Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.12.2005. In der SZ erklärt Tony Judt, warum die USA ein "Dritte-Welt-Land" sei und warum in Europa die politische Klasse versagt. Die Welt fragt, warum Gregor Schneider seinen schwarzen Kubus nicht vorm Hamburger Bahnhof in Berlin aufstellen soll: Aus Angst vor dem Terror? Die taz feiert die Pariser Dada-Ausstellung als mehrsprachige Enzyklopädie einer der radikalsten Avantgardebewegungen.

NZZ, 07.12.2005

Der knallige Werbetrailer zu "The Lion, the Witch and the Wardrobe", dem zweiten Teil der "Chronicles of Narnia" von C. S. Lewis, ist nur ein Etikettenschwindel, seufzt Thomas Binotto beglückt. Regisseur Andrew Adamson hat keinen rasanten Actionfilm gedreht, sondern "ein kindlich verspieltes Abenteuer" (Filmwebsite). Binotto erinnert daran, dass die "Chronicles" gleichzeitig mit Tolkiens "Herr der Ringe" erschienen waren: "Für Tolkien war 'The Lion, the Witch and the Wardrobe' ein inakzeptables Leichtgewicht: 'Das geht wirklich nicht. Ich meine: "Nymphen und ihre Gepflogenheiten", "Das Liebesleben eines Fauns"!' Er warf Lewis vor, es mit der Mythologie allzu locker zu nehmen. Für Tolkien steckten zu viele Märchenelemente in diesen Büchern, zu viele Widersprüche und zu viel Lust am Nonsens ... Es ist, als ob Adamson um diese Auseinandersetzung wüsste - und sich überzeugt auf die Seite von Lewis geschlagen hätte."

Weiteres Franz Schuh grübelt über das Phänomen des berühmten Dirigenten. Besprochen werden eine Ausstellung der Klavierbauer-Firma M. Welte & Söhne, im Augustinermuseum Freiburg i. br. und Bücher, darunter Kinderbücher von Eoin Colfer und David Melling (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 07.12.2005

In einer ausführlichen Besprechung stellt Esther Buss die große Dada-Ausstellung im Pariser Centre Pompidou vor. Eine "fette, mehrsprachige Enzyklopädie einer der radikalsten und vor allem expansivsten Avantgardebewegungen des letzten Jahrhunderts" ist hier zusammengetragen worden, freut sie sich. "Der oftmals verabsolutierende Charakter der dadaistischen Idee zeigte sich im bevorzugten Genre jeder Avantgardebewegung: dem Manifest. Der unbedingte Wille, sich zu entäußern führte zu einem wahren Publikationsfieber. (...) In einem nicht enden wollenden Schaukasten sind Hunderte von grafischen Entwürfen, Zeichnungen und Skripte des geplanten 'Dadaglobe' zusammengetragen worden. Buchstaben- und Zeichenschwärme kommen einem da entgegen und man hat irgendwie das Gefühl, dass plötzlich alles in Bewegung gerät. Die Papiere in den Vitrinen haben überhaupt nichts Staubiges oder Muffiges."

Michael Ringel würdigt den verstorbenen Hanns Dieter Hüsch als Kabarettisten mit "pfeilschnellem Vaudeville-Witz, heimeliger Provinzialität und einem schrulligen Größenwahn". Und Martin Zeyn bescheinigt Andrew Adamsons Verfilmung der "Chroniken von Narnia" "sklavische Treue gegenüber der Buchvorlage".

Schließlich Tom.

FR, 07.12.2005

Peter Urban erklärt im Interview, warum Venedikt Jerofejews Buch "Moskau - Petuschki" mehr ist als eine feucht-fröhliche Säufernovelle. In Times mager kommentiert Christian Schlüter die Verwicklung der rot-grünen Bundesregierung in die CIA-Affäre: "Schily hat ein Erbe angetreten und weitergereicht: das Kanther-Syndrom, nunmehr als Bigotterie im Weltmaßstab." Daniel Bartezko schreibt den Nachruf auf den Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch, die "intellektuelle Stimme unter den politischen Wortartisten".

Besprochen werden die Ausstellung "Lichtkunst aus Kunstlicht" am Karlsruher ZKM und Bücher, darunter der zweite Band der Erinnerungen von Helmut Kohl, der Roman "Herr der Hörner" von Matthias Politycki und Uljana Wolfs Gedichtband "kochanie ich habe brot gekauft" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Außerdem liegt der FR heute eine 32-seitige Literaturbeilage bei, die wir in den nächsten Tagen auswerten.

Welt, 07.12.2005

Gregor Schneider hatte in Venedig einen schwarzen Kubus zeigen wollen, der an die Kaaba in Mekka erinnerte. Es wurde ihm verboten, und Schneider durfte nicht einmal den Briefwechsel mit der Auseinandersetzung um das Projekt publizieren. Nun wollte Gregor Scheider seinen Kubus in Berlin vor dem Hamburger Bahnhof aufbauen, soll es aber nach dem Willen Peter Klaus Schusters von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz wieder nicht dürfen. Uta Baier fragt: "Wer trotz massiver Proteste, Angriffe, Rücktrittsaufrufe die Kunstsammlung des Flick-Erben Friedrich Christian sieben Jahre lang zeigt, dürfte sich vor ein paar religiösen Diskussionen nicht fürchten. Oder ist es doch so, wie Schneider vermutet: Hat die Angst vor Terror Einfluss auf die künstlerische Freiheit?"

Weitere Artikel: Nach den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen der letzten Saison sieht Manuel Brug die Mailänder Scala pünktlich zur Saisoneröffnung durch den neuen Intendanten Stephane Lissner befriedet. Gernot Facius erinnert an das zweite vatikanische Konzil vor vierzig Jahren. Gemeldet wird, dass Gerhard Richters Archiv an die Kunstsammlungen Dresden geht. Christoph Gröner betrachtet das Videospiel "The Movies", das in Hollywood spielt. Uwe Wittstock schreibt zum Tod von Hanns Dieter Hüsch. Thomas Kielinger porträtiert den diesjährigen Turner-Preisträger Simon Starling als "einen Denker mit strengen Forschungsusancen".

Besprochen wird eine Choreografie Johann Kresniks nach Hans Christian Andersen in Bonn

Im Forum druckt die Welt einen Artikel Elisabeth Levys aus Le Point nach, der die wilde französische Debatte um Alain Finkielkrauts Äußerungen zu den Jugendunruhen in den Banlieues zusammenfasst (siehe unsere aktuelle Magazinrundschau).

Die Magazinseite bringt ein Porträt über Matt Dillon und ein Interview mit der Chansonsängerin Annett Louisan.

Berliner Zeitung, 07.12.2005

Arno Widmann ist mal wieder in Berlin (und sonstwo) unterwegs und erinnert sich unter anderem daran, wie es ist, die Brüste einer Schwangeren zu berühren: "Ich hatte das Gefühl schon ganz vergessen. Aber es lagert gleich einer vollgefressenen, aber immer startbereiten Wildkatze in meinem Fleisch und wartet darauf, hervor gekitzelt zu werden. Es liegt gleich neben dem Schmerz, der mich bei jeder ungeschickten Bewegung daran erinnert, dass ich vor zwei Jahren auf dem Eis ausrutschte und versuchte, mich mit der rechten Hand abzustützen."
Stichwörter: Berlin, Widmann, Arno

SZ, 07.12.2005

In einem ganzseitigen Interview über den Kampf der politischen Modelle in den USA und Europa lässt der britische Geschichtswissenschaftler Tony Judt (einige Artikel aus der New York Review of Books) aber auch wirklich nicht ein gutes Haar an Amerika oder Großbritannien. Und der neuen deutschen Regierung, die wieder eine Annäherung an die USA sucht, schreibt er ins Stammbuch: "Ich glaube, Angela Merkel verzerrt das Bild, weil sie ein Ossi ist. Ganz egal, ob sie die Tochter eines ostdeutschen Pastors nehmen oder einen polnischen Intellektuellen wie Adam Michnik oder einen Sohn der tschechischen Bourgeoisie wie Vaclav Havel - sie alle verbindet ein Instinkt, der eine Art Umkehrung des alten kommunistischen Instinktes darstellt. Beim Irak-Krieg konnte man das deutlich beobachten. Im Osten gibt es diese instinktive Sehnsucht, an das Gute in Washington zu glauben und allen, die kritisch über Washington denken, unehrenhafte Motive zu unterstellen. Die Schlussfolgerung lautet stets, wenn man für Menschenrechte und Freiheit ist, muss man auch für die Invasion im Irak sein. Havel beharrte darauf, dass dies eine untrennbare Einheit sei, er müsse den Umsturz von Diktaturen grundsätzlich unterstützen, sonst verrate er die eigene Vergangenheit in Prag."

Auf der Medienseite weist der designierte ARD-Sportchef Hagen Boßdorf in einem Interview die neuerlichen Stasi-Vorwürfe gegen ihn zurück. Die Birthler-Behörde habe erneut Journalisten mit Unterlagen versorgt, die er selbst nicht kenne. "Diese Behörde war zu Beginn der Neunziger sehr wichtig für die Aufarbeitung der Stasi-Strukturen und für die Rehabilitierung der Opfer. Inzwischen ist sie in meinen Augen ein Jagdverein gegen Ostdeutsche geworden."

Weiteres: Bernd Graf informiert über die "Entzauberung" der Online-Enzyklopädie Wikipedia durch schlechte, falsche und "blamable" Eintragungen, von denen man inzwischen weiß, dass "gerade bei historischen oder politischen Inhalten (...) regelrechte Grabenkämpfe um die Formulierungen toben. Alexander Menden porträtiert den diesjährigen Gewinner des Turner-Preises, den Konzeptkünstler Simon Starling. Arno Orzessek berichtet über die Verleihung des Meister-Eckhart-Preises an Ernst Tugendhat, der mit seinem kritischen Laudator Jan Philipp Reemtsma in Disput geriet. Dem "Strudel der Peinlichkeiten noch gerade entkommen" resümiert Christoph Bartmann das zu Ende gehende Andersen-Jahr in Dänemark. Andrian Krey berichtet über das "Affentheater" bei der Premiere von Peter Jacksons "King Kong" am New Yorker Times Square. Zwei Nachrufe würdigen Hanns Dieter Hüsch, Dieter Hildebrandt vor allem, dass er "subtiler, subkutan" politisch war.

Besprochen werden die C.S. Lewis-Verfilmung "Der König von Narnia", die "rätselhaft bizarren Installationen" von Bob Wilson anlässlich Mozarts 250. Geburtstag in dessen Salzburger Geburtshaus, und Bücher, darunter eine Studie zur deutschen Sexualität im 20. Jahrhundert, Jens Petersens Debütroman "Die Haushälterin" und ein Band über die Geschichte der großen Enzyklopädie von Diderot, d?Alembert und de Jaucourt, (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

FAZ, 07.12.2005

Dietmar Dath unternimmt in einem ausführlichen Aufmacher einen Streifzug durch christlichen Fantasy-Kitsch. Heinrich Wefing glossiert das Berlin-Hamburger Ringen um die Bahn. Gustav Falke hat in Berlin einem kunsthistorischen Kolloquium über "Landschaft und Ungegenständlichkeit" zugehört. Christiane Tewinkel verfolgte in Berlin eine Meisterklasse Dietrich Fischer-Dieskaus. Kerstin Holm begab sich zur Buchmesse in Moskau. Patrick Bahners schreibt zum Tod des Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch. Auf einer ganzen Seite wird eine Rede des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde über das literarische Genre der päpstlichen Enzyklika abgedruckt.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld, dass der der Sportreporter Hagen Boßdforf die ARD bereits 2002 ausführlich über seine ehemalige Stasitätigkeit aufklärte.

Auf der letzten Seite erzählt Frank Pergande die Geschichte des Literaturzentrums Neubrandenburg, eines Lieblingsobjekts der Stasi, das seine Geschichte bis heute kaum aufgearbeitet hat. Kerstin Holm zitiert russische Politiker, die sich fragen, ob eine Angela Merkel in Russland möglich wäre. Und Gina Thomas porträtiert den diesjährigen Turner-Preisträger Simon Starling, der sich in seiner Kunst mit ökologischen Themen befasst.

Besprochen werden der Fantasy-Film "Die Chroniken von Narnia" und eine Ausstellung mit Lichtkunst im Karlsruher ZKM.