Heute in den Feuilletons

Kultur des Aufhörens

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.03.2012. Gegenwartsliteratur entsteht eher auf Facebook als im Literaturbetrieb, meint der Tagesspiegel. In der Welt widerspricht Dan Diner Timothy Snyder: Der Nationalsozialismus war nicht wie der Kommunismus - wegen Auschwitz. Die FAZ ist froh, dass Deutschland nicht von Gockeln regiert wird, sondern von Angela Merkel. SZ und NZZ rümpfen die Nase: Klar kann man über Kultursubventionen diskutieren, aber intelligent, bitte. Und wie war's bei Kracht? Die taz verdreht die Augen.

Tagesspiegel, 17.03.2012

Wie soll er denn nun sein, der gute deutsche Gegenwartsroman? Johannes Schneider zuckt die Schultern: "Mit etwas jugendlichem Leichtsinn ließe sich da glatt Folgendes sagen: Wo das Netzwerk regiert, kann es eigentlich keine Werke mehr geben. Sie sind aufgelöst in kommunikativer Interaktion, in Rede und Gegenrede und einem beständigen Zusammenfallen von Produktion und Rezeption. Leichter wird unser Leben dadurch nicht, lediglich ehrlicher: Wo die Valuierungsmechanismen des Kultur- und Literaturbetriebs, wo die Adelung durch Veröffentlichung, nicht mehr greift, braucht es zum Erkennen einer ästhetischen Leistung tatsächlich ästhetisches Gespür, oder vielleicht eher: eine Ausbildung des Sehens und Lesens, einen lebendigen Abgleich des soeben Vorliegenden mit an anderer Lektüre gebildeten Parametern."
Stichwörter: Literaturbetrieb

FR/Berliner, 17.03.2012

Im Gespräch mit Birgit Walter verteidigt Stephan Opitz, einer der Autoren des umstrittenen Buches "Der Kulturinfarkt", noch einmal ihr Plädoyer für eine Schließung der Hälfte aller subventionierten Kultureinrichtungen: "Es gibt jede Menge Kulturinstitutionen, die viel zu wenig zum Leben, aber immer noch zu viel zum Sterben haben, wo es unverantwortlich ist, dass sich Politik nicht engagiert und erklärt, was sie will. Nirgendwo steht geschrieben, dass eine kulturelle Institution Ewigkeitswert hat. Wo es keine Bürger mehr gibt, schließen auch Schulen und Kirchen."

Weitere Artikel: Ursula Knapp und Sebastian Preuss melden, dass das Deutsche Historische Museum nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs zur Übergabe der 4000 Stücke umfassenden Plakatsammlung von Hans Sachs an dessen Erbe verurteilt wurde. Sabine Vogel schaut auf der Leipziger Buchmesse bei den Indies und Linken in Halle 5 vorbei und vergießt eine kleine Träne über den zwar feinen, mangels Rentabilität aber gerade vom Aufbau-Verlag aufgekauften Blumenbar-Verlag. Grete Götze war auf einem "schönen, leisen, lauten, leicht widerständigen Konzert" der Sängerin Feist in Frankfurt. Joachim Frank freut sich, dass im Streit um die Kölner Moschee zwischen dem Verein DITIB und dem Architekt Paul Böhm nun doch Versöhnung in Aussicht steht.

Besprochen werden eine Ausstellung über mittelalterliche Goldschmiedekunst im LWL-Landesmuseum und in der Domkammer zu Münster und eine Theaterinszenierung der Grimmschen Märchen im Theater Willy Praml in Frankfurt.

NZZ, 17.03.2012

Das Feuilleton versammelt vier Reaktionen auf ein Pamphlet von vier Kulturmanagern, die die heutige Kultursubventionen - die ihrer Ansicht nach eher mittelmäßiges fördern - in Frage stellen. Der Text erschien im Spiegel und ist ein Auszug aus dem Buch "Der Kulturinfarkt", das demnächst erscheint (Leseprobe). Vier NZZ-Redakteure winken schon mal ab: Roman Bucheli würde gern über Kulturpolitik streiten, "nur intelligenter". Peter Hagmann wirft den Autoren "mangelnde Branchenkenntnis" vor. Samuel Herzog findet die Autoren kapitalismusgläubig-naiv. Und Barbara Villiger Heilig fallen spontan zwei Künstler ein, die in Zürich für ihre riskant-kritischen Theaterinszenierungen abgestraft wurden.

Weiteres: In der Reihe "When the music's over" schreibt diesmal Hans Jürgen Balmes. Das Wiesenthal-Zentrum in Los Angeles hat Antisemitismusvorwürfe gegen die 1666 erstmals veröffentlichten "Passionspsalmen" des isländischen Pastors Hallgrimur Petursson erhoben, berichtet Aldo Keel (mehr dazu hier). Besprochen wird eine Ausstellung des Schweizer Künstlers Thomas Huber im Genfer Musée d'art moderne et contemporain.

In Literatur und Kunst erklärt Martin Zähringer, wie Immigranten in New York die amerikanische Literatur verändert haben. Die Architekten Matthias Sauerbruch und Louisa Hutton erläutern im Interview ihr Verständnis vom Bauen. Besprochen werden Bücher, darunter Péter Nádas' Roman "Parallelgeschichten" (dem Andreas Breitenstein den Aufmacher widmet) und ein Gedichtband von Endre Ady, "Gib mir deine Augen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 17.03.2012

Dirk Knipphals verdreht genervt die Augen angesichts all der "Wie war's?"-Fragen nachdem er die dann doch stattgefunden habende Lesung Christian Krachts auf der Leipziger Buchmesse besucht hat: "Natürlich schwingt vor allem die Frage mit, ob er etwas zu den Vorwürfen gesagt hat, der Türsteher rechtsradikalen Gedankenguts zu sein. Das hat Georg Diez also geschafft. Inhaltlich ist er mit seinem Artikel im Spiegel ganz und gar nicht durchgekommen. Aber er hat das Reden über Christian Kracht formatiert, vereinheitlicht. Eher fraglich, ob man auf so etwas stolz sein kann."

Weitere Artikel: Jan Scheper gratuliert der ARD zur 50. Folge ihres offenbar sehr erfolgreichen Radio-Tatorts, dessen Folgen man hier runterladen kann. Eva Behrendt trifft sich mit dem Berliner Szene-Urgestein Christiane Rösinger, die auch nach 28 Jahren in Kreuzberg noch immer anti-bürgerlich eingestellt ist. Andreas Fanizadeh erinnert sich beim Hörbuch-Hören mit amüsiertem Grausen an Franz-Josef Strauß. Bettina Gaus fragt sich, ob nach Filmen über Margaret Thatcher und J. Edgar Hoover in Zukunft auch mit einem Film über den Republikaner-Rechtsaußen Rick Santorum zu rechnen ist. Sheila Mysorekar macht den deutschen Arbeitnehmern den Islam schmackhaft, weil nach dessen Feiertagskalender zwei zusätzliche freie Feiertage drin sein könnten.

Besprochen werden der Dokumentarfilm "Generation Kunduz", eine dem japanischen Bildhauer Yuji Takeoka gewidmete Retrospektive im Gerhard-Marcks-Haus in Bremen, Alexandra Kardinars und Volker Schlechts Graphic Novel "Das Fräulein von Scuderi" nach Hoffmanns gleichnamiger Erzählung und Bücher, darunter Walter Kappachers Erzählung "Land der roten Steine" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 17.03.2012

Der Historiker Dan Diner erhebt in der Literarischen Welt Einspruch gegen Timothy Snyders gerade mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten "Bloodlands", in denen der Historiker eine raumzeitliche Einheit von nationalsozialistischem und stalinistischem Morden in Osteuropa konstruiert. Die große Leerstelle sei Auschwitz, meint Diner: "Auschwitz legt eine andere, mit den Bloodlands Snyders konkurrierende historische Topografie der Gewalt ebenso nahe wie sie auf das Spezifische eines kollektiven, eines grundlosen Vernichtungstodes verweist. [...] Die nach Westen ausgreifende Vernichtung, auch und gerade in solchen Ländern die von Krieg und der Gewalt unterschiedsloser Kriegsführung doch relativ verschont geblieben waren, offenbart eine spezifische, als absolut zu bezeichnende nazistische Vernichtungsabsicht: Alle Juden sollten zu Tode gebracht werden und dies überall."

Mit Entsetzen beobachtet Jacques Schuster die Renaissance, die Marx gerade erfährt, etwa in Terry Eagletons Essay "Warum Marx recht hat", und erinnert daran, dass es Marx und Engels waren, die den "Fluch der Falschheit" in die Welt gesetzt haben: "Lenin: 'Gerne stützen wir uns auf andere linke Parteien, aber so, wie der Strick den Gehängten stützt.'"

Besprochen werden unter anderem Christian Seilers André-Heller-Biografie, Felicitas Hoppes Romanautobiografie "Hoppe" und George Saunders Erzählungen "I Can Speak".

Für die Kultur trifft Elmar Krekeler die Autorin Felicitas Hoppe, redet mit ihr viel übers Essen, erklärt aber auch die Poetik ihrer Autobiografie: "Hoppe dazu in 'Hoppe': Sie sei halt ein Winterkind und habe als solches 'die schreckliche Neigung, die Dinge falsch nachzuerzählen, weil ich immer alles einkleiden, wärmen und verbessern will'."

Andrea Backhaus spricht mit dem in Oxford lehrenden Historiker Eugen Rogan über die arabischen Revolutionen. Dass diese von Islamisten, Salafisten oder Muslimbrüdern, gekapert werden, hält er für kein Problem: "Die Wahlen zeigen ja, dass die Menschen diese Parteien wollen." Manuel Brug hat sich das durch Deutschland tourende New York City Ballet angesehen. Besprochen werden Marisa Acocella Marchettos Comic "Cancer Woman" und das Album "Port of Morrow" von The Shins.

FAZ, 17.03.2012

Von Angela Merkel werden immer wieder dramatische Entscheidungen oder Worte verlangt, damit die Leute sich nicht aus Langeweile von der Demokratie abwenden. Marcus Jauer hält das für Blödsinn. Für ihn hat Merkel Deutschland mehr verändert als jeder andere Politiker vor ihr: "Sie hat die Vorstellung davon, was ein Politiker ist, wie er zu sein, zu reden, zu handeln und mit anderen umzugehen hat, verändert, ohne dass uns das bislang wirklich aufgefallen wäre. ... Wie sehr wir uns daran inzwischen gewöhnt haben, erkennen wir nur für Augenblicke, wenn sich Italien von Berlusconi befreit oder Russland gegen Putin aufbegehrt. Dann wird auf einmal klar, dass die Zeit solcher Männer, Gesten, Auftritte und Egos vorbei ist und wir uns schwer erklären können, wie wir wieder Politiker wählen sollten, denen es offensichtlich mehr um sich selbst als um die Sache geht."

Weitere Artikel: Regina Mönch informiert über die in ihren Auswirkungen ziemlich kniffelige Entscheidung des BGH zur Plakatsammlung Sachs, die das Deutsche Historische Museum nun doch an die Erben zurückgeben muss. Matthias Hannemann resümiert die norwegischen Debatten über das Attentat von Anders Breivik, der jetzt vor Gericht gestellt wird. Jürgen Dollase probiert einen erstaunlich individuell zubereiteten Winterkabeljau mit Kutteln, grünem Kardamom und Champagnersauce in Michael Kempfs Restaurant "Facil" in Berlin. Oliver Jungen berichtet von der Lit.Cologne.

Bilder und Zeiten erscheint heute in kompliziert-anspruchsvoller Aufmachung, für die Studenten der Bauhaus-Universität in Weimar verantwortlich sind und widmet sich mit großen Fotos und kurzen Texten der Konsumkultur.

Besprochen werden die neue Dauerausstellung "Zeichen - Bücher - Netze" des Deutschen Buch- und Schriftmuseums in Leipzig, eine Stuttgarter Doppelpremiere mit Leos Janaceks Oper "Osud" und Schönbergs "Drama mit Musik" (das ist "genau jener intellektuell anspruchsvolle Brocken", den man von Jossi Wieler, Sergio Morabito und Sylvain Cambreling erwarten durfte, jubelt Julia Spinola), Mike Nichols Inszenierung von Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden" mit Philip Seymour Hoffman am Broadway und Bücher, darunter Benjamin Steins "Replay" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 17.03.2012

Im Feuilleton hält Jens Bisky nicht sonderlich viel von den Thesen der dieser Tage erscheinenden Streitschrift "Der Kulturinfarkt", die für eine Halbierung der Kultursubventionen plädiert: "Das Buch verschenkt die Gelegenheit, einen Streit anzuzetteln, der sich lohnt. Die Ruhe und das phrasenreiche Einverständnis im Kulturpolitischen sind ja wirklich ein Grund zur Beunruhigung. So viel Stille und Konsens herrscht nur, wo große Konflikte und Probleme zugedeckt werden. Zu reden wäre endlich über eine Kultur des Aufhörens, des Endes auch von Kultureinrichtungen." Schade, dass Bisky genau das dann nicht tut.

Weitere Artikel: Jörg Häntzschel hat sich beim sektions- wie traditionsreichen Indie-Festival SXSW in Austin unter die Geeks und Techies gemischt, die an den Apps für morgen hacken. Rudolph Chimelli erinnert an den Algerienkonflikt. Cornelia Fiedler trifft sich in einem Berlin-Kreuzberger Café mit der Schriftstellerin Olga Grjasnowa auf einen Plausch über Multikulturalität und die hinterherhinkende Integrationspolitik. Reinhard Brembeck unterhält sich mit Josef E. Köpplinger, dem neuen Intendanten des Münchner Gärtnerplatztheaters.

Im Medienteil unterhält sich Kai Strittmaier ausführlich mit dem türkischen Journalisten Ahmet Sik, der nach einem Jahr Untersuchungshaft wegen einer angeblichen Mitgliedschaft in einem Terrornetzwerk vergangene Woche frei kam (mehr dazu etwa hier).

In der SZ am Wochenende kann sich Hilmar Klute kaum vorstellen, dass von Hitlers "Mein Kampf" heute noch Gefahr ausgehen könnte: "Die Geschichte des Nationalsozialismus, sagt der Historiker Christian Hartmann, sei die Geschichte seiner Unterschätzung gewesen. ... Die Geschichte der Erregung um die Freigabe des Buches im Jahr 2016 ist dagegen eine der Überschätzung eines Textes, der künftig nicht mehr sein wird als ein historisches Dokument."

Weiteres: Alex Rühle unterhält sich unter Polizeischutz mit Roberto Saviano über dessen Lebensbedingungen seit seinem Erfolg mit der Mafia-Reportage "Gomorrha". Harald Hordych hat den Dreharbeiten des vergangenen Donnerstag angelaufenen, in Indien spielenden Films "Best Exotic Marigold Hotel" einen Besuch abgestattet und dabei beobachtet, wie sich die westeuropäischen Darsteller mit dem indischen Alltag arrangieren. Abgedruckt ist außerdem die Erzählung "Hotel Chomsky" von Ingo Schulze und Christine Traber.

Besprochen werden die Ausstellung "Die Kultur des Sinnlichen" im Schiller-Museum in Weimar, ein Theaterabend über Walter Kempowski im Theater Bielefeld und eine Ausstellung über das performative Werk von Yvonne Rainer im Kunsthaus Bregenz, die ab Ende Juli auch in Köln im Museum Ludwig zu sehen sein wird.