Heute in den Feuilletons

Mit Hochstimmung erfüllt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.02.2009. Zwanzig Jahre nach der Fatwa gegen Salman Rushdie schildert die NZZ, mit wieviel Erfolg sich die Muslime in Großbritannien seitdem radikalisiert haben. Die SZ findet, der Westen soll es mit seinen Freiheitswerten mal nicht übertreiben. Die taz warnt vor religiöser Rhetorik. In der Welt wartet Benny Morris auf einen neuen Ben Gurion. Die FAZ betrachtet das Elend chinesischer Wanderarbeiter. Und die FR kann den Kunstmarkt nicht als sichere Anlagealternative empfehlen.

NZZ, 14.02.2009

George Waser rekapituliert zwanzig Jahre nach der Fatwa des Ayatollah Chomeini gegen Salman Rushdie, wie dieser Mordaufruf die britische Muslime radikalisiert hat: "Zu den 'wahren' Muslimen zählte damals auch Inayat Bunglawala, heute Sprecher des Muslim Council of Britain. Mittlerweile hat er seinen Standpunkt geändert; doch damals habe ihn Khomeinys Fatwa 'mit Hochstimmung' erfüllt - und noch heute, so Bunglawala neulich im Observer, erinnere er sich dankbar an die Proteste gegen Salman Rushdies Buch, hätten diese doch eine Verbindung zwischen den 'ethnischen Kommunen' geschaffen und den Grundstein zu einer britisch-muslimischen Identität gelegt. Kenan Malik sieht es etwas anders. Weltliche Muslime, schreibt er in der Sunday Times, seien als Verräter und 'der weißen Linken angehörend' abgetan, der radikale Islam hingegen sei von unerfüllten Jugendlichen nicht nur als akzeptabel, sondern als authentisch begrüß worden... Im multikulturellen Großbritannien wirkte sich die Kontroverse vor allem auf die Ausdrucksfreiheit aus. Hatte das Verlagshaus Penguin gerade dieses Prinzips wegen die 'Satanic Verses' nie fallenlassen, handelt man in vielen Kulturinstitutionen heute anders."

Weiteres: Friedrich Wilhelm Graf befindet, dass Papst Benedikt XVI dem Dogmatikprofessor Joseph Ratzinger absolut treu geblieben ist, den schon immer "Antiliberalismus und eine unpolitische Auffassung von Kirchenpolitik" geprägt hätten. Besprochen werden die Ausstellung "Vom Mythos der Antike" im Kunsthistorischen Museum in Wien und Bücher, darunter David Millers Abhandlung "Grundsätze sozialer Gerechtigkeit" und Goethes Briefe.

In Literatur und Kunst, dessen Texte man online leider nicht mehr findet, besucht Felix Thürlemann die große Niederländer-Schau "Der Meister von Flemalle und Rogier van der Weyden" im Frankfurter Städel, Manuel Gogos betrachtet noch einmal ausführlich das Romanwerk Philip Roth'. Christa Bürger schreibt über Bettina von Arnim.

TAZ, 14.02.2009

Daniel Bax warnt auf der Meinungsseite davor, die Auseinandersetzung mit dem Islamismus als Kulturkampf misszuverstehen: "Auch wenn manche es gerne als einen Kulturkampf sehen wollen: Die Auseinandersetzung mit Islam und Islamismus ist im Kern ein politisches Thema. Die Frage ist: Wie bekämpft man eine fundamentalistische Ideologie, und wie begegnet man antidemokratischen Tendenzen unter Einwanderern? Da sollte man sich nicht von religiöser Rhetorik täuschen lassen, wenn es um einen offensiv vorgetragenen Machtanspruch geht."

Robert Misik unterhält sich ebenfalls im vorderen Teil mit dem Politikwissenschaftler Colin Crouch - der mit seinem Buch über "Postdemokratie" einiges Aufsehen erregt hat - über die Finanzkrise. Crouch findet den Sieg Barack Obamas höchst ermutigend und kann nur konstatieren, dass vermeintliche Gewissheiten rasant schwinden.

Weitere Artikel: Isolde Charim findet, dass all jene, die den antikapitalistischen Papst von eher links vorsichtig schätzen, den "Großinquisitor" in Benedikt allzu gern übersehen haben. Henrike Thomsen schildert die massiven Auswirkungen der Finanzkrise auf den Kunstmarkt von Madrid. Sebastian Moll weiß, was Barack Obama mit Abraham Lincoln verbindet. Außerdem hat er auch die Redaktion der New York Times besucht, der von den Auguren derzeit der baldige Niedergang prophezeit wird. Steffen Grimberg schildert die auch nicht gerade rosige Lage auf dem deutschen Zeitungsmarkt.

Im Berlinale-Teil findet Stefan Reinecke nicht viel Gutes im Omnibus-Film "Deutschland 09". Helmut Merker hat Costa-Gavras' Film "Eden a l'ouest" gesehen, der außer Konkurrenz den Wettbewerb beschließt. Außerdem u.a.: Diedrich Diederichsen über Filme, die es irgendwie mindestens zweimal gibt. Bettina Allamoda bespricht Atsushi Funahashis "Deep in the Valley" und Simon Le Habres "The One Man Village" im Forum. Ines Kappert unterhält sich mit dem Ausbrecherkönig Michel Vaujour, mit dem sich der Dokumentarfilm "Ne me liberez pas, je men charge" befasst.

In der zweiten taz beschreibt der Literaturwissenschaftler und Qantara-Redakteur Lewis Gropp den Lebens- und Schreibweg Salman Rushdies seit der Fatwa. Daniela Zinser porträtiert Tom Tykwer als den "Gruppenpapa" des jüngeren deutschen Films. Matthias Lohre war dabei, als Frank-Walter Steinmeier die erste Westerwelle-Biografie vorstellte.

Im erfrischend direkten taz-mag-Gespräch staunt Jutta Allmendinger, Leiterin des Wissenschaftszentrums Berlin, über die Gemütsruhe ihrer MitbürgerInnen: "Die Leute konsumieren beunruhigende Interpretationen gerade so, wie sie Süßigkeiten kaufen. Aber sie engagieren sich nicht selbst für Reformen, die sie verbal selbst durchaus wünschen."

Besprochen werden abseits der Berlinale nur Bücher, darunter Michael Zeuskes Geschichte Venezuelas "Von Bolivar zu Chavez", Christoph Peters' neuer Roman "Mitsukos Restaurant" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 14.02.2009

"Wo bleibt der neue Ben Gurion?", fragt der israelische Historiker Benny Morris in der Literarischen Welt. Die israelischen Politiker der ersten Jahrzehnte verkörperten ein zionistisches Ethos, von dem man angesichts der heutigen Politiker nicht mal mehr träumen kann: "Die derzeitige Truppe ist von ganz anderer Art: Olmert, Netanjahu und Barak haben Jahre damit verbracht, Reichtümer anzuhäufen, wobei sich ihre Kontakte und Jahre im Amt als enorm hilfreich erwiesen haben. (Livni ist, in dieser Hinsicht, eine Ausnahme: Sie ist für ihre sauberen Hände und ihre Bescheidenheit bekannt.) Allgemein gefasst, spiegeln so eigennützige, reich begüterte Politiker Entwicklung und Charakter der israelischen Gesellschaft der letzten zwei, drei Jahrzehnte wider: Den Wandel vom Kollektiven zum Individualismus, vom Sozialismus zum Kapitalismus, von schlanker Jugend zum Wanst der mittleren Jahre. So scheint es allen nationalen und nationalistisch-sozialistischen Revolutionen zu ergehen, zu denen der Zionismus zweifellos zählt (auch wenn in manchen Ländern - siehe Robert Mugabe in Simbabwe - dieser Wandel über Generationen von einem einzigen Staatschef verkörpert wurde.)"

Außerdem: Abgedruckt ist ein Auszug aus Wolfgang Sofskys Nachwort zu seinem überarbeiteten Buch "Verteidigung des Privaten". Wieland Freund hat sich mit Stewart O'Nan über dessen Roman "Alle, alle lieben dich" unterhalten. Rainer Moritz schreibt zum 100. Geburtstag des Humoristen und Dichters Heinz Erhardt. Besprochen wird unter anderem Patrick Desbois' Buch "Der vergessene Holocaust" über die Ermordung der ukrainischen Juden.

Im Feuilleton porträtiert Jeanette Neustadt den Musical-König Franz Wittenbrink. Matthias Kamann nimmt sich in der Leitglosse "Faith Fighter" vor, ein Spiel, das von Zoomer gerade zum "Online-Spiel der Woche" gekürt wurde. Uta Baier schreibt zum 100. Geburtstag von HAP Grieshaber. Franco Stella, der den Wettbewerb für das Berliner Schloss gewonnen hat, hat mit Hilmer & Sattler und Albrecht sowie Gerkan, Marg und Partner zwei bekannte deutsche Architekturbüros mit ins Boot geholt, berichtet Rainer Haubrich. Peter Zander porträtiert die Jury-Präsidentin der Berlinale, Tilda Swinton.

Besprochen werden Stephenie Meyers Roman "Bis(s) zum Ende der Nacht", Kai Wessels Filmbiographie "Hilde" mit Heike Makatsch und der Kollektivfilm "Deutschland 09", den Hanns-Georg Rodek "außerordentlich, uneinheitlich, brillant, banal, parteiisch, überraschend" findet.

SZ, 14.02.2009

Nach zwanzig Jahren Fatwa gegen Salman Rushdie findet Thomas Steinfeld, dass es der Westen mit der Selbstgewissheit nicht übertreiben soll: "Nein, man soll auch gläubigen Muslimen nicht die Begegnung mit der westlichen Kultur ersparen, alberne Karikaturen eingeschlossen. Aber suchen muss man die Schmähung nicht. Und am besten wäre es, wenn der Westen ein Bewusstsein dafür entwickelte, was er da massenhaft an Bildern in die Welt setzt, ein Wissen darüber, wie totalitär selbst seine Glücksideale - die Liebe, die sexuelle zumal, das souveräne Ich, der materielle Erfolg - sein können." Mona Naggar unterhält sich mit dem libanesischen Intellektuellen Sadik al-Azm über den Fall Rushdie.

Für Tobias Kniebe ist mit dem Episodenfilm "Deutschland 09" der größte anzunehmende Unfall eingetreten - der jüngere deutsche Film hat sich, mit wenigen Ausnahmen, schrecklich blamiert: "Ein Statement zu machen, ohne es gleich auf abendfüllende Länge auszudehnen, politisches Bewusstsein zu schärfen, im Spiel zu bleiben - darum ging es wohl. An die Gefahren hat wohl keiner gedacht: Dass dies ein Augenblick der Wahrheit werden könnte, der präzise Standpunkte verlangt - und im schlimmsten Fall eine halbe Filmemacher-Generation schlagartig den Anspruch verwirkt, diskursiv ernst genommen zu werden. Genau das ist jetzt passiert." Außerdem im Berlinale-Kontext: Kurzkritiken von Anke Sterneborg zu Wettbwerbsfilmen.

Weitere Artikel: Tobias Lehmkuhl hat an der American Academy in Berlin einen Vortrag von Jed Rasula über den Jazz in den zwanziger Jahren gehört. Burkhard Müller war in Weimar auf einer Konferenz zur "Idee des Klassischen". Christine Dössel informiert über den Kampf des Musikers Quincy Jones für einen amerikanischen Kulturminister.

Besprochen werden die Baseler Aufführung von Dennis Kellys Drama "Taking Care of Baby", die Thomas-Bayrle-Ausstellung "I've a Feeling We're Not in Kansas Any More" in Barcelona, und Bücher, darunter Don Rosas Comic-Biografie von "Onkel Dagobert" und Tom Drurys Heimatroman "Die Traumjäger" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende schreibt Sebastian Beck über Kriegsveteranen. Rebecca Casati hat den Schauspieler Liam Neeson getroffen und musste seinen harten Actionfilm "96 Hours" vor dem Frühstück sehen. Tobias Moorstedt porträtiert den deutschen Hotelier in New York Klaus Ortlieb. Verena Krebs sagt ohne allzu großes Bedauern Tschüss zu Polaroid. Antje Wewerb informiert über die "Renaissance der Lunchbox" in London. Auf der Historien-Seite geht es um den Palast der Republik. Willi Winkler unterhält sich mit Iris Berben.

FR, 14.02.2009

Sebastian Gehrmann erklärt den Kunstmarkt, der nicht jeder Anlegerin und jeden Anlegers Sache sein sollte: "Geschmäcker sind nicht nur grundverschieden - sie können sich auch innerhalb weniger Jahre grundlegend ändern. Heute noch ist ein Junger Wilder über dem Sofa der letzte Schrei, morgen nicht gut genug für den Hobbykeller. Weshalb der Kunstmarkt größeren Schwankungen als die Wertpapierbörse unterliegen kann und nichts für risikoscheue Anlieger ist. Zudem werden Kunstwerke seltener gehandelt. Bedeutende Stücke wechseln seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Schnitt alle 80 Jahre den Besitzer, selbst wenn die Zyklen kürzer werden. Auch ungeduldige Anleger kommen hier nicht wirklich auf ihre Kosten."

Dem arabisch-israelischen Schriftsteller Sayed Kashua wird, wie er im Gespräch erklärt, angesichts des Rechtsrucks bei den Wahlen Angst und Bange: "Israel träumt davon, möglichst viele Araber loszuwerden. Es hat nie die arabischen Dörfer als wirklichen Teil Israels begriffen. Politiker wie Lieberman betrachten die Araber als Krebsgeschwür. Sie versuchen nicht mal den Krebs zu heilen, sondern gleich wird ans Rausschneiden gedacht."

Weitere Artikel: Astrid Dörner beschreibt das New Yorker Kunst- und Kulturleben in der Krise. Thomas Wüpper kann mit Zahlen erklären, warum es dem deutschen Film so gut geht. Jürgen Wertheimer hat originelle Vorschläge zur Lösung aktueller Aufnahme- und Gefangenen-Lager-Probleme. In ihrer US-Kolumne genießt Marcia Pally (irgendwie) das neue Durcheinander unter Barack Obama. Jetzt schreibt auch noch Robert von Heusinger in einer Times Mager von seiner Mutter.

Besprochen werden und Tobias Hülswitts Erzählung "Dinge bei Licht" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

FAZ, 14.02.2009

Chinas Regierung bereitet das Militär auf den Ausbruch von Hungeraufständen vor, berichtet Mark Siemons und erklärt sehr ausführlich die verzweifelte Lage der wahrscheinlich zwanzig Millionen arbeitslosen Wanderarbeiter. Auch die weiterhin gültige, geradezu archaische Aufteilung in Stadt- und Landbevölkerung, erklärt Siemons: "Die Bestimmung gilt weiterhin, dass einer, der sein Bauerntum vererbt bekommen hat, keinen 'Hukou', keinen Stadtpass, und damit kein volles Stadtrecht mit den dazugehörigen sozialen Sicherungen erhält. Trotz zunehmender Kritik konnte sich die Kommunistische Partei bisher nicht zu einer Revision durchringen, da sie eine massive Landflucht und eine Überlastung der städtischen Sozialsysteme befürchtet. So ragt aufgrund einer Mischung aus Tradition, Kommunismus und moderner Durchwurstel-Sozialtechnik etwas Archaisches in die kapitalistische Gesellschaft Chinas hinein: Das soziale Schicksal, Bauer zu sein, ist ans Blut gebunden und kann daher vom Einzelnen nicht beeinflusst werden."

Zum Abschluss der Berlinale hofft Verena Lueken, "dass in den nächsten Jahren das politische Kino, das sich über seine Inhalte definiert, vielleicht ein wenig in den Hintergrund tritt. Und Platz macht für ein Kino der visuellen Abenteuer, der verwegenen Wendungen, sinnlichen Überraschungen und Entdeckungen." Von sehr unterschiedlicher Qualität findet Lueken außerdem die Episoden im Omnibus-Bus "Deutschland 09", am besten gefallen hat ihr dabei Romuald Karmakars Geschichte von "schräger Poesie" um den iranischen Besitzer einer Animierbar. Bert Rebhandl berichtet vom Forum Expanded. Besprochen werden Christina Yaos chinesischem Bankiers-Epos "Baiyin Diguo" und Julie Delpys "The Countess".

Weiteres: Michael Hierholzer berichtet, wie Frankfurt den Wegzug des Suhrkamp Verlags zu verschmerzen versucht. Auch Tilman Spreckelsen kann nicht wirklich den Hype um die Vampir-Schmonzetten der Mormonin Stephenie Meyer erklären, heute erscheint der Band auf Deutsch. Stefan Heidenreich hat sich in Berlin einen Vortrag des Künstlers Liam Gillick angehört. Ludger Frittkau war auf einer Tagung zur Biografie-Arbeit alterswirrer Menschen. Marcus Jauer bilanziert die vergangene Krisenwoche. Auf der Medienseite begleitet Peter Lückemeier die FR bei ihrem Umzug ins ehemalige Straßenbahndepot in Sachsenhausen.

Besprochen werden Jane Birkins Album "Enfant D'Hiver", eine Aufnahme mit Werken von Günter Raphael sowie Nikolai Demidenkos Chopin-Einspielung und Bücher, darunter Christoph Peters Roman "Mitsukos Restaurant", Nicholas Boyles' "Kleine Literaturgeschichte" und David Gilmours Roman "Unser allerbestes Jahr" (mehr ab 14 Uhr in unseer Bücherschau des Tages).

In Bilder und Zeiten beklagt Schriftsteller Jonathan Franzen die Zerstörung des öffentlichen Raums durch intime Handy-Gespräche: "Privatsphäre heißt für mich nicht, mein Privatleben vor anderen Leuten zu verbergen, sondern nicht in anderer Leute Privatleben hineingezogen zu werden."

Des Weiteren beschwört Hans Ulrich Gumbrecht den Moment im Sommer 1926, als die Provinzstadt Marburg zum Mittelpunkt der philosophischen Welt wurde. Patrick Bahners huldigt dem Althistoriker Christian Meier. Und Jürgen Kesting unterhält sich mit der Sopranistin Renee Fleming.