJing-Formats, mit der antisemitischen BDS-Kampagne. Für die Jungle World wirft Paweł Matusz einen Blick, wie die queere Clubkultur Polens sich gegen Angriffe der Regierung und gegen die Coronakrise zur Wehr setzt.

Besprochen werden Jörg Schellers Buch "Metamorphosen. Die unwahrscheinlichen Wandlungen des Heavy Metal" (Tagesspiegel), Róisín Murphys Discoalbum "Róisín Machine" (Tagesspiegel), die Uraufführung von Arvo Pärts "Für Jan van Eyck" in Gent (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Beethoven bewegt" im Kunsthistorischen Museum in Wien (FAZ).
Archiv: Musik

Kunst

Gerhard Richter, Ruhrtalbrücke, 1969 GR 228 Private Collection. Courtesy Hauser & Wirth Collection Services © Gerhard Richter 2020


Das Kunstforum Wien zeigt gerade eine große Schau mit Landschaftsbildern von Gerhard Richter. Sehr idyllisch ist das aber nicht, warnt Katharina Rustler im Standard. Denn nie male Richter die Landschaft ohne Eingriff oder Manipulation und en plein air schon gar nicht: "Nicht ohne Grund nennt Richter jene Arbeiten 'Kuckuckseier': Zwar könne er sich der Motive der deutschen Romantik bedienen, ihre geistige Tradition aber nicht fortsetzen. So erhaben seine wattigen Wolken auch dahintreiben, niemals sind sie Symbol für irgendetwas. ... Zum Schluss hin wird es immer surrealer. Der Künstler erhebt sich in seiner Allmächtigkeit: 1968 malträtierten Richter und Sigmar Polke das Foto eines Gebirges so lange, bis es sich in einen Kreis verwandelte. Jahre später formte Richter eine glatte, dreidimensionale Kugel daraus. Da liegt sie jetzt."

François-Joseph Lapointe, "Microbiome Selfie" aus der Serie "1000 Handshakes", fortlaufend seit 2016


"Was ist Natur?" fragt auch eine Ausstellung im Bad Homburger Sinclair-Haus, und die Antworten sind zum Teil nicht sehr gemütlich, warnt Sylvia Staude in der FR, während sie auf François-Joseph Lapointes "Microbiome Selfies" blickt: "Lapointe ist auch Biologe, er hat für diese Arbeit 1000 Menschen die Hand geschüttelt (gewiss war das vor Corona) und zwischendurch Abstriche aus seiner Handfläche gemacht. Nun veranschaulichen Tausende von feinen farbigen Strichen 'die Anzahl sowie die Vernetzung der anwesenden Bakterien'. Manche Anwesenheitsliste sieht aus wie eine Knospe, die von hauchdünnen Staubgefäßen umgeben ist - sind das irgendwelche Ausreißerbakterien, die gleichsam die Ränder ihrer Welt erkunden?"

Besprochen werden die Ausstellung "Not Working. Künstlerische Produktion und soziale Klasse" im Kunstverein München (taz), die beiden Aby-Warburg-Schauen im Haus der Kulturen der Welt und in der Gemäldegalerie in Berlin (Standard), die große Artemisia-Gentileschi-Schau in der National Gallery in London (Zeit), die Ausstellung "Max Beckmann. weiblich - männlich" in der Kunsthalle Hamburg (FAZ) und eine Hommage an Beethoven im Kunsthistorischen Museum Wien (FAZ)
Archiv: Kunst

Film

Ja, Berlinale-Gründer Alfred Bauer war ein Nazi-Funktionär und -Propagandist. Diese Anfang des Jahres laut gewordenen Vorwürfe (unsere Resümees) hat nun auch das Münchner Institut für Zeitgeschichte bestätigt. Bauer habe "einen nicht unwesentlichen Beitrag zum Funktionieren des deutschen Filmwesens während der NS-Diktatur und damit zur Stabilisierung und Legitimierung der NS-Herrschaft geleistet", schreibt der Historiker Tobias Hof in einer vom Filmfestival in Auftrag gegebenen, 60-seitigen Vorstudie (hier eine vierseitige Zusammenfassung als PDF-Datei). Christiane Peitz hat sie für den Tagesspiegel gelesen: "Als Referent von Reichsfilmintendant Fritz Hippler (1942/43) und anschließend von Hans Hinkel (1944/45) war Bauer während der NS-Zeit ein wichtiger Funktionär, 'der seine Aufgabe engagiert und pflichtbewusst erledigte'. Auch habe er seine Rolle nach 1945 systematisch durch Falschaussagen und Halbwahrheiten verschleiert und sich das Image eines überzeugten NS-Gegners zugelegt. Die Studie betont hier Bauers 'Dreistigkeit und Penetranz'. ... Die Studie verändert auch den Blick auf die Stiftung Deutsche Kinemathek, deren Aufgabe es längst gewesen wäre, die NS-Tätigkeiten Alfred Bauers für ihre Berlinale-Chroniken zu recherchieren. Ein großes Versäumnis." Dlf Kultur hat mit Tobias Hof über seine Studie gesprochen.

Wem gehört die Stadt? Wem der eigene Körper? Eliza Hittmans "Never Rarely Sometimes Always"

Eine junge Frau fährt mit ihrer Freundin im Bus von ihrer Kleinstadt nach New York, um eine Abtreibung durchführen zu lassen: Eliza Hittmans Film "Never Rarely Sometimes Always" ist auch eine Art Roadmovie und ein New Yorker Drifterfilm. Hélène Louvarts Kamera "praktiziert Filmen als eine Form der Teilnahme, solidarisch und zugleich diskret, eher Begleitung als Observation", erklärt Stefanie Diekmann im Perlentaucher, die "Never Rarely..." nicht nur als einen Film über Emanzipation begreift: "Es ist auch ein Film, der sehr genau im Blick hat, dass die große Stadt nicht denjenigen gehört, die kein Geld haben; der die Bewegungen seiner Figuren auf einen kleinen Radius und ein paar Fahrten reduziert; der die Erfahrung der Aussetzung und Demütigung von einem Schauplatz an einen anderen verlängert, und der, ruhig, distanziert, lapidar, von einer Heldenreise erzählt, die nicht in einer anderen Welt endet, sondern die Figuren zurück an den Ausgangspunkt führt." Weitere Besprechungen in SZ und Berliner Zeitung. Die taz hat mit der Regisseurin gesprochen.

Weitere Artikel: Historische Persönlichkeiten und Personen des Zeitgeschehens werden im Kino unter dem Stichwort "Real Person Fiction" immer mehr zur freien Verfügungsmasse, fällt Sabine Horst in der Zeit auf. In der NZZ spricht Urs Bühler mit Juliette Binoche. René Martens beugt sich in der taz interessiert über die Versprechungen des NDR, in den nächsten 12 Monaten mit einer "Serienoffensive" zu punkten.

Besprochen werden Oskar Roehlers Fassbinder-Film "Enfant Terrible" (taz, Berliner Zeitung, mehr dazu bereits hier), Tobias Frindts Dokumentarfilm "Freie Räume" über die Geschichte der Jugendzentrumsbewegung (Perlentaucher) und Kamil Majchrzaks Dokumentarfilm "Contemporary Past - Die Gegenwart der Vergangenheit", der den Holocaust aus Perspektive von Sinti und Roma in den Blick nimmt (taz).
Archiv: Film

Literatur

Im Dlf Kultur spricht Jan Koneffke über seinen Roman "Die Tsantsa-Memoiren", in dem er einen zum Schrumpfkopf gewordenen deutschen Conquistador aus dem 16. Jahrhundert zum Leben erweckt und 200 Jahre Geschichte aus erster Nähe miterleben lässt. Der Impuls dafür lag in existenziellen Erfahrungen, erklärt Koneffke: "Nahtoderfahrungen und chirurgische Eingriffe hätten ihn dazu bewegt. ... 'Das Skandalon ist dabei natürlich der fehlende Körper. Gerade dadurch, dass er fehlt, ist er besonders gegenwärtig und wird zum Beleg der existenziellen Hilflosigkeit des Helden.' ... Um eine Abrechnung mit dem Kolonialismus sei es ihm dabei nicht vordergründig gegangen, auch wenn man das Buch 'als Parabel auf die Europäer selbst' lesen könne, 'die durch die Unterwerfung der Natur und der Naturvölker ihre eigene Naturhaftigkeit verlieren.' Diese Unterwerfung durchlebe nun auch der Conquistador in Gestalt des Schrumpfkopfs 'am eigenen Leib, wenn er denn einen Leib hätte'."

Außerdem: Claudia Mäder berichtet in der NZZ von der Debatte in Frankreich darüber, ob Rimbaud und Verlaine nun ins Pantheon umgebettet werden sollen oder nicht.

Besprochen werden unter anderem Lydia Davis' "Es ist, wie's ist" (NZZ, Tagesspiegel), Gabriel Josipovicis "Wohin gehst du, mein Leben?" (SZ) und Charles Lewinskys "Der Halbbart" (FAZ). Mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr.
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Architektur

In der Berliner Zeitung überlegt Stephan Schütz vom Architektenbüro gmp, wie man den Autoverkehr beschränken könnte, der das Kulturforum in Westberlin zerschneidet, um mehr Platz für "Flaneure, Fahrradfahrer und Straßenbahnen" zu schaffen, bedenkt dabei aber nicht, dass sich Flaneure und Radfahrer ausschließen.

Besprochen werden die Berlin-Ausstellung "Unvollendete Metropole" im Kronprinzenpalais (Tagesspiegel) und eine Ausstellung aller Entwürfe für das Berliner Exilmuseum im Foyer der Berliner Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße (Tagesspiegel).
Archiv: Architektur
Stichwörter: Westberlin, Radfahrer

Bühne

In der nachtkritik warnt Thomas Rothschild vor einer Verarmung des Theaters, wenn immer weniger Kritiker darüber schreiben. Schuld daran sind die Einsparungen der Zeitungen: "Bis vor kurzem konnte man im Stuttgarter Raum - in der Stuttgarter Zeitung, den Stuttgarter Nachrichten und der Esslinger Zeitung - jeweils drei kompetente Rezensionen von Stuttgarter Premieren lesen. Das hat sich geändert. 'Der Besuch der alten Dame', der am 26. September Premiere hatte, wurde von einer Kollegin besucht, deren Kritik in allen drei genannten Zeitungen, die eine lange und ehrenwerte Geschichte haben, veröffentlicht wurde. Das ist das Ende der journalistischen Vielfalt, des kulturellen Diskurses, der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Meinungen. Das kann einem Theater nicht egal sein."

Triple Trouble - Naomi Uji im Ballett "Dancin' in Paradise". Foto: Silke Winkler


Zwei Kurzopern und ein Ballett - das ließ in Schwerin genug Zeit zum Zwischenlüften und sorgte für Abwechslung, meint in der nmz Arndt Voß, dem reinsten Eskapismus frönend: "Inhaltlich war der Vorteil, dass alle Sujets von Paaren mit unerfüllten, vielleicht unerfüllbaren, zumeist geheimen Wünschen und Träumen handeln - ein Thema, das es wohl überall und zu allen Zeiten gab und gibt, ungeeignet deshalb auch, Aktuelles oder Politisches zuzumischen. So kann man die Musik uneingeschränkt genießen, zumal beide Opern die Zeit um 1950 klangvoll repräsentieren und nirgendwo anders als in Amerika vorstellbar sind, damals ein Staat mit einem angenehmen  Nimbus. Die eine ist Samuel Barbers 'A Hand of Bridge', 1959 uraufgeführt, die andere Leonard Bernsteins sieben Jahre vorher entstandenes 'Trouble in Tahiti'."

Weitere Artikel: Michael Ernst war für die nmz bei der Eröffnung des 7. Janáček-Festivals in Brno mit Janáčeks Oper "Osud" (Schicksal). Besprochen wird noch Susanne Lietzows Inszenierung der "Gefährlichen Liebschaften" im Landestheater Linz ("So geht Briefroman!", lobt Margarete Affenzeller im Standard)
Archiv: Bühne