Magazinrundschau

Spektraler Schussfaden

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
10.04.2018. Alle wählen in den USA! Im Guardian möchte Rana Dasgupta die Staatsbürgerrechte vom Staat entkoppeln. In Eurozine feuert der Psychologe Jordan Peterson gegen die egalitäre Utopie der radikalen Linken in Kanada. Die NYRB analysiert das System Orban. Simon Reynolds würdigt in Pitchfork  das schottische Elektronik-Duo Boards of Canada. Man muss dem Populismus politisch statt moralisch begegnen, fordert der Merkur. In Edge.org erklärt Kai-Fu Lee, warum wir keine Angst vor Künstlicher Intelligenz haben müssen. Die NYT veröffentlicht die IS-Files.

Guardian (UK), 05.04.2018

Im Westen zerbrechen die Nationalstaaten an einer deregulierten Finanzwirtschaft, Großmachtrivalitäten und Big Data, derweil zerfallen in der einst kolonisierten Welt die Bevölkerungen in postnationale Gruppierungen - etwa in umherstreifende Stammesmilizen, ethnische und religiöse Unterstaaten und Superstaaten, schreibt der britisch-indische Schriftsteller Rana Dasgupta in einem Essay. Für ihn ist der Nationalstaat am Ende. Dasgupta findet das nicht schade, er denkt über die Möglichkeit einer vom Staat getrennten Bürgerschaft nach, die durch Staatsbürgerschaft ererbte Privilegien aushebelt: "Wer als Finne geboren wurde, genießt einen rechtlichen Schutz und ökonomische Erwartungen, die sich stark von denen eines Somaliers oder Syrers unterscheiden. Auch die Bewegungsfreiheit eines Finnen ist eine andere. Aber in einem Weltsystem - statt einem System von Nationen -  gäbe es keine Rechtfertigung für solch radikale Unterschiede. Die Bewegungsfreiheit des Menschen ist eine notwendige Konsequenz der Bewegungsfreiheit des Kapitals: Es ist ungerecht, dass das eine sich frei bewegen darf, der andere nicht. Moderne technologische Systeme  bieten Modelle, Bürgerschaft neu zu denken, sie vom Staatsgebiet zu entkoppeln und so ihre Vorteile gerechter zu verteilen. Die Rechte und Möglichkeiten, die mit einer westlichen Bürgerschaft verknüpft sind, könnten auch in anderen Weltgegenden eingefordert werden, ohne in den Westen reisen zu müssen. Wir könnten an politischen Prozessen teilhaben, die zwar weit weg von uns stattfinden, uns aber dennoch betreffen: Wenn die Demokratie den Wählerinnen und Wählern eine gewisse Kontrolle über ihre eigenen Lebensumstände geben soll, müsste eine US-Wahl dann nicht die meisten Menschen auf der Erde einbeziehen? Wie sähe der politische Diskurs in Amerika aus, wenn er auch Wähler im Irak oder in Afghanistan befriedigen müsste?"
Archiv: Guardian

New Yorker (USA), 16.04.2018

Im neuen Heft des New Yorker berichtet D. T. Max über chinesische Arbeiter, die in der Toskana italienische Designer-Handtaschen fertigen, damit die guten Stücke auch weiterhin ja das Label "Made in Italy" tragen können: "Geschätzte 100 Werkstätten in der Toskana stellen Handtaschen für die großen Modehäuser her. Jede dieser Werkstätten arbeitet mit Subunternehmern zusammen, die Applikationen aufnähen oder letzte Hand an das Produkt anlegen. Der Werkstattbesitzer, mit dem ich sprach arbeitet für Chloé, Burberry, Fendi, Balenciaga, Saint Laurent und Chanel. Er sagte, Chanel sei am meisten um die Qualität besorgt. Für eine Firma wie Fendi zu arbeiten, sei nicht leicht für einen Chinesen. Man muss die italienische Mentalität annehmen, meinte er, und die betreffende Tasche wie ein Italiener sehen. Ein Chinese denke erst einmal, er müsse soundso viele Taschen herstellen, doch hinter jeder Tasche stecke die genaue Überlegung, wie sie zu sein hat … 2014 verriet ein italienischer Kunsthandwerker dem Fernsehen, dass Gucci ihm einen mächtigen Vertrag angeboten hatte: 24 Euro pro Tasche. Er musste einen chinesischen Subunternehmer anstellen, der seinen rund um die Uhr arbeitenden Arbeitern die Hälfte zahlte. Im Laden kosteten die Taschen zwischen 800 und 2000 Dollar. Guccis Prüfer hielten es nicht für nötig, die Arbeitsbedingungen zu erfragen. Gucci nannte die TV-Berichte unwahr und ohne Zusammenhang mit der Realität des Unternehmens."

Außerdem: Der Schriftsteller Junot Diaz erzählt, wie er als Achtjähriger mehrfach vergewaltigt wurde und dieses Tat bis heute sein Leben bestimmt. Gary Shteyngart erklärt, warum ein Hedgefondsmanager nun auf Bitcoin setzt. Und James Wood bespricht Walter Kempowskis letzten Roman "Alles umsonst", eine Geschichte aus Ostpreußen vor dem Einmarsch der Roten Armee.
Archiv: New Yorker

Eurozine (Österreich), 06.04.2018

Der kanadische Psychologe Jordan Peterson kritisiert im Interview mit Luka Lisjak Gabrijelčič scharf eine "radikal linke Ideologie", die von kanadischen Universitäten ausgehend Gesetze propagiert, die eine gender-neutrale Sprache zur Pflicht machen soll - Sanktionen bei Verstoß inbegriffen. Peterson glaubt keine Sekunde, dass es dabei um die Rechte von Minderheiten geht. Er sieht vielmehr einen politischen Aktivismus am Werk, der "versucht, die Identitäten von Opfergruppen zu nutzen, um eine egalitäre Utopie voranzutreiben. Es ist die Wiederaufnahme des Kampfes zwischen einer im wesentlichen marxistischen Position und den klassischen Werten des Westens, die das autonome Individuum zur höchsten Kraft machen. Ein Optimist hätte gehofft, dass dieser Kampf mit dem Fall der Berliner Mauer zu Ende ging. Ein utopisches Schema, das alle Gruppen gleich macht, klingt grundsätzlich gut. Aber die Geschichte der Sowjetunion lehrt uns, dass die Folgen des utopischen Egalitarismus unerträglich sind. Eine postmoderne Version eines widerlichen radikalen Egalitarismus hat es geschafft, die klassischen Geisteswissenschaften zu marginalisieren, und sitzt jetzt im Herzen der westlichen Universität."
Archiv: Eurozine

Quillette (USA), 15.03.2018

Wie feindselig das Klima an kanadischen Universitäten und in sozialen Netzen ist, erzählt Jonathan Kay in dem Blog Quillette in bestürzender Eindringlichkeit am Beispiel Margaret Atwoods, die zum Opfer eines beispiellosen Twitter-Shitstorms wurde, nachdem sie ihren Kollegen Steven Galloway verteidigt hatte, der zu Unrecht der sexuellen Belästung beschuldigt worden war. Kay gesteht durchaus ein, dass es in der Creative Writing-Szene an kanadischen Unis eine Menge Fälle von Missbrauch gab. Aber er sieht auch einen grundsätzlichen Generationenunterschied zwischen Atwood und der neuen Generation von Autorinnen, die aus den Kursen hervorgehen. Es seien ja fast ausschließlich "junge Autorinnen und unbekannte Uni-Leute in den Zwanziger und Dreißigern, die Atwoods aggressivste Kritiker sind. Wer ein bisschen älter ist und nur eine flüchtige Kenntnis von Atwoods Karriere hat, weiß, dass sie wie ein Hund kämpfen musste, um ihren Erfolg in der damaligen Männerwelt der kanadischen Literatur zu erringen, und dass sie ihren Platz auf den Bestsellerlisten nicht als privilegierte Dilettantin erobert hatte. Um den berühmten Spruch über Ginger Rodgers und Fred Astaire aufzunehmen: 'Atwood, tat alles, was die großen männlichen Autoren auch taten, aber rückwärts und in High Heels.'" Aus den Creative-Writing-Kursen, so Kay, kommen hingegen eine Menge Leute, die dem Missverständnis erliegen, es handle sich bei ihnen um bedeutende Autoren, besonders, da ihnen eingebläut wurde, dass bereits ihre Ehrung als Frau, Eingewanderter oder Native ihren Texten Bedeutung gebe: "Wenn sie dann abschließen und sich herausstellt, dass ihre Werke keinen Markt finden, schließen sie daraus natürlich, dass dunkle Kräfte am Werk sind."
Archiv: Quillette

Magyar Narancs (Ungarn), 08.03.2018

Der Schriftsteller György Dragomán sagte mal über die Jazzviolinistin Luca Kézdy, dass sie mit beherrschter Wildheit spielt. Im Interview mit Tamas Soos spricht sie u.a. über die Schwierigkeiten des experimentellen Jazz: "Für alle Kunstrichtungen, so auch für Jazz gilt, dass das Publikum wenig offen für Erneuerungen ist. Ich würde uns zum experimentellen Jazz zählen, und an Anerkennungen - ich denke beispielsweise an spanische, belgische oder isländische Festivaleinladungen - mangelt es eigentlich nicht. Ideal wäre natürlich, wenn wir viel spielen könnten, doch in Ungarn geht das gegenwärtig nicht. Es gibt sehr wenige Jazzclubs und in diesen Orten können wir nicht jeden Monat auftreten. Jazz wurde aus den großen Musikfestivals hinausgedrängt. Es gibt zwar mehrere 'Jazz- und Weinfestivals', wo im Sommer mehr gespielt werden kann, aber auch diese präferieren eher die populären Richtungen. Es wäre schön, öfter ins Ausland zu fahren, aber dort sieht es auch nicht besser aus. (...) Von Ungarn erscheint das Ausland als Traumwelt, doch es ist es nicht. Ich habe keine Illusionen darüber, dass wir im Westen anerkannt werden."

Eigentlich kann man das doch sehr gut hören:


Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Musikfestivals

New York Review of Books (USA), 19.04.2018

Jan-Werner Müller analysierte bereits in der letzten Ausgabe mit Rückgriff auf Paul Lendvai (unser Resümee) das System Victor Orban - ein "Disneyland der extremen Rechten", so Müller: "Das Christentum herrscht, Muslime sind nicht erlaubt, die traditionelle Familie triumphiert." Dabei habe Orban verstanden, dass autoritärer Populismus niemals Bilder aus Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts hervorrufen darf: "Keine Gewalt auf den Straßen, keine Überfälle der Geheimpolizei spät in der Nacht und die Bürger werden nicht gezwungen, politische Loyalität in der Öffentlichkeit zu bekennen. Stattdessen wird die Macht durch eine weitreichende Kontrolle der Justiz und der Medien gesichert; und nachdem viel davon geredet wurde, bedrängte Familien vor multinationalen Konzernen zu schützen, gibt es einen Kumpanei-Kapitalismus, in dem man politisch auf der richtigen Seite sein muss, um wirtschaftlich voranzukommen."

Seit 2014 stellt die rechtskonservative, hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) unter Ministerpräsident Narendra Modi die indische Regierung - ohne Koalitionspartner. Max Rodenbeck zeichnet im neuen Heft unter Rückgriff auf Prashant Jhas Buch "How the BJP Wins: Inside's Greatest Election Machine" den Triumphzug und die Manipulationsmechanismen der BJP nach: Neben einem mehrere Millarden teuren Wahlkampf, Stimmzettel-Manipulationen, Bestechung der Wähler durch Geld, Küchengeräte und Schnaps, sieht er den großen Erfolg auch in Modis Fähigkeit, die Ressentiments der 80-prozentigen hinduistischen Mehrheit gegenüber der 15-prozentigen muslimischen Minderheit subtil zu verstärken: "Jha zitiert einen Parteifunktionär, der zugibt, das Ziel sei, die Hindus zu vereinen, indem man sie sich wie Opfer fühlen lässt. Ein anderer gesteht: 'Wir wollen eine anti-muslimische Polarisierung. Warum so tun, als ob es anders wäre?"

Lindsey Hilsum hat einen gründlichen Blick auf die Kriegsberichterstattung in Zeiten von Twitter geworfen und warnt nun vor den Tücken des Labels Authentizität. Was ihr auch auffällt: Der westliche heroische Kriegskorrespondent, der vor zerbombten Häusern in die Kamera spricht, ist immer weniger gefragt. Dafür werden Reporter vor Ort mit ihren Videoaufnahmen und Fotos zur immer wichtigeren Informationsquelle: "Jüngere Zuschauer scheinen sich weniger für das Gesicht oder die Stimme des Reporters zu interessieren, wenn sie Nachrichten auf ihren Geräten ansehen. Oft setzen die sowieso auf Untertitel anstatt Voice-Over. Bei Informationen über Konfliktgebiete stehen rohe, dramatische Videos hoch im Kurs, die von lokalen Aktivisten und Journalisten aufgenommen wurden und zeigen, wie Bomben explodieren oder Kinder aus Trümmern gezogen werden, oft sogar von den Rettern selbst mit Helmkameras gefilmt - im Großen und Ganzen scheint es dem Online-Zuschauer nichts auszumachen, dass nichts davon von einem Reporter vermittelt wird."

Weitere Artikel: Claire Messud liest Caroline Frasers "Prairie Fires: The American Dreams of Laura Ingalls Wilder" . James Shapiro stellt sich der "Frage nach Hamlet". Und ein erstaunter Howard F. French lernt aus Lawrence James' Buch "Empires in the Sun: The Struggle for the Mastery of Africa", dass die britischen Kolonialherren alles in allem ganz honorig waren - jedenfalls gemessen an den anderen europäischen Invasoren.

El Pais Semanal (Spanien), 08.04.2018

Javier Cercas folgt dem Ratschlag eines alten amerikanischen Freundes: "Mein Freund wirft mir vor, dass ich zu viel über Politik schreibe, besonders über katalanische Politik: 'Das Beste, was ein Romancier zu sagen hat, sagt er mit seinen Romanen, nicht mit seinen Meinungen. Hast du ernsthaft geglaubt, mit all deinen Zeitungsartikeln und Interviews könntest du die Unfähigkeit der spanischen Regierung abmildern, die nicht begriffen hat, dass man einen Putschversuch des 21. Jahrhunderts nicht mit Mitteln des 20. oder 19. Jahrhunderts aufhalten kann? Oder dass all deine Argumente irgendwen von seinen Überzeugungen abbringen könnten? In Katalonien geht es jetzt nur noch um Glaube, nicht mehr um Vernunft. Wie lautet das Proust-Zitat, das du immer so gerne anführst: 'Was auf unvernünftige Weise in einen Kopf hineingelangt ist, kann nicht vernünftig wieder herauskommen.' Beim Abschied bittet er mich, nie wieder über Katalonien zu schreiben. 'Das verspreche ich dir', antworte ich."
Archiv: El Pais Semanal

Pitchfork (USA), 03.04.2018

Vor 20 Jahren erschien das Album "Music has the Right to Children" des schottischen Duos Boards of Canada, das Pophistoriker Simon Reynolds erfreulich ausführlich würdigt, insbesondere, was den musikalischen Kontext betrifft: Seinerzeit war in der elektronischen Musik der rhythmisch hyperaktive Jungle angesagt, der damals zwar futuristische Ambitionen hatte, heute aber klangästhetisch fest in seiner Entstehungszeit verankert ist - wohingegen Boards of Canada von vornherein auf eine Retro-Ästhetik zielten, die die Musik bis heute zeitlos wirken lässt und zudem heutige Hauntology-Sounds prägte. "Diese Qualität des Aus-der-Zeit-Gefallen-Seins passt auch insofern hervorragend, als das Album von der Unheimlichkeit der Erinnerungen handelt, von der Art und Weise, wie wir von Gespenstern heimgesucht werden, die ihren Ursprung gleichermaßen in privaten Bildbeständen, aber auch im kollektiven Unbewussten der gemeinsamen allgemeinen Kultur haben. Es ist gar nicht so sehr, dass die Beständigkeit der Vergangenheit in der Gegenwart das Subjekt des Albums ist, sondern vielmehr dessen Substanz, aus dem Boards of Canada ihre Musik und deren spektralen Schussfaden weben. ... Ein weiteres Hauntology-Thema, das Boards of Canada vorweg nahmen, ist die Ahnung einer verlorenen Zukunft. Ein Thema, das üblicherweise mit den 70ern in Verbindung gebracht wird und deren mulmiger Ambivalenz gegenüber dem rasenden technologischen Fortschritt: Auf der einen Seite hatte der Optimismus der Nachkriegszeit noch immer Bestand, doch wurde er zusehends von einer paranoiden Angst vor Umweltkatastrophen und dem Aufstieg eines Überwachungsstaats durchsetzt."

Hier das Album in voller Länge:



Archiv: Pitchfork

Merkur (Deutschland), 01.04.2018

Eine Kritik, die den Populismus mehr formal als inhaltlich begreift, wird zur reinen Stilkritik - und bleibt elitär, meint Philip Manow: "Ein pikiertes Bürgertum möchte, dass die Ungewaschenen sich doch bitte erst einmal waschen, bevor sie artig am Diskurstisch Platz nehmen dürfen." Deshalb müsse der Populismus in seinen verschiedenen Varianten ernst genommen und ihm politisch statt moralisch begegnet werden, so Manow in seiner Analyse: "Für ein vergleichendes Verständnis der unterschiedlichen Spielarten des Populismus in Europa und darüber hinaus gibt es mittlerweile auch plausible Argumente über den Zusammenhang zwischen dem jeweiligen Wirtschaftsmodell, dem Wohlfahrtsstaat und der Form außenwirtschaftlicher Einbettung auf der einen Seite sowie der spezifischen Herausforderung durch die Globalisierung und des politischen beziehungsweise populistischen Protests gegen sie auf der anderen. Der südeuropäische Linkspopulismus etwa scheint eine Reaktion auf die Krise eines Wachstumsmodells zu sein, das nationale geldpolitische Souveränität zur Nachfragestimulierung benötigen würde, eine Souveränität, die mit der Einführung des Euro aber aufgegeben wurde. Der Rechtspopulismus im nördlichen Europa ist im Gegensatz dazu nicht als eine Reaktion auf die Verteilungsfolgen durch den Verlust der nationalstaatlichen Souveränität über Geld zu verstehen, sondern auf die Verteilungsfolgen durch den Verlust nationalstaatlicher Souveränität über Grenzen."
Archiv: Merkur

Edge.org (USA), 26.03.2018

In einem Beitrag des Magazins erklärt Kai-Fu Lee, früherer Mastermind bei Microsoft, Apple und Google und Gründer der Hightech-Venturekapitalfirma Sinovation Ventures, die in den Startlöchern steht, in China den nächsten Hightech-Boom anzustoßen, was uns als Menschen im Vergleich zur Künstlichen Intelligenz besonders macht und worauf wir uns besinnen sollten: "Mein Traum, herauszufinden, wer wir sind und warum wir existieren, endete in einer Sackgasse. Obgleich wir all diese wunderbaren Tools erfunden haben, die unseren Kindern und der Gesellschaft eine tolle Zukunft ermöglichen werden, haben wir noch immer nicht herausgefunden, warum der Mensch existiert. Interessant ist, dass das Verständnis der Künstlichen Intelligenz und ihrer repetitiven Arbeitsabläufe uns nahelegt, dass repetitive Arbeitsabläufe nicht das ist, was uns zu Menschen macht. Künstliche Intelligenz weist uns daraufhin, was gerade nicht unser Existenzzweck auf dieser Welt ist. Das gibt uns die Möglichkeit, darüber nachzudenken, warum wir da sind. Ein sehr guter Grund dafür wäre zum Beispiel, dass wir schöpferisch tätig sein sollen. Was Künstliche Intelligenz nicht kann, ist vielleicht ein wichtiger Aspekt unseres Existenzzwecks. Wir erschaffen Dinge, wir erfinden sie, und wie feiern dieses Schöpfertum. Wir sind sehr kreativ in wissenschaftlichen Prozessen, im Marketing, darin Krankheiten zu heilen, Bücher zu schreiben, Filme zu machen, Geschichten zu erzählen. Das ist die Kreativität, die wir feiern sollten und die vielleicht unser Menschsein ausmacht …  Die Künstliche Intelligenz von heute ist in der Lage, eine Aufgabe nach der anderen zu bewältigen. Sie ist eine großartige Erfindung, stark in der Wertschöpfung. Sie wird viele unserer Arbeiten und so manchen Arbeitsplatz übernehmen. Darüber sollten wir nachdenken und nicht über diese fantastische Künstliche Intelligenz, die wie ein Mensch agiert, mit einem Menschenverstand. Ausgehend vom Stand der Dinge und des Fortschritts ist das einfach nicht prognostizierbar."
Archiv: Edge.org

Ceska pozice (Tschechien), 07.04.2018

Im Interview mit Petr Kain spricht der (von Bill Gates hochgeschätzte) tschechisch-kanadische Wissenschaftler Vaclav Smil über technische Innovationen und die Zukunft der Menschheit. Seiner Meinung nach hat es in den letzten 50 Jahren keine bedeutende technologische Innovation gegeben. Auch Mobiltelefone seien letztlich nur der letzte Entwicklungsschritt im Bereich der Mikroprozessoren, die schon wesentlich früher entwickelt wurden. Ohne die Entdeckungen der Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts hingegen wäre unsere moderne Zivilisation nicht denkbar. "Am maßgeblichsten für den weiteren Fortschritt war meiner Meinung nach die Erzeugung, Verteilung und Nutzung der Elektrizität." Befürchtungen, künstliche Intelligenzen seien die zukünftige Bedrohung der Menschheit, teilt Smil nicht. "Im Vergleich mit anderen Problemen - von den Risiken eines Atomkriegs bis hin zur Zerstörung der Umwelt - würde ich die Bedrohung durch das Auftauchen künstlicher Intelligenz nicht einmal unter die ersten zehn einordnen. Alle Instrumente, Maschinen und Prozesse der künstlichen Intelligenz benötigen eine fortwährende Stromversorgung. Es wird noch lange dauern, bis solche 'Geschöpfe' es lernen, selbständig die notwendige Elektrizität herzustellen, sie in Netze zu leiten und sich einen unerschöpflichen Vorrat zu sichern. Bis dahin genügt es, sie einfach aus der Steckdose zu ziehen oder die Batterie nicht zu wechseln." Auch die Frage nach Fake News und dem sinkenden Vertrauen in die Wissenschaft kann Smil nicht erschüttern. "Das war doch immer schon so in der Geschichte. Jetzt wird es nur ausführlicher thematisiert, weil in den Massenmedien alles unaufhörlich durchgekaut wird."
Archiv: Ceska pozice

Elet es Irodalom (Ungarn), 06.04.2018

Vor vier Jahren ließ die ungarische Regierung das "Mahnmal an die deutsche Besatzung" auf dem Budapester Freiheitsplatz aufstellen: der räuberische Reichsadler schwebt über dem Erzengel Gabriel, der das unschuldige Ungarn verkörpert (mehr hier). Bis heute wurde das Mahnmal nicht offiziell eingeweiht. Es entfachte jedoch eine breitere gesellschaftliche Debatte über die Erinnerungspolitik und -kultur in Ungarn. Eine zivilgesellschaftliche Initiative stellte in unmittelbarer Nähe das "Lebendige Denkmal" auf: Menschen legen vor dem Mahnmal Gegenstände und Fotos von Opern des Holocaust ab und treffen sich zu Diskussionen. "Ohne moralische Bestätigung gibt es weder Macht noch Herrschaft", erinnert der Hochschullehrer László Majtényi. "Mit dem 'Lebendigen Denkmal' entstand ein freier Raum auf dem Freiheitsplatz. Und dieser Raum umgibt das hässliche, lügende Zeichen der Macht. Der Erzengel Gabriel wurde für die Macht zu einer Leerstelle. Seine Statue wurde in der Nacht aufgestellt, sie wird durch Polizisten, Absperrungen und Kameras beschützt, und es ist beispiellos, dass sich seit vier Jahren kein Staatssekretär oder Minister hierher traut, um im Beisein von Lehrerinnen, Schülern sowie dem Herrn Bischof das Denkmal einzuweihen. Sie haben Angst vor uns. (...) Gabriel mit dem Adler ist die Schande der Macht."
Stichwörter: Ungarn, Erinnerungspolitik

New York Times (USA), 04.04.2018

Die New York Times veröffentlicht die IS-Files, interne Dokumente, die verraten sollen, warum sich der Islamische Staat im Irak so lange an der Macht halten konnte. Rukmini Callimachi gehörte zu einer Reihe von Journalisten, die Papiere aus den zerstörten Ministerien sichern konnten: "Für sich betrachtet dokumentiert jedes Papier eine einzelne Routinesache: den Transfer von Land, den Verkauf einer Tonne Weizen, eine Strafe für unpassende Kleidung. Aber insgesamt offenbaren die gefundenen Dokumente das Regelwerk eines komplexen Regierungssystems. Sie zeigen, dass die Gruppierung, wenn auch nur für einen endlichen Zeitraum, ihren Traum vor sich sah: die Etablierung ihres eigenen Staates, eine Theokratie, die sie sich als Kalifat dachten, gegründet auf ihre strengen Auslegungen des Islams. Die Welt kennt den Islamischen Staat für seine Brutalität, doch seine Soldaten herrschten nicht nur durch das Schwert. Macht übten sie mit zwei sich ergänzenden Instrumenten aus: Brutalität und Bürokratie … Diese Dokumente und Interviews mit Dutzenden Menschen, die unter dieser Herrschaft lebten, zeigen, dass der Islamische Staat seinen Bürgern mitunter den besseren Service bot als der Staat, den er ersetzen wollte. Sie legen auch nahe, dass die Militärs aus den Fehlern der USA bei ihrer Invasion des Irak im Jahr 2003 gelernt haben. Etwa aus der Fehlentscheidung, sich der Mitglieder von Saddams Partei zu entledigen. Das führte zur Ausradierung der Baathisten, höhlte jedoch auch die staatlichen Institutionen des Landes aus und schuf das Machtvakuum, das der IS zu füllen wusste."
Archiv: New York Times