Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.07.2003. Die FAZ beschreibt neue Wege des Sponsoring im Theater Ingolstadt. Die taz sieht den Papst auf einer Linie mit Attac. Die SZ befasst sich ausführlich mit einer Denkschrift Ernst Jüngers zu Geiselerschießungen im Zweiten Weltkrieg und mit Jüngers "kaltem Blick". In der NZZ erklärt Rem Kohlhaas seine Vorliebe für Architektur unter chinesischen Bedingungen.

FAZ, 14.07.2003

Das Theater Ingolstadt beschreitet neue Wege des Sponsoring, wie Gerhard Stadelmaier mit investigativem Blick in den Saisonprospekt herausfand: "Hier präsentieren sich die Mimen in ganzseitigen Tiefdruckfarbenseiten zum Beispiel mit der übers ganze Gebiss strahlenden Chefin der Firma 'Indoc. Prophylaxe. Alles Gute für Ihre Zähne-Shop'. Die Beißerin definiert, was in der Theaterzahnpaste steckt: 'Theater? Dem Alltag die Zähne zeigen.' Oder der Beau des Ensembles posiert samt einem Saxophon mit der offenbar so blonden wie hingerissenen Chefin des Autohauses 'Mori Schöberl' vor einem Maserati-Cabrio. Und Bella Maseratissima definiert, was unter der Theatermotorhaube brummstöhnt: 'Theater? Ein kraftvolles Ensemble aus betörendem Klang und verführerischer Optik.'" Ein weiterer Beweis, dass unser Land der Krise mit Ideen begegnet!

Weitere Artikel: Mark Siemons beklagt nach den Enthüllungen über die Fadenscheinigkeit der amerikanischen und britischen Kriegsgründe, dass "die Entscheidung über Krieg und Frieden nicht bloß von der öffentlichen Willensbildung, sondern auch von rationaler Nachprüfbarkeit" entkoppelt wird. Hans-Peter Riese schildert die Korruptionsvorwürfe gegen die Barnes Foundation in Philadelphia, die von der Öffentlichkeit besonders aufmerksam beobachtet werden, weil sie als eine der wenigen Stiftungen ausschließlich von Afroamerikanern verwaltet wird. Der Rechtsprofessor Gerd Roellecke wägt im Fall Maxim Biller, dessen Roman "Esra" wegen der Klage zweier Türkinnen verboten ist, Persönlichkeitsrecht und Kunstfreiheit ab. Der Historiker Johannes Paulmann erinnert daran, dass auch schon Kaiser Wilhelm II. aus Beleidigung Urlaube absagte. Andreas Rossmann meldet, dass das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt Europas werden will und beschreibt Mönchengladbacher Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag des Sohns der Stadt Hans Jonas. Christian Schwägerl entdeckt die polnische Begeisterung für die Berliner Loveparade. Uwe Neumärker beklagt, dass das ostpreußische Schloss Grünhoff der von Bülows dem Verfall preisgegeben sei. Anne Schneppen beschreibt in der Metropolenserie das durch die Krise nicht mehr ganz so teure Leben in Tokio.

Auf der Medienseite beschreibt Michael Hanfeld die Blüte der Reality-Show-Formate im Privatfernsehen. Und Agron Bajrami von der kosowarischen Tageszeitung Koha ditore schildert die schwierigen Arbeitsbedingungen der Presse im Kosowo. Auf der letzten Seite rät der Kirchenhistoriker Wolfram Kinzig der methodistischen Kirche der USA, ihr Mitglied George W. Bush wegen lügenhafter Kriegsbegründung auszuschließen, "will sie sich nicht dem Verdacht aussetzen, ihre Kirchenordnung sei beliebig". Günter Paul stellt einen 13 Milliarden alten Planeten im Kugelsternhaufen M 4 der Milchstraße vor, auf dem aber wahrscheinlich kein intelligentes Leben besteht. Robert von Lucius hat das Stück "Nemesis" von Alfred Nobel gelesen, das, kaum bekannt, ausgerechnet von einem Esperanto-Verlag wieder herausgebracht wird - es enthält scharfe Angriffe auf die katholische Kirche.

Besprochen werden Rene Polleschs Stück "LSD" in Stuttgart und Sachbücher, darunter Wolfdieter Haas' "Welt im Wandel" über Europa im Hochmittelalter.

TAZ, 14.07.2003

Christian Semler legt ein Sendschreiben des Papstes aus, "Ecclesia in Europa", in dem Johannes Paul II die katholische Kirche als Modell für eine offenes Europa preist - und in dem sich die für diesen Papst so typische Mischung finde "aus selbstgewissem, von jedem Argument unangefochtenem Doktrinarismus und aus Einsichten in politische und ökonomischen Prozesse, die sich oft genug mit Grundpositionen der Linken treffen". "Die internationale Zusammenarbeit muss, dem Sendschreiben nach, neu überdacht werden, und zwar 'im Sinn einer neuen Kultur der Solidarität'. Weder der nationale noch der Weltmarkt bringt sozial akzeptable Ergebnisse hervor. Im Anschluss statuiert der Papst im Sendschreiben: 'Der Markt verlangt, dass er von den sozialen Kräften und vom Staat in angemessener Weise kontrolliert werde, um die Befriedigung der Grundbedürfnisse der gesamten Gesellschaft zu gewährleisten.' Das hätte die "soziale Kraft" Attac nicht besser sagen können."

Daniel Boese stellt die New Yorker Künstler-Organisation "Creative Time", die die Stadt mit Installationen im Polizeirevier, Ballons in Bahnhofshallen und nebligem Leuchtfeuer in Ground Zero bereichere. Harald Fricke würdigt den britische Maler und Vater der Pop-Art, Richard Hamilton, dem das Kölner Museum Ludwig eine großangelegte Retrospektive widmet.

Auf einer der vorderen Seiten sprechen Rolf Lautenschläger und Thies Schröder mit Bauhaus-Direktor Omar Akbar, der die geplanten Abrissarbeiten zur Internationalen Bauausstellung 2010 ungeheuer konstruktiv findet. Und auf der Medienseite unterhält sich Judith Reker mit Roberto Blanco über seine Strategie, sich mit positivem Denken und Dauerlächeln den alltäglichen Rassismus vom Leib zu halten.


NZZ, 14.07.2003

Der Architekt Rem Koolhaas (mehr hier) baut lieber in "hässlichen Städten" wie Rotterdam, da er dort mehr Gestaltungsmöglichkeiten sieht, erklärt Klaus Englert. Die Einflussnahme von Architekten ist stark zurückgegangen, klagt Koolhaas im Gespräch, weil die Investoren nicht mehr in großem Stil bauen. "Es überrascht, dass Koolhaas' Investorenschelte ausgerechnet vor dem neuen Auftraggeber Halt macht: dem staatlichen chinesischen Fernsehen in Peking. Bei den Chinesen rühmt er, dass sie eine Architektur zulassen, die eben nicht unter dem Diktat kapitalistischer Marktverhältnisse steht. 'Wir errichten eine ziemlich verwegene Turmkonstruktion, in der wir alle möglichen Aktivitäten unterbringen - Studios, Verwaltung, Sender usw. In Europa oder Amerika würde man die Studios ins Grüne verlegen, die Verwaltung ins Geschäftsviertel, die Kreativen in die Altstadt. Diese Abtrennung der Bereiche folgt den ökonomischen Gesetzmässigkeiten. Wir als Architekten akzeptieren diese Entfremdungen, indem wir die entscheidende Rolle des Geldes anerkennen. Erst in China hatten wir die Chance, die getrennten Bereiche wieder zusammenzuführen. Natürlich macht dies keinen wirtschaftlichen Sinn, aber es ist ein großartiges Konzept.'"

In Großbritannien bringt Geldnot die Upper Class dazu, ihre Kunst ins Ausland zu verkaufen, berichtet Georges Waser. Der Unterhalt ihrer Häuser sei so kostspielig, dass sie ihn sonst einfach nicht mehr finanzieren können, zumal es bei den Einnahmen der Tourismusindustrie massive Einbrüche gab, begründet Waser dieses Malheur. Raffaels "Nelkenmadonna" ist somit wohl auch nicht das letzte Werk, dass ins Ausland verkauft wurde, meint Waser.

Weitere Artikel: In einem Interview hält Alfred Wopmann Rückschau auf seine Intendanz bei den Bregenzer Festspielen. Hanno Helbling liefert den zweiten Teil seiner Reihe über Regie im Theater. Andreas Oplatka sucht nach Joseph Haydns Inspiration im Burgenland. Und liv. berichtet über eine Tagung in St. Gallen zur Rolle der Medien im israelisch-palästinensichen Konflikt.

FR, 14.07.2003

Ole Frahm feiert die Berliner Ausstellung des Comiczeichners Art Spiegelman im Martin-Gropius-Bau, dessen böse Karikaturen zur Lage der Nation selbst der New Yorker nicht mehr auf sein Cover nehmen wollte. Für antiamerikanische Vereinnahmungen taugen sei dennoch nicht, versichert Frahm, denn dafür seien sie viel zu amerikanisch. Rüdiger Suchsland berichtet von einer Tagung auf Schloss Elmau zum Nahost-Konflikt, auf der der israelische Philosoph Avishai Margalit (mehr hier) die Möglichkeit eines "gerechten Friedens" bestritt.

Thomas Fitzel bedauert, dass der Berliner Leiter des italienischen Kulturinstituts, Ugo Perone, seinen Hut nehmen muss. Außer politischen gebe es dafür keine ersichtlichen Gründe. In Times mager behauptet Michael Rudolf, dass es nichts Schöneres gibt, als mit einem Rad Verkehr zu haben, und dies außerdem gegen die innere Zerrissenheit helfe. Karin Ceballos Betancur beklagt die Schließung von vier Stadtbüchereien in Frankfurt. Christian Broecking würdigt Wynton Marsalis' jazzkulturelle Basisarbeit in Berlin. Besprochen wird eine Ausstellung in Leipzig, die der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Identität gewidmet ist.

SZ, 14.07.2003

Michel Chaouli, Literaturwissenschaftler an der Indiana University, Bloomington (USA), fragt sich, warum deutsche Kulturpolitiker das amerikanische Universitäts-Modell bewundern, obwohl sie nur wenig Ahnung davon haben: "In Harvard drücken sich deutsche Bildungspolitiker und Universitätsverwalter die Klinke in die Hand: sie alle wollen wissen, warum so etwas Schönes nicht auch in Deutschland zu haben ist, reagieren aber betreten, wenn sie erfahren, dass die Universität nur zehn Prozent ihrer Bewerber aufnimmt, über ein Vermögen von rund 18 Milliarden Dollar verfügt, dabei dennoch jährliche Studiengebühren in Höhe von 26.000 Dollar verlangt." Völlig "unamerikanisch" findet Chaouli auch, dass Politiker die Reformen planen, statt dies den Universitäten selbst zu überlassen.

Die SZ druckt einen Auszug aus einer Denkschrift, die Ernst Jüngers 1942 zu den Geiselerschießungen in Frankreich verfasst hatte. Die Schrift wird von Sven Olaf Berggötz in der Juli-Ausgabe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte erstmals publiziert werden. Hintergrund ist das Attentat auf einen Wehrmachtssoldaten 1941. In Berlin verlangte man darauf, dass künftig für jedes Attentat erst drei, später fünfzig oder hundert Geiseln erschossen werden sollten. Die Militärbefehlshaber in Frankreich um Otto Stülpnagel kritisierten diese Anweisung, weil sie die Ausplünderung Frankreichs erschweren würde. Statt dessen machte man den Vorschlag, künftig bei jedem Attentat "eine größere Anzahl Kommunisten und Juden in den Osten" zu deportieren, berichtet Christian Jostmann. Jüngers Denkschrift, erklärt er, "beschränkt sich darauf, die Attentate in chronologischer Folge zu schildern und über die Anzahl der erschossenen Geiseln minutiös Buch zu führen, wie sie auch die Reaktionen des OKW, der Franzosen und des Auslands genau verzeichnet. Die Eskalation wird so auf einen tragischen Mechanismus reduziert, in dem der Militärbefehlshaber nur scheitern konnte. Den fatalen Zusammenhang zwischen Repression und Holocaust problematisiert die Denkschrift nicht."

Dazu gibt es noch ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Helmut Lethen über den "kalten Blick" Ernst Jüngers und über die Frage, ob die Denkschrift "womöglich auch als Literatur gelesen werden kann".

Weitere Artikel: Burkhard Müller berichtet vom Streit über das geplante "Haus der Archäologie" in Chemnitz. Untergebracht werden soll es im alten Kaufhaus Schocken, das Erich Mendelsohn 1930 für die Kette der Brüder Simon und Salman Schocken errichtet hatte. Doch schon jetzt wehren sich die sächsischen Sammlungen und Museen heftig dagegen, etwas von ihren Schätzen herauszugeben. Slavenka Drakulic ärgert sich über die "unerträglich optimistische" Konferenz zur Integration von Minderheiten in Zagreb: Niemand sprach vom Krieg, niemand von der befürchteten Rückkehr der vertriebenen Serben. Stefan Koldehoff stellt die Website "lostart.de" vor, mit deren Hilfe Ansprüche auf geraubte Kunst recherchiert werden können. Kristina Maidt-Zinke schwärmt von der "atemberaubenden Differenzierungskunst", dem "sprühenden darstellerischen Temperament", dem "glockenreinen Ton" der Sopranistin Anna Netrebko, die demnächst in München als Violetta auftreten wird. C. Bernd Sucher beschreibt die Katerstimmung in Frankreich nach den abgesagten Festivals. Petra Steinberger war bei einer Elmauer Tagung zum israelisch-palästinensischen Konflikt. Jürgen Berger schildert die Demontage des Heidelberger Theaters durch seinen Intendanten Günther Beelitz. jumo stellt kurz den neuen brasilianischen Kulturminister vor, den Sänger Gilberto Gil. Gottfried Knapp gratuliert dem Sammler und Mäzen Herzog Franz von Bayern zum Siebzigsten.

Besprochen werden eine Ausstellung der Fotografien Bob Willoughbys von Frank Sinatra im Ernst Barlach Museum Wedel, der Film "Standing in the Shadows of Motown", die Aufführungen von Ibsens "Peer Gynt" und Rene Polleschs "LSD" am Stuttgarter Staatsschauspiel und Bücher, darunter zwei Bände über die Entschädigung der Zwangsarbeiter und Yvonne Riekers Studie über italienische Gastarbeiter in Deutschland "Ein Stück Heimat findet man ja immer" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).