Heute in den Feuilletons

"Wer liebt hier eigentlich wen?"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.11.2007. In der Welt sieht Andre Glucksmann den eingekerkerten Oligarchen Michail Chodorkowski als den Sacharow unserer Tage. Spiegel Online zitiert kartellrechtliche Bedenken gegen mögliche Deals zwischen den Öffentlich-Rechtlichen und den großen Zeitungen im Netz. In der NZZ verteidigt der argentinische Autor Martin Kohan den venezolanischen Populisten Hugo Chavez. Die taz hört noch einmal die letzte aller denkbaren Jazzplatten, Miles Davis' "On the Corner". Die FR bewundert nach den Urteilen gegen die Attentäter von Madrid den spanischen Rechtsstaat. Die FAZ fragt: Was meint die taz mit Revisionismus?

Welt, 02.11.2007

Andre Glucksmann plädiert für den nach Sibirien weggesperrten Michail Chodorkowski, dem er eine ähnliche Rolle für sein Land weissagt, wie sie einst Andrej Sacharow spielte: "Chodorkowski ist sicherlich kein Unschuldslamm. Aber auch Sacharow war das nicht. Er machte als Physiker die sowjetische Wasserstoffbombe möglich. Doch als er sich der Unterdrückung und der Knechtschaft um ihn herum bewusst wurde, begann er, Dissidenten zu decken, und stellte sich der roten Diktatur entgegen. Chodorkowski, der Boss unter Bossen, stieß sich an der Rückkehr der Autokratie. Viele Russen, und Anna Politkowskaja insbesondere, haben mir gesagt: Er war reich, deshalb misstrauten ihm die kleinen Leute, aber in Russland ist das so: 'Wenn du ins Zuchthaus gehst und dich nicht dem Willen der Mächtigen beugst, findet in den Augen der Öffentlichkeit eine Läuterung statt.' Von der Welt im Stich gelassen, erhebt sein Widerstand Michail Chodorkowski zur großen Oppositionsfigur neben Garri Kasparow und Wladimir Bukowski." (Im Original ist der Artikel in Le Monde erschienen.)

Im Feuilleton findet Paul Badde den Begriff "Entartete Kunst" für einige Werke der neuesten Zeit doch irgendwie nicht ganz falsch. Sven Felix Kellerhoff antwortet auf Christian Semlers in der taz vorgebrachten "Revisionismus"-Vorwurf gegen Martin Mosebach. Kai Luehrs-Kaiser porträtiert den Dirigenten Donald Runnicles, der ab 2009 GMD an der Deutschen Oper Berlin wird, als unprätenziösen Alleskönner. Benno Kirsch, Autor einer Biografie über Walter Linse, greift in den Streit über die Frage ein, ob ein Preis der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen nach Linse benannt werden kann - wohl eher nicht, denn Linse, der 1952 von der Stasi entführt und in Moskau hingerichtet wurde, war in seinem früheren Leben an Arisierungen in Chemnitz beteiligt (allerdings belegen Indizien, dass er auch Juden geholfen haben soll). Gerhard Charles Rump wirft einen Blick auf die immer größere Kunstszene in China und stellt ein Museum in Ordos, in der Inneren Mongolei vor, das ein Unternehmer der zeitgenössischen Kunst des Landes widmet.

Besprochen werden das Stück "Room Service" mit Kurt Krömer an der Schaubühne, eine Ausstellung mit kubanischer Revolutionsfotografie in Hamburg und Tschaikowskys "Eugen Onegin" in der Regie Krzysztof Warlikowskis in München.

TAZ, 02.11.2007

Tobias Rapp empfiehlt wärmstens eine CD-Box zu einer der kontroversesten Platten des Jazz, Miles Davis' "On the Corner" von 1973: "Eine Jazzplatte, damit nie wieder eine Jazzplatte erscheinen muss. Denn das war Miles Davis' Idee. Mit 'On The Corner' wollte er den Jazz abschaffen. Mit seinen vorhergehenden Platten hatte er den Jazz elektrifiziert, er hatte Jazz und Rock verschmolzen - nun sollte es noch einen Schritt weiter gehen. Dafür holte Davis sich den britischen Avantgarde-Komponisten Paul Buckmaster nach New York, der ein paar Alben mitbrachte, unter anderem Aufnahmen von Karl-Heinz Stockhausen, die Miles Davis so beeindruckten, dass er sie tagelang auf der Hausanlage seiner New Yorker Stadtvilla laufen ließ und in sein Auto mitnahm. Und er holte sich lauter junge Musiker, denen er verbot, 'Jazz' zu spielen, und die er ansonsten einfach machen ließ."

Weiteres: Cristina Nord porträtiert die feministische Exploitation-Regisseurin Stephanie Rothman, die sie auf dem Wiener Filmfestival erlebt hat. Frieder Reininghaus kann über das mittlerweile vierjährige Besetzungsgerangel um einen Intendanten für die Kölner Oper nur den Kopf schütteln. Besprochen wird der als Konzertfilm getarnte Heimatfilm "Heima" der isländischen Popgruppe Sigur Ros.

In der zweiten taz weist Arno Frank auf die Maddie-Satire der Titanic hin, die in England hohe Wellen schlägt. Die Münchner Abendzeitung sucht nach einem Chefredakteur, informiert Sarah Stricker im Medienteil. Im Meinungsteil findet Heiner Bielefeldt, Leiter des Deutschen Instituts für Menschenrechte, die Islamdebatte zu stereotpy. Nur die Politiker seien da schon etwas weiter, die "zwischen Islam, Islamismus und Terrorismus" unterscheiden.

Schließlich Tom.

Spiegel Online, 02.11.2007

Nach der Kritik Frank Schirrmachers an den Öffentlich-Rechtlichen (alle Links hier) und und Äußerungen des Zeitungsverlegerverbands, die sich vor allem gegen Texte auf den Seiten der Sender wenden, untersucht Helmut Merschmann die Frage, ob es zu einem Deal zwischen den Dinosauriern der etablierten Medienwelt kommen kann, und er macht darauf aufmerksam, dass es doch auch Bedenken gibt: "Man hat 'schnell ein kartellrechtliches Problem', erläutert Bernd Holznagel, Professor für Medienrecht an der Uni Münster, wenn es zwischen Rundfunkanstalten in einem Bundesland und auflagenstarken regionalen Zeitungsverlagen zu Tauschhandel und 'publizistischen Absprachen kommt, die den Markt abriegeln'."

NZZ, 02.11.2007

"Was ist Chavez?" fragt sich der argentinische Schriftsteller Martin Kohan: "Chavez lässt sich nur verstehen, wenn man bedenkt, was die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts für die Länder Lateinamerikas bedeutet haben. Das neoliberale Konzept führte zu einem exponentiellen Anstieg unmenschlichster Armut unter den dort lebenden Gesellschaften, zu wachsender Verschuldung bei den internationalen Finanzmächten, zu obszöner Korruption, die ungeniert in aller Öffentlichkeit agieren konnte, zu skandalöser Straflosigkeit auch noch so gravierender Verbrechen. Es war das Jahrzehnt, in dem ein Menem, ein Fujimori, ein Collor de Mello regierten, ein Jahrzehnt, das in Argentinien die Diktatoren Videla und Massera unbehelligt ließ und den chilenischen Diktator Pinochet zum Senator auf Lebenszeit ernannte... Die gegenwärtige Politik in Lateinamerika erweist sich so als Reaktion auf die langjährige Herrschaft der Würdelosigkeit."

Weiteres: Joachim Güntner besucht den Auftakt der Leipziger Poetikvorlesungen mit Schriftsteller Ingo Schulze. Heinz Kersten gratuliert dem Dokumentarfilmfestival Leipzig zu seinem 50. Geburtstag. Besprochen werden Aufführungen zweier Tschaikowsky-Stücke, "Eugen Onegin", inszeniert von Regisseur Krzysztof Warlikowski an der Bayerischen Staatsoper München und "Pique Dame", inszeniert von Regisseurin Vera Nemirova an der Wiener Staatsoper und CDs mit Aufnahmen des russischen Dirigenten Jewgeny Mrawinsky und den Leningrader Philharmonikern.

Auf der Medienseite meldet "ras.", dass die BBC trotz heimischen Sparzwangs international auf Expansionskurs geht: 30 neue Fernsehkanäle will sie weltweit einführen, in den Bereichen Wissen, Unterhaltung, Lifestyle und Kinder. "Der kommerzielle internationale Zweig der BBC erschließt der inländischen BBC neue Einnahmen. So hat BBC Worldwide den Auftrag, innerhalb von fünf Jahren den Gewinn auf 222 Millionen Pfund zu verdoppeln." Und S.B. berichtet von den Verwirrungen um die Einführung des Digitalradios, auf das die Schweiz als erstes Land der Welt komplett umsteigen will. Das Problem dabei sind offenbar unterschiedliche Standards bei dem Empfangsgeräten.

FR, 02.11.2007

Christian Schlüter lobt Gericht und Regierung Spaniens, die gegen die Attentäter von Madrid eine europäisch-rechtstaatliche Antwort auf den Terror gefunden hätten. "Nicht nur wollte man irgendwelchen haltlosen Verschwörungstheorien über Herkunft oder Heimat des Terrors nicht folgen, Geständnisse in geheimen Gefängnissen oder Folterlagern nicht erpressen und den Angeklagten eine Verteidigung nicht verwehren. Das Gerichtsverfahren fand auch in aller Öffentlichkeit statt und wurde sogar im Fernsehen und Internet übertragen. Dass jetzt noch alle Gerichtsakten auf einer DVD erhältlich sind, macht dann schon beinahe fassungslos: Wo nicht nur in Großbritannien, sondern auch einigen anderen europäischen Ländern, nicht zuletzt auch in Deutschland, ernsthaft über die massive Einschränkung demokratischer Grundrechte nachgedacht wird, will sich der spanische Rechtsstaat tatsächlich an seinen eigenen Ansprüchen messen lassen, will seinen Bürgern nachvollziehbar und überprüfbar sein."

Weitere Artikel: Judith von Sternburg besichtigt die sparzerzauste Thüringer Theaterlandschaft, die ab der nächsten Spielzeit nur noch aus sechs Häusern bestehen wird. Reinhard Lüke unterhält sich mit Bastian Pastewka über die neue Staffel der Comedy-Serie "Pastewka". Hans-Jürgen Linke kommentiert in einer Times mager die neue Runde der Suche nach einem Intendanten für die Kölner Oper.

Besprochen werden Tschaikowskys "Eugen Onegin" in der Version von Kent Nagano und Krzysztof Warlikowski an der Münchner Staatsoper, ein Konzert des kanadischen Sängers Michael Buble in Frankfurt und Mark Z. Danielewskis Roman "Das Haus" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 02.11.2007

In Neapel feiert eine Ausstellung den lange eher belächelten Maler Lawrence Alma-Tadema, der im 19. Jahrhundert den Alltag der Antike auf Leinwände imaginierte (Bilder). Julia Voss erklärt, warum mancher heute findet, dass das respektiert gehört: "Bisher stand Alma-Tadema noch immer im Ruf, die Antike in Großformaten mit viel Farbe parfümiert zu haben. Dagegen wird in Neapel nun die erbsenzählerische Genauigkeit gehalten, mit der der Künstler seine Werke recherchierte. Für sich entdeckte Alma-Tadema die Römerzeit auf der ersten Reise nach Italien im Jahr 1863. Seine Ankunft in Pompeji fiel in die Zeit, in der unter der Leitung von Giuseppe Fiorelli mit systematischen Ausgrabungen begonnen worden war und plötzlich eine Fülle von Gebrauchsgegenständen ans Licht kam, die Bruchstücke einer verschütteten Alltagsgeschichte. Alma-Tadema reagierte auf diese Entdeckungen mit einer Idee, die zuerst so schlicht klingt, dass man stutzt: Die Menschen des Altertums fühlten und dachten wie wir."

Weitere Artikel: In der Glosse findet Lorenz Jäger scharfe Worte gegen den Ex-Maoisten Christian Semler von der taz, der in einem Kommentar Martin Mosebach "Revisionismus" vorgeworfen hatte: "Wer des 'Revisionismus' im heutigen Sinn geziehen wird, des 'Geschichtsrevisionismus' gar, der soll einfach nur ausgeschaltet werden." Die Kinderbuch-Bestseller-Autorin Cornelia Funke kündigt im Interview an: "Mein nächster Schritt ist jetzt, auf Englisch zu schreiben." Jordan Mejias warnt vor finsteren Kino- und Fernsehzeiten, wenn die Drehbuchautoren in den USA wirklich, wie angekündigt, ernsthaft in Streik treten sollten. Nur den Kopf schütteln kann Andreas Rossmann angesichts der Kölner Kulturpolitik. Eduard Beaucamp freut sich, dass es dank der Kardinal Meisnerschen Vorbehalte gegen Gerhard Richters Kirchenfenster endlich mal wieder eine Debatte um Kunst gab, in Zeiten, in denen sonst offenbar alles einfach so hingenommen wird. Klaus Rainer Röhl erinnert an den Berliner BVG-Streik vor 75 Jahren. Mark Siemons stellt das neue Pekinger "Ullens Center for Contemporary Art" vor. Den designierten Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin Donald Runnicles porträtiert Gerhard Rohde. Klaus Herding schreibt zum Tod der Kunsthistorikerin und FAZ-Mitarbeiterin Katja Tönnesmann. Auf der Medienseite weist Hannes Hintermeier auf ein W.G. Sebald-Porträt hin, das am Sonntag im Bayrischen Fernsehen zu sehen ist.

Besprochen werden Thomas Ostermeiers Komödien-Debüt-Inszenierung "Room Service", die aber, wie Irene Bazinger findet, auch - oder gerade - Kurt Krömer nicht retten kann, ein Frankfurter Konzert von Michael Buble, zweimal Tschaikowsky, nämlich eine "Pique Dame" in Wien und ein "Onegin" in München, und Bücher, darunter Band eins der Jean-Amery-Werkausgabe (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 02.11.2007

Durchaus nicht platt findet Christine Lemke-Matwey Krzsysztof Warlikowskis Inszenierung von Tschaikowskys "Eugen Onegin" als Brokeback-Mountain-Drama an der Bayerischen Staatsoper: "Ein veritables Cowboy-Ballett zur Polonaise im dritten Akt, nackte Oberkörper, eine Handvoll Tunten, die zum Ball des Fürsten Gremin über die Bühne stöckeln, ein tristes Motel, in das sich Onegin und Lenski zum 'Duell' zurückziehen, ein Ehebett, in dem es rasch zum verzweifelten Liebesmord kommt: All dies ist naturgemäß mehr Ang Lee geschuldet und der Kinokunst des 21. Jahrhunderts als Alexander Puschkin, und vielleicht müsste man der Regie das vorwerfen (auch ist Homosexualität in Polen gewiss ein größeres Thema und Tabu als in München). Puschkin allerdings dürfte sich spätestens seit Tschaikowskys Oper im Grabe umdrehen, und so stellen sich im Laufe des Abends doch ein paar erfrischend freimütige, überraschend einfache Fragen: Wer liebt hier eigentlich wen."

SZ, 02.11.2007

In einem interessanten Moment ihrer Geschichte besuchte Ingo Petz die Inselgruppe Tokelau. Und er ist nicht allein: "30 zähe Stunden hat die Fahrt auf der tattrigen 'Lady Naomi' gedauert, einst eine japanische Hafenfähre, von der Samoanischen Hauptstadt Apia zu einem der abgeschiedensten Länder der Welt. An Bord: Zwei blaue Wahlurnen, eine Handvoll Journalisten, Vertreter der neuseeländischen Regierung, die Tokelau als Kolonialmacht seit 81 Jahren verwaltet. Außerdem Abgesandte des UN-Komitees für Dekolonialisierung. Tokelau soll darüber abstimmen, ob es künftig seine Geschicke selber regeln will, weitgehend ohne Neuseeland. Im Fachjargon der Völkerrechtler heißt der angestrebte Status Quo 'Selbstverwaltung in freier Assoziation mit Neuseeland.' Es wäre die Illusion von Freiheit: Tokelaus Einnahmen bestehen aus dem Verkauf von Briefmarken und gepressten Aluminium-Dosen - und neuseeländischen Hilfszahlungen."

Weitere Artikel: In den Nachfolgestaaten Jugoslawiens wird zwar immer noch mehr oder weniger die gleiche Sprache gesprochen. Doch erwähnen sollte das niemand, meint Enver Robelli: "Nach den ethnischen Säuberungen setzen die herrschenden Eliten nun auch die sprachliche Trennung fort." Jörg Königsdorf meldet, dass der Schotte Donald Runnicles ab 2009 neuer Chefdirigent der Deutschen Oper in Berlin wird. Und Lothar Müller begrüßt einen Schwung neuer Thomas-Mann-Briefe in der Berliner Staatsbibliothek.

Auf einer eigenen Seite geht es um den prekären Zustand des öffentlichen Raums. Andrian Kreye meint, dass Wirtschaft und Demokratie im öffentlichen Raum nicht harmonieren. Jean-Michel Berg erklärt Unternehmens-Blogs zu reinen Marketinginstrumenten. Gerhard Matzig stöhnt darüber, wie Städte ihre Plätze opfern. Johan Schloemann erklärt den demokratischen Städtebau zur Illusion.

Besprochen werden Tschaikowskys "Eugen Onegin" an der Bayerischen Staatsoper unter Kent Nagano und Krzysztof Warlikowski, Thomas Ostermeiers "vergeigte" Version der Broadway-Komödie "Room Service" mit Kurt Krömer an der Berliner Schaubühne, ein Gastspiel des Mailänder Scala-Orchesters in München, Ray Lawrences Film "Jindabyne - Irgendwo in Australien", und Bücher, darunter Klas Östergrens Krimi "Gangster" sowie Karl Holls Biografie des Pazifisten Ludwig Quidde.