9punkt - Die Debattenrundschau

Der große Trenner

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.09.2021. Die taz erinnert an die Blockade Leningrads durch die Deutschen vor achtzig Jahren - und die Blockade des Gedächtnisses, die folgte. Im Philomag sagt Per Leo: "Die identitäre Fixierung auf Hitler und den Holocaust löst längst keine Probleme mehr, im Gegenteil, sie schafft neue." Was treibt Nichtjuden oder "Großvaterjuden" wie Max Czollek immer wieder dazu, sich eine jüdische Identität anzudichten, fragt Jacques Schuster in der Welt. Wie wehrt sich die Justiz gegen rechte Juristen, fragt lto.de mit Joachim Wagner. Die SZ motiviert die impfmüden Bürger: "Die Regierung allein kann es nicht richten. Wir sind die Quote."
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.09.2021 finden Sie hier

Europa

In Belarus wurden die Oppositionelle Maria Kolesnikowa zu elf Jahren, ihr Mitstreiter, der Jurist Maxim Snak, zu zehn Jahren Gefähngnis verurteilt. "Den beiden Verurteilten und allen Belarussen ist zu wünschen, dass Lukaschenko sich nicht so lange an der Macht hält", hofft Silke Bigalke in der SZ. "Der Diktator weiß vermutlich selbst, dass die Mehrheit im Land ihn längst nicht mehr stützt - und setzt stattdessen darauf, dass sie ihn fürchtet. Hohe Strafen gegen politische Gegner sollen dazu beitragen. So ist auch zu erklären, warum die Urteilsverkündung öffentlich war, während der Prozess selbst hinter verschlossenen Türen stattfand. Zuschauern wäre die Absurdität des Verfahrens aufgefallen, außerdem sollte der Prozess den Angeklagten keine Bühne bieten."
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Geschichte

Erica Zingher erinnert in einem großen Artikel in der taz an die Blockade von Leningrad durch die Deutschen vor achtzig Jahren. Eine Million Menschen verhungerte unter grausigen Umständen. Ein wichtiger Moment in der Wahrnehmung der Tat war die Rede des damals 95-hährigen Schriftstellers Daniil Granin im Bundestag. Granin hat die Hungersnot in seinem "Blockadebuch" geschildert. "Granins Rede ist das vielleicht wichtigste Zeichen, das in Deutschland für die Erinnerung an Leningrad gesetzt wurde. Denn lange war die Geschichte der Belagerung weit weniger bekannt als die Geschichte anderer Vernichtungsorte. Bis 1990 habe es in der Bundesrepublik keine Form von offizieller Erinnerung an die Leningrader Blockade gegeben, sagt Osteuropahistoriker Hans-Christian Petersen. Geprägt ist die Erinnerung damals durch militärische Erzählungen ehemaliger Wehrmachtssoldaten und individueller Familienerzählungen. Die Belagerung von Leningrad gilt deshalb lange Zeit in Westdeutschland als normale militärische Operation. Sie bleibt ein vager Kriegsschauplatz."
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Politik

"Die Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hat am Montag beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe Strafanzeige gegen mehrere deutsche Textilmarken und Händler gestellt", berichtet Felix Lee in der taz. Es handelt sich um mehrere sehr bekannte Marken, für die die Angelegenheit möglicherweise peinlich wird: "Die Klage richtet sich gegen die Discounter Lidl, Aldi Nord und Aldi Süd, zudem die Kleidungsketten C&A und Hugo Boss. Die Organisation wirft den Firmen vor, 'direkt oder indirekt von Zwangsarbeit von Uiguren' in der chinesischen Region Xinjiang zu profitieren. Damit könnten die Unternehmen in Verbrechen gegen die Menschlichkeit involviert sein, lautet der Vorwurf."

Der amerikanische Justizminister Merrick Garland sucht nach Wegen, um Frauen in Texas zu schützen, die abtreiben wollen, berichtet Joanna Walters im Guardian - in Texas wurde vor einigen Tagen das drakonischste Abtreibungsgesetz aller amerikanischen Staaten erlassen, das Abtreibung fast völlig unmöglich macht und Bürger zur Denunziation von Frauen und Ärzten aufruft (unsere Resümees). "Garland sagte, dass Bundesstaatsanwälte immer noch intensiv Möglichkeiten prüfen, das texanische Gesetz anzufechten, und dass das Justizministerium das Bundesgesetz durchsetzen werde, 'um die verfassungsmäßigen Rechte von Frauen und anderen Personen, einschließlich des Zugangs zu einer Abtreibung, zu schützen'."
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Ideen

"Wir sind in einer Welt angekommen, die im Klammern an die deutsche Geschichte nicht mehr zu begreifen ist", sagt Per Leo im Gespräch mit der Zeitschrift Philomag. Leo, Autor des Buchs "Tränen ohne Trauer - Nach der Erinnerungskultur", stimmt in dem Gespräch den Thesen A. Dirk Moses' weitgehend zu, will religiöse Vokabeln wie "Katechismus" allerdings meiden. Die Singularität des Holocaust gegen Rechts zu verteidigen, war richtig, findet Leo, aber gegen Links sieht er nicht so ein Problem: "1986 mag es nötig gewesen sein, durch die mahnende Erinnerung an den Holocaust dem konservativen Revisionismus einen Riegel vorzuschieben. Aber gerade weil das nachhaltig geglückt ist, sollten wir mittlerweile reif genug sein, uns vor allem an den universalistischen Postulaten des Grundgesetzes zu orientieren. Die identitäre Fixierung auf Hitler und den Holocaust löst längst keine Probleme mehr, im Gegenteil, sie schafft neue." Es ist übrigens interessant, in Leos Buch die Passagen zu Max Czollek nochmal zu lesen, der ihm in seinem Buch neben Fabian Wolff ein jüdischer Gewährsmann für legitime Israelkritik ist: "Jüdische Pluralität ist für ihn, dass es Juden gibt, die Israel hassen."

Was treibt Nichtjuden oder "Großvaterjuden" wie Max Czollek immer wieder dazu, sich eine jüdische Identität anzudichten, fragt Jacques Schuster in der Welt: "Das Judentum ist Czollek und vielen anderen nicht ein Wert als solcher. Weil sie der Durchschlagskraft ihrer eigenen Argumente misstrauen, nutzen sie den Bezug auf die jüdische Identität gleichsam als Energiezufuhr ihrer oft inhaltlich fragwürdigen Auslassungen und als Schutzschild für ihre Thesen - gern gegen Israel und für die Palästinenser. Der Wunsch, jüdisch zu sein, der Holocaust als schaurig-schönes Begehr - es ist nicht totzukriegen."

Bildung für alle, dann klappt es auch mit der Gleichheit im Berufsleben. Sollte man meinen, ist aber nicht so, erklärt Christine Brinck in der NZZ, im Gegenteil. Bildung, das zeigten die letzten vierzig Jahre, in der die Hochschulen in Deutschland immer weiter ausgebaut wurden, ist der "große Trenner". Nur gute Abschlüsse an guten Universitäten sichern später gute Einkommmen. "Da die Klassenschere sich nicht erst an der Universität öffnet, was auch für Europa gilt, folgt für die Ökonomen zwingend die hochqualitative Frühkindbildung. Interventionen für Kinder aus sozioökonomisch schwachen Verhältnissen sind der Ausgleich für die elterliche Investition bei den Bessergestellten in der Mittel- und Oberschicht. Der jährlich mit 13 500 Dollar bezifferte Einsatz pro sozial benachteiligtem Kind wirft einen beeindruckenden Ertrag ab. ... Beim Projekt 'Moving to Opportunity' der Harvard-Ökonomen Chetty, Hendren und Katz konnten Familien mit kleinen Kindern dank Gutscheinen aus Armenvierteln in Mittelklasse-Gegenden ziehen, was sowohl die Studienquote als auch später die Einkommen erhöhte."

Weitere Artikeln: Das Gendern schafft ein falsches Bild von der Realität, meint Daniele Dell'Agli in einem Essay für Telepolis. Unter den "Soldatinnen und Soldaten", die in Afghanistan gefallen sind, dürften sich nur wenige Frauen befinden, denn ihre Quote beim Einsatz betrug nur fünf Prozent, sagt Dell'Agli. Das ist oft so in gefährlichen Jobs: "Dazu schweigen die Gleichstellungsbeauftragten. Und dazu, dass 97 Prozent aller tödlichen Arbeitsunfälle Männer betreffen - ein Umstand, über den sich bezeichnenderweise noch nie jemand öffentlich empört hat." In der SZ fragt der Soziologe Helmut Anheier: "Die meisten von uns wünschen sich gesellschaftlichen Zusammenhalt und eine breite Beteiligung am politischen Prozess; außerdem möchten wir von einer florierenden, vernetzten Wirtschaft profitieren. Doch sind diese drei Wünsche miteinander vereinbar?" Seine Antwort: Ja, es muss nur alles moderat langsam gehen.
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Wissenschaft

In der NZZ stellt Urs Hafner das neue Open-Access-Journal Histories vor. "Histories kommt fast schon Science-mäßig daher: international, englisch und 'open access' (kostenlos abrufbar), mit Peer-Review (Prüfung der Beiträge durch anonyme Gutachter) und Autorgebühren. Wer in Histories publiziert, muss tausend Franken bezahlen. Die Redaktion arbeitet schnell und zuverlässig: Zwei bis drei Monate nach Einreichen des Manuskripts wird dieses publiziert. Bei der Konkurrenz, der altehrwürdigen Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte (gegründet 1873) und dem 1994 lancierten Reformjournal Traverse, dauert dieser Prozess ein bis zwei Jahre. Das ist zu lange." Für einigen Argwohn sorgt allerdings die Tatsache, dass Histories Teil des Unternehmens MDPI (Multidisciplinary Digital Publishing Institute) ist, das wiederum dem Chinesen Shu-Kun Lin gehört.
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Überwachung

Mit dem Argument des Kinderschutzes wollte Apple eine enge Überwachungssoftware auf seinen Handys installieren. Nach Protesten hat der Konzern das Projekt vorerst zurückgezogen. Zu spät?, fragt Peder Iblher bei hpd.de: "Die strikte Privacy-Politik, mit der Apple seinen Markenkern auch gegen Widerstände verteidigt hatte, ist offenbar Geschichte. 'What happens on your iPhone, stays on your iPhone' - dieser Werbespruch ist obsolet und der Vertrauensbruch nicht einfach wiedergutzumachen."
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Gesellschaft

Es häufen sich Fälle von AfD-nahen oder sonstwie rechtsxtremen Richtern oder Staatsanwälten in der deutschen Justiz, schreibt Markus Sehl bei lto.de unter Verweis auf ein Buch des Journalisten Joachim Wagner, "Rechte Richter, AfD-Richter, -Staatsanwälte und -Schöffen: eine Gefahr für den Rechtsstaat?". Die Symptome schildert Sehl so: "Unsicherheiten der Justiz bei der strafrechtlichen Bewertung antisemitischer und fremdenfeindlicher Wahlplakate, beim Umgang mit politisch tendenziösen Ermittlungen eines mit der AfD sympathisierenden Staatsanwalts, an den sich Ex-Kommilitonen als 'Jura-Nazi' erinnern wollten, und eine Richterin, die mit Reichsbürgern und Querdenkern demonstrieren geht. Die Herausforderungen haben unterschiedliche Richtungen: mal betreffen sie die Integrität, Sensibilität und Sorgfalt der eigenen juristischen Handarbeit, mal sind es Bedrohungen von innen durch extremistisches Personal, mal ist es das außergerichtliche Engagement der Justizangehörigen."

Einfach dumm findet Gerhard Matzig in der SZ den Streit um die Internationale Automobil-Ausstellung in München, der von "Mörder"-Aufklebern auf Autos begleitet wird. Es gibt beim Verkehr kein "entweder oder", schreibt er. "Die Zivilisation ist die der immobilen Verortung und die der mobilisierten Zwischenräume in einem. Das Ganze ist ökologisch, ökonomisch, sozial und politisch ineinandergreifend. ... Es ist daher sinnlos, unterschiedliche Verkehrssysteme gegeneinander ausspielen zu wollen. Sie sind zu versöhnen und zu einem umweltfreundlichen, zivilisatorisch wirksamen Mechanismus zu vereinen."

Ab 75 Prozent Impfquote können wir langsam zur Normalität zurückkehren, erinnert Christina Berndt in der SZ, ab 85 Prozent ist Corona vorbei. "Deutschland ist mit seinen 62 Prozent auf einem guten Weg. Es ist nun an der Regierung, den Weg zur 75 zu ebnen, indem sie Menschen überzeugt und leicht zugängliche Angebote macht. Letztlich aber haben es allein die Bürgerinnen und Bürger in der Hand, das Ende von Corona einzuläuten. Die Regierung allein kann es nicht richten. Wir sind die Quote."
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