Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.10.2005. In der FAZ konstatiert Ian McEwan: "Wenn Frauen nicht mehr lesen, ist der Roman tot." Die Welt erzählt, wie die Stasi Ex-Nazis erpresste, um missliebige DDR-Bürger auszuspionieren. Die SZ bricht eine Lanze für das "wichtigste Ost-West-Laboratorium der Republik", die Berliner Zeitung. Die FR weiß, dass der Suhrkamp Verlag einen Verlag der Weltreligionen und eine edition unseld plant. Die taz hört Hard-Gore mit Ginger Ale.

FR, 18.10.2005

Ina Hartwig weiß von Suhrkamp-Plänen für einen Verlag der Weltreligionen, in dem die Veröffentlichungen zum Thema zukünftig gebündelt werden sollen. Für neue Leser soll auch die "edition unseld" sorgen, die im Herbst 2007 starten wird. "Diese Reihe scheint sich weniger an ein kundiges Fachpublikum zu richten, als vielmehr mit pädagogischem Eros entwickelt worden zu sein. Die Konzeption der 'edition unseld' sieht eine interdisziplinäre, essayistische und vor allem allgemeinverständliche Aufarbeitung jener Themen vor, die nach Auffassung des Verlags den öffentlichen Diskurs zunehmend bestimmen. Das sind die Erkenntnisse der Naturwissenschaften, von der Kognitionswissenschaft über die Genforschung bis hin zur neuesten Neuronen- und Quantentheorie. Ob der Name "edition unseld" so glücklich ist, zumal Siegfried Unseld ja gerade ein Literaturverleger von Herzen war, steht dahin."

Weiteres: "Hier atmet alles solide Großzügigkeit." Wie zuvor schon einige Kollegen besucht Daland Segler die Verlagsstadt Paju Book City nordwestlich von Seoul und ist begeistert. Daniel Kothenschulte freut sich in Times mager auf Daniel Craig (Fotos) und ein wenig mehr Abgründigkeit beim berühmtesten Geheimagenten der Welt. Ole Frahm intepretiert den neuen Asterix-Band "Gallien in Gefahr" als Parodie auf die Comicwelt von Walt Disney bis Manga.

Auch beim NDR besteht nun der Verdacht auf Schleichwerbung, zumindest bei einigen Tatorten mit Manfred Krug aus dem Jahr 1995, kolportiert Jörn Breiholz auf der Medienseite. Besprochen wird Sandra Leupolds "geglückter Neubeginn" in Heidelberg mit einer Inszenierung von Mozarts "Don Giovanni", in der der "noch recht junge" Heidelberger Generalmusikdirektor Cornelius Meister debütierte ("Sein Don Giovanni hat Format", lobt Hans-Klaus Jungheinrich), Orhan Pamuks Roman "Schnee" und eine Foto-Ausstellung zu Pamuks Frankfurt-Bild im Historischen Museum, ein Band über die für Schwestern lebenslang prägende Stellung in der Familie sowie Siegfried Genthes Reiseberichte aus "Korea" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 18.10.2005

Max Dax trifft den Mann, ohne dessen Lieder die neunziger Jahre "nicht denkbar" gewesen wären: Martin Gore, Mastermind von Depeche Mode. Gerade ist das neue Album "Playing the Angel" rausgekommen: "Gore, der einmal während des Interviews anmerkt, dass ihm das Ginger Ale ausgegangen sei: 'Ich weiß, es ist gefährlich, zu sagen oder auch nur zu denken, dass harte Drogen oder Alkohol dabei behilflich sein können, als Musiker große Musik zu erschaffen. Aber andererseits ist es so, dass ich aus heutiger Sicht sagen kann: Wir haben es - was immer "es" im Einzelnen gewesen ist - überlebt. Und ebenfalls ist richtig: Wir haben Musikgeschichte geschrieben. Manchmal ist es hilfreich, ein wenig Spannung um sich herum zu haben, um zu Höchstform aufzulaufen.'"

Schläfrigkeit schadet der Effizienz, weswegen Arbeitgeber jetzt den strategischen Mittagsschlaf fördern, das strategic oder power napping. Dirk Baecker ist entsetzt: "Nicht nur muss man sich mit ganz neuen Vokabeln beschäftigen, um die negative Selektion der Müdigkeit (fatigue) von der positiven Bearbeitung der Schläfrigkeit (drowsiness) unterscheiden zu können. Sondern man wird auch mit der Zumutung konfrontiert, dass sich der Arbeitgeber plötzlich für die Schlafgewohnheiten seiner Angestellten interessiert."

Weiteres: Von der heute eröffnenden Buchmesse schickt Gerrit Bartels eine erste Kolumne, in der er den Rücktritt des Börsenverein-Vorstehers Dieter Schormann zu verkraften versucht. Dorothea Marcus unterhält sich mit der Choreografin Helena Waldmann, deren mit iranischen Tänzerinnen erarbeitetes Stück "Letters from Tentland" jetzt durch Deutschland tourt.

Auf der Meinungsseite ist Robert Misik nach ausgestandendem "Atomkrieg, Waldsterben, Aids, Super-GAU, Y2K-Bang, Sars" guten Mutes, dass er auch die Vogelgrippe überleben wird: "Die eigentliche Epidemie, die die modernen Gesellschaften gepackt hat, ist die Kultur der Panik." Und Ulrike Hermann gibt auf der Meinungsseite zu bedenken, dass es vielleicht gar kein Skandal sein könnte, dass bitische Investoren die Berliner Zeitung kaufen wollen: "Auch deutsche Verleger wollen Renditen."

Und Tom.

NZZ, 18.10.2005

Sieglinde Geisel berichtet über die Berliner Tagung "Einstein weiterdenken". Besprochen werden eine umfangreiche Retrospektive zu Franc Marc im Münchner Lenbachhaus, Verdis "La forza del destino" im Zürcher Opernhaus, Biljana Srbljanovics Stück "God Save America" im Luzerner Theater und Bücher, darunter Walter Kappachers "fulminanter" Roman "Selina oder das andere Leben" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Außerdem präsentiert die NZZ heute ihre Buchmessenbeilage. Den Aufmacher widmet Martin Meyer dem "Tagebuch eines Lesers" von Alberto Manguel (wir werten die Beilage in den nächsten Tagen aus).
Stichwörter: Lenbachhaus

FAZ, 18.10.2005

Es ist nur ein kurzer Artikel, aber eine hübsche Meditation über das Lesen heute. Im 18. Jahrhundert wurden Romane fast nur von Frauen gelesen, schreibt Ian McEwan (mehr hier), und heute ist es nicht anders, wie er feststellen musste, als er in einem Londoner Park Bücher verschenkte und fast nur Abnehmerinnen fand: "Vertreter der kognitiven Psychologie erklären uns, dass Frauen eine feinere emotionale Wahrnehmung besitzen als Männer. Der Roman - so gesehen, das weibliche Genre schlechthin - entspricht ihrer natürlichen Veranlagung. Aus anderen Zimmern im lebhaften Haus der Sozialwissenschaften ist zu hören, dass das nur eine Frage der Konditionierung sei. Doch die Gründe sind vielleicht weniger interessant als die Fakten selbst. Lesekreise, Lesungen, statistische Angaben des Buchhandels - all das bestätigt: Wenn Frauen nicht mehr lesen, ist der Roman tot."

Weitere Artikel: Mark Siemons besucht das größte Einkaufszentrum der Welt bei Peking und stellt fest: Es herrscht gähnende Leere, die Chinesen stecken ihr Geld viel weniger als erwartet in westliche Konsumgüter und viel mehr in ihre Altersvorsorge. "str" kommentiert die Nachricht, dass ein Hotelbesitzer am Wolfgangsee sein Haus vor Kindern verschließen will. Der niederländische Historiker Frans Willem Lantink resümiert ein Kolloquium über die niederländische Monarchie, das zum 25. Thronjubiläum Beatrix' abgehalten wurde. Malte Herwig stellt neue Initiativen der Studienstiftung zur Eliteförderung vor. Thomas Wagner besucht vier Ausstellungen über das Buchmessen-Gastland Korea in Frankfurt und teilt mit, dass "viele Koreaner das Leben doch noch immer als das Dahintreiben eines einzelnen Blattes auf einem Fluss" betrachten. Katja Gelinsky berichtet über die umstrittene Juristin und evangelikale Christin Harriet Miers, die George Bush in das Amt einer Richterin am Supreme Court hieven will.

Auf der DVD-Seite würdigt Verena Lueken Harold Pinters Verdienste als Drehbuchschreiber und vor allem als Reparateur verkorkster Drehbücher anderer Autoren. Andeas Kilb fordert Subventionen für die Herausgabe deutscher Filmklassiker auf DVD. Besprochen werden neue DVDs von klassischen Musicals, Jacques Tati und David Cronenberg.

Auf der Medienseite geht der Investor und Zeitungsmann David Montgomery aus einem Porträt von Gina Thomas nicht gerade als anheimelnde Figur hervor. Seine Hauptidee fürs Blattmachen bestehe im Sparen, weshalb er letztlich von seinen Chefs nach Anfangserfolgen meist geschasst wurde. Nun suche er neue Betätigungsfelder: "Das Adjektiv, das am häufigsten mit seinem Namen in Zusammenhang gebracht wird ist 'dour', was zugleich hartnäckig und finster heißen kann. Alan Watkins, langjähriger Kolumnist des Independent on Sunday, an dem sich die Mirror-Gruppe unter Montgomerys Führung 1994 beteiligte, sagte einmal, der Begriff 'dour' verbinde sich so unweigerlich mit ihm, wie Speck nicht von Spiegelei zu trennen sei." (Eine Art Snape der Publizistik, so scheint es.) Außerdem berichtet Michaela Wiegel über eine Aktion der französischen Wirtschaftszeitung Les Echos, die am Sonntag ausschließlich von Politikern und Zöglingen der Elitehochschule ENA gemacht wurde. Und Kerstin Holm meldet, dass der neue Besitzer der Moskauer Wochenzeitung Moskowskie nowosti seine Journalisten davor warnte, Putin zu kritisieren - denn der sei frei gewählt und Kritik darum fehl am Platze.

Auf der letzten Seite unternimmt Martin Schlögl einen Streifzug durch weibliche Studentenverbindungen. Jürg Altwegg berichtet, dass die Resolution zur Erhaltung der kulturellen Vielfalt trotz des Widerstands der Amerikaner und zur Freude der Franzosen wohl die Unesco passieren wird. Und Oliver Tolmein stellt den Hamburger CDU-Politiker Roger Kusch vor, der für aktive Sterbehilfe eintrat.

Besprochen werden Konzerte der Donaueschinger Musiktage, neue CDs der Gruppen Polyphonic Spree und Sisters Euclid, Schostakowitschs "Katerina Ismailowa" in Klaus Michael Grübers Zürcher Inszenierung und die ersten Produktionen des Schauspielhauses Bochum unter Elmar Goerden.

Welt, 18.10.2005

Bisher unbekannte Aspekte des angeblichen Antifaschismus der DDR deckt laut Sven Felix Kellerhoff der Forscher Henry Leide in seinem Band "NS-Verbrecher und Staatssicherheit" auf: Die Staatssicherheit erpresste ehemalige Nazis mit ihrer Vergangenheit, damit sie als IMs missliebige DDR-Bürger ausspionierten: "So lieferte der mit seiner SS-Vergangenheit erpresste DDR-Bürger Kurt Harder, ehemals Bürokrat im Reichssicherheitshauptamt Berlin und in Theresienstadt, ab 1957 insgesamt 3.300 Blatt Spitzelberichte. Allerdings nicht über NS-Verstrickungen anderer Personen, sondern über kritische Kindergärtnerinnen, unzufriedene Volkspolizisten und ähnliches. Das ehemalige Mitglied der Lager-Gestapo von Auschwitz, Josef Settnik, musste 1964 eine 'Verpflichtungserklärung' als IM unterschreiben und forschte fortan seine katholische Gemeinde und Mitarbeiter seines Betriebes aus. Die Stasi-Beamten erklärten Settnik, er habe 'viel gutzumachen', was er 'nur durch eine ständige und gute Auftragserfüllung tun' könne. Selbst als Hinweise auftauchten, dass Settnik KZ-Häftlinge eigenhändig gequält hatte, schützte das MfS seinen Spitzel."

Weiteres: Matthias Heine begleitete Wolfgang Niedecken und Bob Dylan, die sämtlich mit Dylan-Songs unterwegs sind. Uwe Wittstock unternimmt einen Streifzug durch die koreanische Literaturlandschaft. Konrad Adam erklärt schon mal, "was die neue Bundesministerin für Bildung und Forschung beherzigen sollte". Johnny Erling würdigt den chinesischen Autor Ba Jin, der im Alter von 101 Jahren gestorben ist. Besprochen wird Anne-Sophie Mutters Einspielung von Mozarts Violinkonzerten auf CD.

Auf der Forumsseite sagt Elmar Krekeler pünktlich zur Buchmesse einen Generationenwechsel in der deutschen Literatur an: "Neue Bücher von Martin Walser und Christa Wolf sind in diesem Herbst erschienen. Sie wurden besprochen. In Diskussionen allerdings kommt es darauf an, die Namen Ingo Schulze, Arno Geiger, Daniel Kehlmann oder Matthias Politycki gehört zu haben."

Und Ralf Dahrendorf meint, dass nicht die ganz Armen zu Terror greifen, sondern diejenigen, die sich in ihrem Aufstieg frustriert sehen: "Wer es nicht schafft, in andere Länder zu gelangen, oder im neuen Land scheitert, steckt in einem bösen Dilemma: Die alte Welt traditioneller Beziehungen und Gebräuche ist verloren, aber die neue Welt bleibt außer Reichweite. Diese Menschen sind verloren in einem Limbo der Unsicherheit und Enttäuschung."

SZ, 18.10.2005

Gustav Seibt bricht eine Lanze für die Berliner Zeitung, deren Redaktion sich auf den eigenen Seiten gegen die Übernahme durch eine britische Finanzgruppe wehrt, und erklärt das Blatt kurzerhand zum "wichtigsten Ost-West-Laboratorium der Republik": "Alles, was die saturierte Reform-Rhetorik seit einem halben Jahrzehnt einklagt, ist hier längst im Gang, schmerzhaft, leidvoll, fruchtbar und begeisternd. Dass jetzt zeitungsferne, der deutschen Sprache und der jüngeren deutschen Geschichte unkundige Investoren mit ihren illusionären Wertsteigerungsideen gerade über dieses Blatt herfallen, hat etwas von tragischem Witz. Denn wer bei der Berliner Zeitung war, hat erlebt, was dem Rest Deutschlands noch bevorsteht und weiß, wie viel dabei immer wieder schief laufen muss. Heute ist die Berliner Zeitung gewinnbringend, als einzige Qualitätszeitung in der Hauptstadt. Ihren Rang wird sie nur behaupten können, wenn man das einzigartige Gemisch der Erfahrungen und Generationen in ihrem Inneren nicht antastet. Denn sie sind Deutschland. Sie werden mehr gebraucht als viele andere in ihrem Beruf."

Weitere Artikel: Aus einem Interview, das Papst Benedikt XVI. am 20. September gegeben hat, schließt Alexander Kissler, dass Joseph Ratzinger vor allem das Werk seines Vorgängers weiterführen will. Helmut Mauro konnte bei der Verleihung der Echo-Klassik-Preise (Gewinner) in der Münchner Philharmonie eher neue Vermarktungsstrategien als interessante Newcomer beobachten. In den Nürnberger Prozessen, die vor 60 Jahren begannen, ist zum ersten und einzigen Mal der "rassenpolitisch-militärisch-industrielle Gesamtkomplex" der nationalsozialistischen Verbrechen verhandelt worden, weiß der Politologe Peter Reichel. In einer Zwischenzeit kreuzt Harald Eggebrecht durch den goldenen Herbst der Altmark und Neuenglands.

Auf der Literaturseite trifft Ijoma Mangold eine Gruppe junger Verleger aus aller Welt, die zwecks Nachwuchspflege zur Frankfurter Buchmesse eingeladen wurden. Der Iraner Arash Hejazi, der Agatha Christie verlegt und Milan Kundera, weil er sich um das Copyright nicht kümmern muss, imponiert ihm besonders. Im Medienteil mischt sich Annette Rammelsberger unter die kampfeslustigen Journalisten des Berliner Verlags, die sie an die renitenten Gallier aus Asterix und Obelix erinnern. Nur online gemeldet wird, dass der chinesische Schriftsteller Ba Jin gestorben ist.

Besprochen werden Elmar Goerdens Auftakt als Bochumer Intendant mit Inszenierungen von Peter Handkes Text "Spiel vom Fragen" (Thomas Thieringer entdeckt hier "viele hübsche Momente") und Johann Wolfgang von Goethes "nicht wirklich geglückter" "Iphigenie auf Tauris", Rogier Kappers' Film "Lomax the Songhunter" über den Musiksammler Alan Lomax, und Bücher, darunter Ute Schneiders Berufsgeschichtes des Lektors "Der unsichtbare Zweite" sowie Marion Poschmanns "düsteres" Werk "Schwarzweißroman" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Die Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse macht mit Ingo Schulze und seinem Roman "Neue Leben" auf. Diese und alle weiteren Besprechungen werden wir wie gewohnt in den nächsten Tagen auswerten.